Auszug aus dem Buch Moral 4.0
„Das Recht steht über allem und über allen“, wird heute von Politikern als selbstverständlich voraus gesetzt. Das scheint zunächst ein ehrenwertes Postulat zu sein, doch führt sich diese Forderung ad absurdum, wenn es um die Rechtsentstehung, insbesondere die Gesetzgebung geht. Die Gesetze können sich nicht aus sich selbst entwickeln (Künstliche Intelligenz wird das vielleicht einmal schaffen, aber das ist ein anderes Thema), sondern wird von Menschen geschaffen. Dieser "Schöpfungsprozess" basiert in der Regel nicht mit rechtswissenschaftlichen Methoden, sondern auf Basis moralischer Werte.
(c) Bild: Aigerim Beken, Moral oder Legal? Gold, Acryl auf Jute, 80x80 cm
Moralische Werte fließen immer in die Gesetzgebung ein. Heutzutage allerdings ohne Offenlegung der jeweiligen Werte (denn meistens geht es nur um Parteiinteressen). So ist der Gesetzgebungsprozess weitgehend intransparent geworden. Es wäre daher angebracht, dass die Abgeordneten, die als Repräsentanten des Volkes im Parlament sitzen, sich wieder über ihre eigenen Grundwerte klar werden und lernen Begriffe wie Ethik und Moral, Meinung und Urteil, Handlung und Tätigkeit zu unterscheiden.
Der Begriff „Anlass-Gesetzgebung“ diffamiert zu Unrecht die Notwendigkeit, bei neu auftretenden Problemen das Richtige zu tun und das richtige Tun auf gesetzliche Basis zu stellen. Der Versuch, von Vornherein jedes mögliche Tun über Gesetze zu regeln, lässt jedoch keinen Handlungsspielraum mehr, und das führt zur Gesetzesflut und zur laufenden Einschränkung der Freiheit. Dieses heute übliche Verfahren der Gesetzgebung darf nicht mit Kants "Gesetzen a priori" verwechselt werden.
Um es im Sinne Kants zu formulieren: Politiker müssen verstehen, dass es nicht oberste Maxime ihres Handelns sein kann, sklavisch den Buchstaben des Gesetzes zu erfüllen (was legitimer Weise für jeden Beamten zu gelten hat), sondern dass es ihre Verantwortung ist zu handeln. Handeln impliziert den Begriff Freiheit, woraus die Notwendigkeit folgt, diesen Begriff zu klären. Und der Mindeststandard eines politischen Bewusstseins sollte die Fähigkeit sein, zwischen Freiheit aus Sicht des Gesetzes und Freiheit aus Sicht der Ethik zu unterscheiden.
Hier ist es notwendig an Immanuel Kants kategorischen Imperativ zu erinnern, denn die Wirkkraft seiner Werke, die für die Aufklärung eine zentrale Rolle gespielt haben, hat in den vergangenen hundert Jahren stark nachgelassen.
In der Vorrede der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ hält er fest: „Gesetze sind entweder Gesetze der Natur oder der Freiheit. Die Wissenschaft von der ersten heißt Physik, die der anderen ist die Ethik; jene wird auch Naturlehre, diese Sittenlehre genannt.“i Die Sittenlehre im Sinne Kants handelt somit von den Gesetzen der Ethik und ist keine empirische Wissenschaft von Sitten, Gewohnheiten und Bräuchen. Explizit schreibt er, dass Moralphilosophie nichts von der Anthropologie „entlehnt“, sondern sie gibt dem Menschen „als vernünftigem Wesen, Gesetze a priori, die freilich noch durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft erfordern.“
„Gesetze a priori“ sind Gesetze der Metaphysik, und die Metaphysik ist die Welt der Vernunft. So wie die Physik die Welt der Natur ist. Mit diesen wenigen, elementaren Voraussetzungen sollte für jeden verständlich sein, wenn Kant schreibt:„Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Oberflächliche Kritiker halten Kant vor, sein kategorischer Imperativ biete keine Lösungen bei den praktischen Problemen des Lebens. Die wenigen Anmerkungen machen klar, dass Kant sich nicht mit Fragen beschäftigt, ob wir uns mit Handschlag begrüßen sollen, welche Kleidervorschriften in welcher Gesellschaft angebracht sind, oder ob Deutschland auf den Sieg der Fußballweltmeisterschaft stolz sein darf. Um das Anliegen Kants, „die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ zu verstehen, ist es nicht notwendig, seinen oft sperrigen Ausführungen zur Präzisierung aller Begriffe, kategorisch, Imperativ, Handeln, Wille, Urteilskraft, Erfahrung, a priori usw. bis ins Detail zu folgen. Nur einen Begriff muss man aus heutiger Sicht klären und neu interpretieren: den der Pflicht.
Gemäß Kant können nur Handlungen, die aus Pflicht erfolgen, niemals solche, die aus Neigung erfolgen, dem kategorischen Imperativ entsprechen. In Hinsicht auf alle Phänomene, die mit dem Gefühl zu tun haben, war die Aufklärung wirklich nicht besonders aufgeklärt. Neigung war gleichbedeutend mit Affekt, und wer im Affekt handelt, das verstehen wir heute noch, von dessen Handlungen wollen wir nicht direkt betroffen sein. Aus Kants Sicht war auch klar, dass nur Vernunft eine „Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“ begründen kann, nicht die gefühlten Wahrheiten der Schulmetaphysik seiner Zeit mit ihren der Vernunft nicht zugänglichen ominösen Fragen und Antworten.
„Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz,“ schreibt Kant wörtlich. Natürlich meint er das metaphysische Gesetz des kategorischen Imperativs, nicht die krebsartig wuchernden Gesetzesapparate unserer Zeit. Doch nicht zuletzt durch das oberste Gebot der Pflichterfüllung zur Zeit der Nazidiktatur sind die Begriffe „Pflicht“ und „Pflichterfüllung“ diskreditiert und können heute nicht mehr verwendet werden. Wir können daher den Begriff der Pflicht, den Kant meinte, durch Verantwortung zu ersetzen. So wird klar, dass Rechte und Pflichten in den Bereich der Legislative gehören und während Gerechtigkeit und Verantwortung in den Bereich der Moralität gehören. Das Diktum von Kant könnte dann so interpretiert werden: Verantwortung ist das Fundament einer Handlung zur Verwirklichung von Gerechtigkeit und Freiheit.
Es bleibt somit die Gleich-Behandlung aller Menschen vor dem Recht oberste Pflicht aller Beamten. Doch die oberste Maxime der Politiker ist nicht die gleiche Behandlung aller Menschen, sondern Entscheiden und Handeln, um neue Probleme zu lösen, nicht um alte Probleme zu verwalten. Wobei die Entscheidung selbst eine intellektuelle Handlung ist, die jeder tatkräftigen Umsetzung vorausgehen muss.
Aus heutiger Sicht ist es nicht notwendig, den kategorischen Imperativ überhaupt auf den Begriff der Pflicht zurück zu führen. Offenbar war Kant selbst überrascht von der Leichtigkeit seiner Formulierung und versuchte sie deshalb nachträglich etwas umständlich in der Pflicht zu verankern. In seinem Denkapparat, den man vergleichen kann mit dem Karteikasten einer alten Bibliothek, wo jeder Begriff der Metaphysik verzeichnet und mit Querverweisen versehen ist, mutet der kategorische Imperativ an wie ein bunter Schmetterling, der unvermutet aus der etwas verstaubten Kartothek raus flattert.
Es stimmt, dass Kant im Grunde die Goldene Regel, die in vielen Kulturen und bis heute in allen Gesellschaftssystemen einen hohen Stellenwert hat, neu formuliert hat. Freilich auf einem bis heute unübertroffenen Abstraktionsniveau. Zur Erinnerung die Goldene Regel in der neutestamentarischen Fassung: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“
Man kann von heutigen Politikern offenbar nicht erwarten, dass sie ein moralisches Grundgerüst für ihr Handeln mitbringen. Man darf heute offenbar nicht darauf hoffen, dass Politiker ihre vorrangige Aufgabe darin sehen, ihre Verantwortung zu erkennen und im Interesse ihres Volkes zu handeln. Das mag banal klingen, impliziert aber zwei Fähigkeiten, die heute nicht mehr selbstverständlich sind: 1. Die Urteilsfähigkeit, konkret die Fähigkeit zwischen Legalitätsprinzip und Moralitätsprinzip unterscheiden zu können. 2. die Handlungsfähigkeit, konkret dann, wenn es nicht um die Aufrechterhaltung des Status quo geht, sondern um den richtigen Umgang mit Veränderungen.
Fakt ist, dass heute die einzige Maxime des politischen Handelns – zumindest soweit ich das in EU-Europa sehe – das Legalitätsprinzip ist. Somit hat das Legalitätsprinzip das Moralitästsprinzip nicht nur überlagert, sondern de facto ausgeschaltet. Der Legalismus ist damit zu einer Art Totalitarismus geworden. Realpolitiker, die im Status quo der bestehenden Demokratien das höchst mögliche Gut erkennen, haben damit die Endzeit ausgerufen – und derartige Ideologien sind noch nie gut ausgegangen! Dessen sind sie sich aber nicht bewusst, denn im Kleinklein des täglichen Hickhack sind sie nur mit der Gegenwartsbewältigung beschäftigt. Damit kommen sie mit jeder Lösung prinzipiell immer zu spät. Denn Lösungen ohne Zukunftsvisionen sind, wenn sie endlich verwirklicht werden, schon wieder von gestern.
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