Rathkolb Oliver: Die paradoxe Republik - ad Kapitel 1

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Kapitel 1

Die österreichische Identität zwischen Nationalstolz, Solipsismus und europäischem Patriotismus.

Wer über die österreichische Identität schreibt, muss damit auch die österreichische Nation thematisieren, wenn er nicht als Psychoanalytiker über die „Die österreichische Seele“ (Erwin Ringel) schreibt. Historiker und Politologen sollten dabei nicht vergessen, dass die Erste Republik zuerst "Deutsch-Österreich" hieß und erst nach Intervention der Siegermächte "Deutsch" aus ihrem Namen gestrichen hat. Damit war aber noch lange kein Bewusstsein einer österreichischen Nation da. Sogar Hans Kelsen, der so genannte Vater der österreichischen Verfassung, war der Überzeugung, dass diese nur für eine Übergangszeit tauge, und die langfrsitige Existenz von Rest-Österreich nur durch den Anschluss an Deutschland möglich sei.

Bis zu Jörg Haiders Diffamierung der österreichischen Nation als „Missgeburt“ (1988) war der Begriff der Nation für die Österreicher durch den Nationalsozialismus belastet, eine „österreichische Nation“ war nach dem 2. Weltkrieg für drei Jahrzehnt aus den Themenspektrum der Tagespolitik gestrichen. Dialektisch betrachtet war die Negation von Haiders Statement die Geburt des Österreich-Nationalbewusstseins, historisch Betrachtet war es der 15. Mai 1955 mit der Unterzeichnung des Staatsvertrags, der uns Unabhängigkeit und Neutralität zusicherte!

Die Nation ist spätestens seit der Einführung des Nationalfeiertags (1956) untrennbar mit der Neutralität verknüpft. Die Neutralität ist Bestandteil unserer Verfassung – nicht nur verfassungsrechtlich betrachtet, sondern auch geistesgeschichtlich. Die Neutralität gehört zur österreichischen Nation so wie der Nationalfeiertag, die Nationalbank, die Nationalbibliothek und sonstige Nationalheiligtümer. „Durch die Neutralität aus 1955 erhielt die österreichische Selbstbezogenheit einen permanenten und besonderen Status“, meint dagegen der Autor der „paradoxen Republik“.

Rathkolb sieht die Nation nicht aus kritischer Distanz, was wissenschaftlich notwendig und legitim ist, sondern benutzt den Begriff pejorativ. Patriotische Österreicher sind aus seiner Sicht tendenziell selbstverliebte, volkstümelnde Solipsisten, deren „permanente Ichbezogenheit“ dem hehren Ideal eines europäischen Patriotismus ferne steht: „Immer wieder finden sich Belege für die mentalgeschichtliche Wirkung der ein- und damit auch ausgrenzenden Tendenzen der organisierten ‚Heimatkultur‘ nach 1945. Die Bedeutung dieser in Filmen völlig verkitschten Reproduktion einer artifiziellen Volkskultur für die Identitätsbildung sollte nicht unterschätzt werden.“ (66)

Konkret: „Seit 1990er Jahren wird wieder ‚Heimat‘-Marketing betrieben, wie es zuvor bereits in der Kanzlerdiktatur des ‚Ständestaates‘ der Fall gewesen war.“ (66) Was Rathkolb in der aktualisierten Fassung 2025 nicht erwähnt hat: Van der Bellen, der dem „rechten Lager“ sicher nicht nahe steht, hat bei seiner Kampagne zur Wahl des Bundespräsidenten die Heimat zu seinem zentralen Wahlkampfthema erhoben. Seine Slogans „Wer unsere Heimat liebt, spaltet sie nicht“ und „Für unser vielgeliebtes Österreichs“ passen zu dem, was Rathkolb den rechten Recken des Landes unterstellt: Nationalbewusstsein ist für ihn kein positives Merkmal der Bürger eines souveränen Staates, sondern tendenziell immer rassistisch. In diesem Sinne ist Rathkolbs Darstellung tendenziös.

„44 Prozent der Österreicher und Österreicherinnen sind nach wie vor in Denkmustern des Rassismus gefangen, ohne dass eine breite Aufklärungs- und Diskussionskampagne begonnen hätte.“ (52) Nach dem Zerfall der Sowjetunion, in einer „Irritationsphase der österreichischen Politik dominierten Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit, ohne dass die politischen Eliten und die Massenmedien den klaren Indizien eines offenen verbalen Rassismus geschlossen und permanent entgegengetreten wären.“ (70)  Gleichzeitig stieg „der österreichische Rekord-Nationalstolz spätestens 1990 im europäischen Vergleich an.“ (27)

„Ab 2000 wurde im Zuge der Migrationsdebatte diese Auseinandersetzung in eine religiöse Auseinandersetzung in Christen gegen Muslime umgedeutet. […] „Trotz der im internationalen Vergleich geringen Terrorattentate in Österreich stieg die Angst, da sie durch die sozialen Medien so intensiv und breit kommuniziert wurde.“ (71) Zwar lobt der Historiker die Hilfsbereitschaft der Österreicher, „doch sollte sie nicht im aktuellen Diskurs als Indiz für die hohe Bereitschaft der Österreicher zur Integration von Fremden herangezogen werden.“ (64) Darauf kann man nur zynisch erwidern: Weh dem, der einen zu positiven Eindruck von den Österreichern vermittelt!

Der Historiker deutet aufgrund seiner eigenen Vorurteile das österreichische Nationalbewusstsein pejorativ um. Einerseits kritisiert er die fehlende Macht der Massenmedien, anderseits beklagt er den negativen Einfluss der sozialen Medien. Ein unabhängiger, aufgeklärter Geist würde beide Phänomene kritisch betrachten. Geradezu skurril unterstellt Rathkolb, dass „Österreicher zur Integration von Fremden“ nicht bereit seien, während er das Phänomen, dass (immer mehr) Fremde zur Integration in Österreich nicht gewillt sind, ausklammert. Wenn es stimmt, dass ab 2000 die Migrationsdebatte zu einem Religionskonflikt „umgedeutet“ wurde, dann sollte man zumindest eine Deutung der realen Konflikte nachreichen, die die Massenmigration ab 2015 nach Europa und damit nach Österreich gebracht hat.

Tags: Zweite Republik, Nachkriegszeit, Geschichtswissenschaft, Geschichte Österreichs, Geschichtschreibung