Oliver Rathkolb
Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2025
Erweiterte Neuasgabe 2025 (Zsolnay, 2005)
1. Mai 2025 - Einleitend verrät der Autor (geboren 1955, von 2008 bis 2024 Professor für Zeitgeschichte an der Universität Wien, Herausgeber der Memoiren von Bruno Kreisky, erhielt 2005 für die erste Auflage der "paradoxen Republik" den Bruno Kreisky Preis) seine Absichten: „Dieses Buch soll zehn wesentliche Entwicklungen und Bausteine der Zweiten Republik darstellen und die Erkenntnisse und Debatten der letzten Jahrzehnte mit einer wissenschaftlichen Analyse verbinden. Es soll einen intensiven, manchmal subjektiven, immer aber klaren Blick in das kollektive Gedächtnis der Österreicherinnen und Österreicher eröffnen, der vor allem zum Nachdenken über Identät und Demokratiebewusstsein anregen soll. Nicht die obligate negative Staatsdichtung wird zum Brennpunkt, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit den Gründungs- und Wiederaufbaumythen der Zweiten Republik, die auch zum Widerspruch und Nachdenken anregen soll.“ (17)
HTH wird hier in mehreren Updates berichten, wie weit Oliver Rathkolb seinen eigenen Ansprüchen gerecht wird.
Einleitende Diagnose: „Seit der ersten Ausgabe dieses Buches sind zwanzig Jahre vergangen, in denen sich die nationalen Trends des Jahres 2005 wesentlich und der internationale ökonomische und geopolitische Rahmen extrem zum Negativen verändert haben.“ (13)
Vielversprechend das Kapitel 1, „Die österreichische Identität zwischen Nationalstolz, Solipsismus und europäischem Patriotismus.“ Dazu passend ein Link zum Essay „Die Geburt der österreichischen Nation aus dem Geist der Neutralität, 2023), sowie ein Zitat von Robert Musil, das rund 100 Jahre alt ist: „So sieht also Weltgeschichte in der Nähe aus [Anm. aus Sicht von Zeitzeugen]; man sieht nichts. Freilich wird man einwenden, man sei zu nah. Das ist aber ein Gleichnis. Hergenommen vom Gesichtssinn; man kann zu nah an einem Ding sein, um es überblicken zu können. Kann man aber zu nah an einer Erkenntnis sein um sie fassen zu können? Das Gleichnis stimmt nicht. Wir wüßten genug, um uns ein Urteil über Gegenwärtiges und Jüngstvergangenes zu bilden, wir wissen jedenfalls mehr, als spätere Zeiten wissen werden. Eine andere Wurzel des Gleichnisses heißt, noch zu beteiligt sein. Aber wir waren ja gar nicht beteiligt? Die berühmte historische Distanz besteht darin, dass von hundert Tatsachen fünfundneunzig verlorengegangen sind, weshalb sich die verbliebenen ordnen lassen, wie man will.“ („Das hilflose Europa, oder: Reise vom Hundertsten ins Tausendste“, Gesammelte Werke, 1076)
Kapitel 1
Die österreichische Identität zwischen Nationalstolz, Solipsismus und europäischem Patriotismus.
Wer über die österreichische Identität schreibt, muss damit auch die österreichische Nation thematisieren, wenn er nicht als Psychoanalytiker über die „Die österreichische Seele“ (Erwin Ringel) schreibt. Historiker und Politologen sollten dabei nicht vergessen, dass die Erste Republik zuerst "Deutsch-Österreich" hieß und erst nach Intervention der Siegermächte "Deutsch" aus ihrem Namen gestrichen hat. Damit war aber noch lange kein Bewusstsein einer österreichischen Nation da. Sogar Hans Kelsen, der so genannte Vater der österreichischen Verfassung, war der Überzeugung, dass diese nur für eine Übergangszeit tauge, und die langfrsitige Existenz von Rest-Österreich nur durch den Anschluss an Deutschland möglich sei.
Bis zu Jörg Haiders Diffamierung der österreichischen Nation als „Missgeburt“ (1988) war der Begriff der Nation für die Österreicher durch den Nationalsozialismus belastet, eine „österreichische Nation“ war nach dem 2. Weltkrieg für drei Jahrzehnt aus den Themenspektrum der Tagespolitik gestrichen. Dialektisch betrachtet war die Negation von Haiders Statement die Geburt des Österreich-Nationalbewusstseins, historisch Betrachtet war es der 15. Mai 1955 mit der Unterzeichnung des Staatsvertrags, der uns Unabhängigkeit und Neutralität zusicherte!
Die Nation ist spätestens seit der Einführung des Nationalfeiertags (1956) untrennbar mit der Neutralität verknüpft. Die Neutralität ist Bestandteil unserer Verfassung – nicht nur verfassungsrechtlich betrachtet, sondern auch geistesgeschichtlich. Die Neutralität gehört zur österreichischen Nation so wie der Nationalfeiertag, die Nationalbank, die Nationalbibliothek und sonstige Nationalheiligtümer. „Durch die Neutralität aus 1955 erhielt die österreichische Selbstbezogenheit einen permanenten und besonderen Status“, meint dagegen der Autor der „paradoxen Republik“.
Rathkolb sieht die Nation nicht aus kritischer Distanz, was wissenschaftlich notwendig und legitim ist, sondern benutzt den Begriff pejorativ. Patriotische Österreicher sind aus seiner Sicht tendenziell selbstverliebte, volkstümelnde Solipsisten, deren „permanente Ichbezogenheit“ dem hehren Ideal eines europäischen Patriotismus ferne steht: „Immer wieder finden sich Belege für die mentalgeschichtliche Wirkung der ein- und damit auch ausgrenzenden Tendenzen der organisierten ‚Heimatkultur‘ nach 1945. Die Bedeutung dieser in Filmen völlig verkitschten Reproduktion einer artifiziellen Volkskultur für die Identitätsbildung sollte nicht unterschätzt werden.“ (66)
Konkret: „Seit 1990er Jahren wird wieder ‚Heimat‘-Marketing betrieben, wie es zuvor bereits in der Kanzlerdiktatur des ‚Ständestaates‘ der Fall gewesen war.“ (66) Was Rathkolb in der aktualisierten Fassung 2025 nicht erwähnt hat: Van der Bellen, der dem „rechten Lager“ sicher nicht nahe steht, hat bei seiner Kampagne zur Wahl des Bundespräsidenten die Heimat zu seinem zentralen Wahlkampfthema erhoben. Seine Slogans „Wer unsere Heimat liebt, spaltet sie nicht“ und „Für unser vielgeliebtes Österreichs“ passen zu dem, was Rathkolb den rechten Recken des Landes unterstellt: Nationalbewusstsein ist für ihn kein positives Merkmal der Bürger eines souveränen Staates, sondern tendenziell immer rassistisch. In diesem Sinne ist Rathkolbs Darstellung tendenziös.
„44 Prozent der Österreicher und Österreicherinnen sind nach wie vor in Denkmustern des Rassismus gefangen, ohne dass eine breite Aufklärungs- und Diskussionskampagne begonnen hätte.“ (52) Nach dem Zerfall der Sowjetunion, in einer „Irritationsphase der österreichischen Politik dominierten Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit, ohne dass die politischen Eliten und die Massenmedien den klaren Indizien eines offenen verbalen Rassismus geschlossen und permanent entgegengetreten wären.“ (70) Gleichzeitig stieg „der österreichische Rekord-Nationalstolz spätestens 1990 im europäischen Vergleich an.“ (27)
„Ab 2000 wurde im Zuge der Migrationsdebatte diese Auseinandersetzung in eine religiöse Auseinandersetzung in Christen gegen Muslime umgedeutet. […] „Trotz der im internationalen Vergleich geringen Terrorattentate in Österreich stieg die Angst, da sie durch die sozialen Medien so intensiv und breit kommuniziert wurde.“ (71) Zwar lobt der Historiker die Hilfsbereitschaft der Österreicher, „doch sollte sie nicht im aktuellen Diskurs als Indiz für die hohe Bereitschaft der Österreicher zur Integration von Fremden herangezogen werden.“ (64) Darauf kann man nur zynisch erwidern: Weh dem, der einen zu positiven Eindruck von den Österreichern vermittelt!
Der Historiker deutet aufgrund seiner eigenen Vorurteile das österreichische Nationalbewusstsein pejorativ um. Einerseits kritisiert er die fehlende Macht der Massenmedien, anderseits beklagt er den negativen Einfluss der sozialen Medien. Ein unabhängiger, aufgeklärter Geist würde beide Phänomene kritisch betrachten. Geradezu skurril unterstellt Rathkolb, dass „Österreicher zur Integration von Fremden“ nicht bereit seien, während er das Phänomen, dass (immer mehr) Fremde zur Integration in Österreich nicht gewillt sind, ausklammert. Wenn es stimmt, dass ab 2000 die Migrationsdebatte zu einem Religionskonflikt „umgedeutet“ wurde, dann sollte man zumindest eine Deutung der realen Konflikte nachreichen, die die Massenmigration ab 2015 nach Europa und damit nach Österreich gebracht hat.