Ernst Piper bezeichnet sein Buch, das 2013 erschienen ist, im Untertitel als "Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs". Das Buch setzt somit dort an, wo Egon Friedell seine "Kulturgeschichte der Neuzeit" beendet hat, kann aber nicht als Fortsetzung von Friedells epochalem Werk gelesen werden. Die methodischen Ansätze der beiden Autoren weichen nämlich stark voneinander ab.
Der Dichter Friedell kann als Begründer einer neuen Geschichtsphilosophie betrachtet werden: "Alle Dinge haben ihre Philosophie: Der erste dieser Grundpfeiler besteht in unserer Auffassung vom Wesen der Geschichtschreibung. Wir gehen von der Überzeugung aus, daß sie sowohl einen künstlerischen wie einen moralischen Charakter hat; und daraus folgt, daß sie keinen wissenschaftlichen Charakter hat.“ Der Historiker Piper setzt dagegen auf das traditionelle geschichtswissenschaftliche Konzept. Bezugnehmend auf Michael Foucault, der meint Geschichtsschreibung sei immer ein Studium verschiedener Formen von Erinnerung, erwidert Piper: "Die Erinnerung tritt nicht an die Stelle des Geschehens, auch wenn beide sich oftmals in Konkurrenz zueinander befinden. Der Historiker ist Wissenschaftler und nicht Zeitzeuge. [...] in dem vorliegenden Buch wird die Zeit von 1914 bis 1918 aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive betrachtet, es geht [...] um die Akteure und ihre unmittelbare Perzeption des historischen Geschehens, die noch nicht durch das Wissen um das Ergebnis des Krieges und spätere Sinndeutungen überformt ist."
Es ist unmöglich, in dieser Besprechung dem Werk gerecht zu werden, das aus tausenden Mosaiksteinen ein Bild der Kultur und Kulturschaffenden des Ersten Weltkriegs zeichnet. Aber es ist möglich, jene Mosaiksteine zu isolieren, die essenziell sind - nicht nur für den ersten Weltkrieg, sondern für alle Kriege. Vielleicht können diese Mosaikstücke auch zur Klärung der Frage beitragen, ob wir uns bereits jetzt, 2022, im Dritten Weltkrieg befinden. (Anmerkung: am 9. Juli 2022 zitiert KURIER den österreichischen Gesundheits- und Sozialminister Johannes Rauch mit den Worten: "Es ist nicht möglich, den permanenten Kriegszustand aufrechtzuerhalten." Soviel zum Thema "Corona-Aussichten für den Herbst".)
Käthe Kollwitz: Trauernde Eltern, 1914–1932, Mahnmal für den Sohn Peter, Aufstellung auf dem Soldatenfriedhof in Vladslo, Flandern
Eine offene Kriegserklärung gehört der Vergangenheit an, doch folgende Phänomene eines Krieges haben das 20. Jahrhundert überdauert.
Zensur, Unterdrückung und gezielte Steuerung von Informationen (Agenda Setting): "Die Schlacht von Cer endete am 24. August mit einem Sieg der Serben, während die weit überlegene k.u.k. Armee 18000 Tote und Verwundete und 4500 Gefangene zu verzeichnen hatte. Da deutsche und österreichische Zeitungen darüber nicht berichteten, blieb dieser desaströse Kriegsbeginn der Bevölkerung unbekannt." (18)
"Gleich nach Kriegsbeginn hatte die einschlägige Buchproduktion gewaltige Ausmaße angenommen. Bis Dezember 1914 erschienen 1416 Bücher, die der Kriegsliteratur zuzurechnen sind, zwei Monate später hatte sich die Zahl bereits verdoppelt, und Ende 1915 ware es siebentausend Bände,..." (128) Dazu kommen Millionen von Kriegsgedichten. "Diese Springflut affirmativer Textproduktion zu einem politischen Ereignis ist in der deutschen Literaturgeschichte singulär." (131) Nicht zuletzt wurde Thomas Mann "zum bedeutendsten literarischen Apologeten des gerade beginnenden Krieges." (145)
Die deutschen Inellektuellen sind keine Ausnahme, sondern die Regel. Beispiel Großbrittannien: "Im Wellington House wurde das War Propaganda Boureau gegründet, das sich rasch zu einer sehr effektiven Behörde entwickelte, [...] In einem modernen, totalen Krieg [...] bedurfte es einer genau inszenierten und gelenkten Perzeption des Kriegsgeschehens." (195)
"Zensur und Propaganda sind die beiden Grundpfeiler der psychologischen Kriegsführung. Mit ihrer Hilfe versuchten die Kriegsführenden, das Bild des Geschehens so weit wie möglich der erwünschten Wahrnehmung anzunähern." (211)
Täter-Opfer-Rolle: der Aggressor ist immer der Feind. Diffamierung des Feindes, Mystifizierung der eigenen Nation (Kulturvolk vs Barbaren): "Kaiser Wilhelm II. [...] betonte, der nun ausgebrochene Krieg sei ein Verteidigungskrieg, 'das Ergebnis eines seit langen Jahren tätigen Übelwollens gegen Macht und Gedeihen des Deutschen Reichs. Uns treibt nicht Eroberungssucht, uns beseelt der unbeugsame Wille, den Platz zu bewahren, auf den Gott uns gestellt hat, für uns und alle kommenden Geschlechter. Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche.'" (48) Reichskanzler Hollweg: "Meine Herren, wir sind jetzt in der Notwehr; und Not kennt kein Gebot!" (48)
Der Opfermythos ist offenbar dazu geeignet, die Jungend zu motivieren, sich selbst zu opfern um das Vaterland zu retten. So meldet sich der 17-Jährige Sohn der Frauenrechtlerin Lily Braun 1914 freiwillig an die Front, wird schwer verwundet, kehrt an die Front zurück und wird im April 1918 durch eine Granate getötet. Ähnlich die beiden Söhne der Künstlerin Käthe Kollwitz, Hans und Peter, die mit kaum 20 ihren "Beitrag zum deutschen Sieg" leisten wollten. Peter kommt bereits am 22. Oktober 1914 ums Leben, Hans überlebt. Sein Sohn, der Enkel von Käthe, ist im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront gefallen. Viele der gefallenen Burschen waren Mitglieder der Wandervögel, die nicht heldenmutig ihre Männlichkeit erproben wollen, oder den Krieg wie Ernst Jünger heroisierten, sondern sich schwärmerisch die Mission der Obrigkeit zu eigen machen.
Gleichschaltung der Opposition: "Nach der Rede Bethmann Hollwegs genehmigte der Reichstag ohne Gegenstimme Kriegskredite in Höhe von fünf Milliarden Mark." (50) "Dem System keinen Mann und keinen Pfennig", die berühmte Parole von Karl Liebknecht, die seit dem SPD-Parteitag 1892 die Arbeiterbewegung getragen hat und noch bei landesweiten Versammlungen am 28 Juli 1914 mehr als 750000 Mitglieder mobilisierte, war für die SPD-Reichstagsfraktion am 3. August nur noch Schall und Rauch. "Eine deutliche Mehrheit [der SPD-Fraktion] von 78 gegen 14 Abgeordnete sprach sich für die Zustimmung aus. Anschließend wurde bei 24 Gegenstimmen außerdem der Fraktionszwang beschlossen. So kam es, dass am Tag darauf dem Parteivorsitzenden Hugo Haase, der als Pazifist zu der überstimmten Minderheit gehört hatte, die Aufgabe zufiel, die Erklärung der Fraktion vorzutragen." (53) Die Gleichschaltung der Opposition ist auch dem französischen Regime gelungen: "Selbst Pazifisten wie Romain Rolland stellten die Notwendigkeit, sich gegen die deutsche Aggression zur Wehr zu setzen, nicht in Frage." (75)
Wahrheit ist das, was sich immer schon bewährt hat. Patriotismus (Solidarität) steht über allem: So bewahrheitet sich im Krieg die "Sicht der Eliten des Obrigkeitsstaates als Rückkehr zu den bewährten Verhältnissen von ehedem [...] zumal der Reichstag am 4. August nicht nur einstimmig die Kriegskredite bewilligt hatte, sondern zugleich auch ein Kriegsermächtigungsgesetz, das es der Regierung ermöglichte, während des Krieges wirtschaftliche Notverordnungen ohne Mitwirkung des Parlaments zu erlassen. Solange Krieg herrschte, war der Vorrang alles Militärischen unantastbar, Widerspruch galt als unpatriotisch." (61)
Inflation und Geldproduktion ohne Limit: "Beginnend im September 1914 wurden im halbbjährlichen Rhythmus Kriegsanleihen aufgelegt, die insgesamt gut 100 Milliarden Mark einbrachten, ein gewaltiger Betrag, der zur Finanzierung des Krieges - nicht anders als in den anderen kriegsführenden Staaten - einen entscheidenden Beitrag leistete. Das Durchschnittseinkommen eines abhängigen Beschäftigten bewegte sich damals in einem Bereich von 1000 bis 3000 Mark pro Jahr." (206)
Heroismus und Existenzialismus: "Der moderne Krieg ist ein aufs Äußerste verdichteter Erfahrungsraum, der bis zum Bersten mit Jetztzeit gefüllt ist. Das entfesselte Destruktionspotential der Moderne hat eine überwältigende Präsenz, die keinen Raum für die Frage nach seinem Sinn lässt. In den Worten von Helmut Lethen: 'Es ist eine Raserei auf tödlichem Spielfeld. Und die Akteure wissen nicht wozu.' Für Ernst Jünger war der Erste Weltkrieg vor allem existentielle Selbsterfahrung, durch den Krieg wuchs er in sein Leben hinein. Im Krieg kamen die Tugenden der industriellen Zivilisation zur Geltung: Unerschütterlichkeit, Präzision, Standhalten, Schmerzresistenz. Der Soldat war gleichzeitig viriler held und bloßes 'Menschenmaterial', ein Begriff, den Theodor Fontane zuerst benutzt hatte und der jetzt Karriere machte." (475)
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Doktor Faustus
Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von seinem Freunde Dr. phil. Serenus Zeitblom
von Thomas Mann
Der Philologe und klassische Humanist in der Tradition von Schiller, Goethe und Lessing, zur Zeit des ersten Weltkriegs Professor an einem Gymnasium in der Bischofsstadt Freising, ist zwar eine fiktive Figur, sein Denken spiegelt aber exakt den Zeitgeist (nicht nur der Intellektuellen) zur Zeit des Ersten Weltkriegs wider, wie ihn Ernst Piper in seinem Buch "Nacht über Europa" aus hunderten Puzzle-Stücken rekonstruiert hat. Hier einige Schlüsselstellen aus dem Kapitel XXX von Serenus Zeitblom, dem Alter Ego von Thomas Mann.
"Der Krieg war ausgebrochen. Das Verhängnis, das so lange über Europa gebrütet hatte, war los und raste, verkleidet als diszipliniertes 'Klappen' alles Vorgesehenen und Eingeübten, durch unsere Städte, tobte als Schrecken, Emporgerissensein, Pathos der Not, Schicksalsergriffenheit, Kraftgefühl und Opferbereitschaft in den Köpfen und Herzen der Menschen. [...] In unserem Deutschland, das ist gar nicht zu leugnen, wirkte er ganz vorwiegend als Erhebung, historisches Hochgefühl, Aufbruchsfreude, Abwerfen des Alltags, Befreiung aus einer Welt-Stagnation, mit der es so nicht weiter hatte gehen können, als Zukunftsbegeisterung, Appell an Pflicht und Mannheit, kurz, als heroische Festivität. Meine Freisinger Primaner hatten rote Köpfe und strahlende Augen von alldem. ugendliche Einsatz- und Abenteuerlust vereinigte sich da humoristisch mit den den Vorteilen eines rasch lossprechenden Not-Abiturs. Sie stürmten die Werbe-Bureaus, und ich war froh, nicht den Ofenhocker vor ihnen spielen zu müssen. Überhaupt will ich nicht leugnen, daß ich vollauf teilhatte an den volkstümlichen Hochgefühlen..." (436)
"Hier tritt das Moment der Opfer-, der Todesbereitschaft ein, das über vieles hinweghilft und sozusagen ein letztes Wort ist, gegen welches sich nichts mehr sagen läßt. Wird der Krieg mit mehr oder weniger Klarheit, als eine allgemeine Heimsuchung empfunden, in welcher der Einzelne, so auch das einzelne Volk, seinen Mann zhu stehen und mit seinem Blute Sühne zu leisten bereit ist für die Schwächen und Sünden der Epoche, in die die eigenen eingeschlossen sind; stellt er sich dem Gefühl als ein Opfergang dar, durch den der alte Adam abgestreift und in Einigkeit ein neues, höheres leben errungen werden soll, so ist die alltägliche Moral überboten und verstummt vor dem Außerordentlichen." (437)
"Die Kultur war frei gewesen, sie hatte auf ansehnlicher Höhe gestanden, und war sie von langer Hand an ihre völlige Bezugslosigkeit zur Staatsmacht gewöht, so mochten ihre jugendlichen Träger gerade in einem Volkskrieg, wie er nun ausbrach, das Mittel sehen zum Durchbruch in eine Lebensform, in der Staat und Kultur Eines sein würden. [...] Eine Großmacht waren wir nun allzu lange schon; der Zustand war gewohnt und beglückte nicht nach Erwartung. Das Gefühl daß er uns nicht gewinnender gemacht, daß er unser Verhältnis zur Welt eher verschlechtert als verbessert hatte, saß, eingestanden oder nicht, tief in den Gemütern. Fällig erschien ein neuer Durchbruch: derjenige zur dominierenden Weltmacht." (438)
"Angriff und Verteidigung waren dasselbe in unsrem Fall: sie bildeten zusammen das Pathos der Heimsuchung, der Berufung, der großen Stunde, der heiligen Not. Mochten die Völkerschaften dort draußen uns für Re hts- und Friedensstörer, für unerträgliche Lebensfeinde halten, - wir hatten die Mittel, die Welt auf den Kopf zu schlagen, bis sie anderer Meinung über uns wurde und uns nicht nur bewunderte, sondern auch liebte." (439)
"Es hat unsereiner ja seine Zweifel, ob jedermanns Gedanken die richtigen sind. Und doch ist es für das höhere Individuum auch wieder ein großer Genuß, einmal - und wo hätte dies Einmal zu finden sein sollen, wenn nicht hier und jetzt - mit Haut und Haar im Allgemeinen unterzugehen." (440)