Piper Ernst: Nacht über Europa - Thomas Mann - Dr Faustus

Beitragsseiten

Doktor Faustus

Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von seinem Freunde Dr. phil. Serenus Zeitblom

von Thomas Mann

Der Philologe und klassische Humanist in der Tradition von Schiller, Goethe und Lessing, zur Zeit des ersten Weltkriegs Professor an einem Gymnasium in der Bischofsstadt Freising, ist zwar eine fiktive Figur, sein Denken spiegelt aber exakt den Zeitgeist (nicht nur der Intellektuellen) zur Zeit des Ersten Weltkriegs wider, wie ihn Ernst Piper in seinem Buch "Nacht über Europa" aus hunderten Puzzle-Stücken rekonstruiert hat. Hier einige Schlüsselstellen aus dem Kapitel XXX von Serenus Zeitblom, dem Alter Ego von Thomas Mann.

"Der Krieg war ausgebrochen. Das Verhängnis, das so lange über Europa gebrütet hatte, war los und raste, verkleidet als diszipliniertes 'Klappen' alles Vorgesehenen und Eingeübten, durch unsere Städte, tobte als Schrecken, Emporgerissensein, Pathos der Not, Schicksalsergriffenheit, Kraftgefühl und Opferbereitschaft in den Köpfen und Herzen der Menschen. [...] In unserem Deutschland, das ist gar nicht zu leugnen, wirkte er ganz vorwiegend als Erhebung, historisches Hochgefühl, Aufbruchsfreude, Abwerfen des Alltags, Befreiung aus einer Welt-Stagnation, mit der es so nicht weiter hatte gehen können, als Zukunftsbegeisterung, Appell an Pflicht und Mannheit, kurz, als heroische Festivität. Meine Freisinger Primaner hatten rote Köpfe und strahlende Augen von alldem. ugendliche Einsatz- und Abenteuerlust vereinigte sich da humoristisch mit den den Vorteilen eines rasch lossprechenden Not-Abiturs. Sie stürmten die Werbe-Bureaus, und ich war froh, nicht den Ofenhocker vor ihnen spielen zu müssen. Überhaupt will ich nicht leugnen, daß ich vollauf teilhatte an den volkstümlichen Hochgefühlen..." (436)

"Hier tritt das Moment der Opfer-, der Todesbereitschaft ein, das über vieles hinweghilft und sozusagen ein letztes Wort ist, gegen welches sich nichts mehr sagen läßt. Wird der Krieg mit mehr oder weniger Klarheit, als eine allgemeine Heimsuchung empfunden, in welcher der Einzelne, so auch das einzelne Volk, seinen Mann zhu stehen und mit seinem Blute Sühne zu leisten bereit ist für die Schwächen und Sünden der Epoche, in die die eigenen eingeschlossen sind; stellt er sich dem Gefühl als ein Opfergang dar, durch den der alte Adam abgestreift und in Einigkeit ein neues, höheres leben errungen werden soll, so ist die alltägliche Moral überboten und verstummt vor dem Außerordentlichen." (437)

"Die Kultur war frei gewesen, sie hatte auf ansehnlicher Höhe gestanden, und war sie von langer Hand an ihre völlige Bezugslosigkeit zur Staatsmacht gewöht, so mochten ihre jugendlichen Träger gerade in einem Volkskrieg, wie er nun ausbrach, das Mittel sehen zum Durchbruch in eine Lebensform, in der Staat und Kultur Eines sein würden. [...] Eine Großmacht waren wir nun allzu lange schon; der Zustand war gewohnt und beglückte nicht nach Erwartung. Das Gefühl daß er uns nicht gewinnender gemacht, daß er unser Verhältnis zur Welt eher verschlechtert als verbessert hatte, saß, eingestanden oder nicht, tief in den Gemütern. Fällig erschien ein neuer Durchbruch: derjenige zur dominierenden Weltmacht." (438)

"Angriff und Verteidigung waren dasselbe in unsrem Fall: sie bildeten zusammen das Pathos der Heimsuchung, der Berufung, der großen Stunde, der heiligen Not. Mochten die Völkerschaften dort draußen uns für Re hts- und Friedensstörer, für unerträgliche Lebensfeinde halten, - wir hatten die Mittel, die Welt auf den Kopf zu schlagen, bis sie anderer Meinung über uns wurde und uns nicht nur bewunderte, sondern auch liebte." (439)

"Es hat unsereiner ja seine Zweifel, ob jedermanns Gedanken die richtigen sind. Und doch ist es für das höhere Individuum auch wieder ein großer Genuß, einmal - und wo hätte dies Einmal zu finden sein sollen, wenn nicht hier und jetzt - mit Haut und Haar im Allgemeinen unterzugehen." (440)