Frey/Zimmer: Mehr Demokratie wagen - Kommentar HTH

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Beurteilung aus ethischer Sicht

Das vorliegende Buch sollte Pflichtlektüre für alle sein, die in diesem Jahr wählen und/oder sich zur Wahl stellen werden, denn: Demokratie-Diskurse werden heute nicht geführt; mehr noch (Vorsicht: Verschwörungstheorie!) solche Diskurse werden gezielt unterdrückt! In Österreich bekommen alle im Nationalrat vertretenen Parteien neben dreistelligen Millionenbeträgen für die Parteien noch extra über zehn Millionen Euro für sogenannte Parteiakademien. Diese sollten nicht nur der Kaderschmiede, sondern auch dem Demokratiediskurs dienen. Entsprechende Angebote von ethos.at wurden von den Partei-Akademien zurückgewiesen. Von allen! (Das ist natürlich keine gemeinsame Verschwörung aller Parteien gegen ethos.at, sondern liegt einfach am systemimmanenten Desinteresse der Altparteien an einer Reform der bestehenden Demokratie, die sie ja exakt auf ihre Interessen zugerichtet haben.)

Zurück zum Buch „Mehr Demokratie wagen“. Einleitend nehmen die Autoren vorweg, dass „die herkömmliche Gleichsetzung von Repräsentation und Demokratie – konzeptuell wie historisch – unhaltbar ist.“ (12) Diese Kampfansage könnte man so verstehen, dass die repräsentativen Demokratien ihr Ablaufdatum erreicht oder schon längst überschritten haben. Doch im Schlusswort wird diese Interpretation abgeschwächt: „Wir plädieren für den Ausbau der repräsentativen Demokratie in Richtung einer partizipatorischen, und zwar vor allem durch die Instrumente Dezentralisierung und Referendum. Pointiert formuliert: Während aus unserer Sicht Epistokraten die Demokratie einhegen wollen, befürworten wir eine stärkere Kontrolle von Parlament und Regierung durch die Bürgerinnen und Bürger“ (137).

Dies ist zu wenig! Die repräsentative Demokratie kann nicht ausgebaut, sie muss umgebaut werden. Das sieht aus Schweizer Sicht vielleicht anders aus. Doch die Demokratie in Österreich – seit 1994 „eingehegt“ in die EU und somit dominiert von einem undemokratischen Überbau – ist eine Ruine. Im Sinne des Verfassungsexperten Hans Klecatsky schon in den 1970er Jahren sagte: "Die österreichische Verfassung ist eine Ruine."

Die Schweizer haben nach langjährigen, zähen Verhandlungen 1999 eine neue Verfassung angenommen – nach einer Volksabstimmung naturgemäß. Österreichs herrschende Altparteien sind so eingenommen von IHRER Verfassung, dass eine Gesamtänderung unserer Verfassung als Tabu gilt. Wenn Offenheit neben der Gewaltenteilung zu den Grundprinzipien jeder Demokratie zählt, dann kann man die Regierung Österreichs nicht mehr als Demokratie bezeichnen, sondern nur noch als geschlossene Anstalt.

Die Feststellung „Demokratien sind in der Praxis keineswegs unbegrenzt offen“ (59) widerspricht scheinbar Poppers „offener Gesellschaft“. Scheinbar, denn der Befund der Autoren Frey/Zimmer betrifft die Praxis, während Karl Popper eine Idee formuliert. Die Idee der „offenen Gesellschaft“ sieht der Philosoph freilich in den Demokratien des Westens verwirklicht, während er die „Feinde der offenen Gesellschaft“ in den totalitären Diktaturen der Sowjetunion und des Dritten Reiches verortet. Popper hat sein Buch während des Zweiten Weltkriegs aus sicherer Distanz in Neuseeland geschrieben, und die Fronten zu Beginn des Kalten Krieges waren klar: Hier „der Westen“ mit Demokratie und Kapitalimus (= offene Gesellschaft), dort „der Osten“ mit Diktatur und Kommunismus (=geschlossene Gesellschaft).

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere nach 1989, haben sich die Fronten jedoch verschoben. Mitten in Europa des 21. Jahrhunderts erleben wir heute offene Diktaturen und geschlossene Demokratien. Die offenen Diktaturen (z.B. das autoritäre Regime Russlands) halten sich zum Schein an die weltweiten Mindeststandards der Demokratien (allgemeines Wahlrecht!), zeigen aber offen, dass eine politische Elite über die Menschen und ihr Land entscheidet. Die geschlossenen Demokratien (z.B. das inkompetente Regime Österreichs) bekennen sich mit öffentlichem Eifer zu freien Wahlen, um gleichzeitig (weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit) alles zu tun, die Zugänge zu den Organen des Staates für Nichtmitglieder der Altparteien hermetisch abzuschließen (z.B. antidemokratische Zugangsregelungen zu den Wahlen: Altparteien brauchen nur die Zustimmung von drei Mandataren, neue Parteien müssen zuvor umständlich mit amtlicher Bestätigung tausende Unterstützungserklärungen sammeln).

Es ist unmöglich, diese österreichische Demokratie durch „Ausbau der repräsentativen Demokratie“ zu verbessern. Das gilt umso mehr für die Europäische Union. Für die Demokratien der Zukunft gibt es bereits zahlreiche mehr oder weniger gute Modelle. Wir müssen nur die Chance bekommen, diese zu implementieren. Die EU-Bürokraten und ihre Statthalter in den EU-Mitgliedsstaaten werden uns solche Chancen niemals eröffnen. Frei nach Sieyès kann es nicht darum gehen, „etwas darin zu werden“, sondern aus dieser EU so schnell wie möglich auszutreten und auf nationaler Ebene etwas Neues zu schaffen: eine Demokratie, die diesen Namen verdient!