„Der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023“ ist heute, am 7. August 2024, bereits Gegenstand eines umfangreichen Artikels auf wikipedia, der schon im ersten Satz erklärt, was Sache ist: „war ein terroristischer Überfall unter Führung der palästinensischen radikal-islamistischen Hamas, der vom Gazastreifen aus gegen Israel verübt wurde.“ Fehlt nur der Hinweis „Terrororganisation Hamas“, doch der folgt sogleich: „Die Bekämpfung der Terroristen der Hamas und mit dieser verbündeter palästinensischer Milizen im Gazastreifen findet unter dem Namen Operation „Eiserne Schwerter“ (englisch Operation Iron Swords) statt. In israelischen Medien wird aufgrund des jüdischen Feiertages Simchat Tora, an dem der Angriff startete, auch die Bezeichnung Simchat-Tora-Krieg verwendet.“
In seinem neuesten Buch „Kleine Geschichte Israels“ erinnert Hans Saenger daran, dass auch Israel sich die Anerkennung als Staat mit den Mitteln des Terrors erkämpft hat. So verübte die jüdische Terrororganisation Irgun unter seinem Kommandanten Menachem Begin am 9. April 1948 das Massaker von Deir Yasin, bei dem mindestens 100 arabische Dorfbewohner getötet wurden. Hanna Arendt und Albert Einstein hatten damals die Irgun als „faschistische Organisation“ bezeichnet. „Begin aber verteidigte das Massaker selbst dann noch, als er Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger geworden war. Ohne das Massaker, so seine Argumentation, hätte es nie einen Staat Israel gegeben. Der Verzicht auf Terror als Mittel des Kampfes wäre aus seiner Sicht gleichbedeutend gewesen mit dem Verzicht der Juden auf den eigenen Staat.“
Dies ist natürlich keine Entschuldigung für Terror – egal von wem, egal gegen wen. Hans Saenger bemüht sich, über die Gegner im (gefühlt) schon seit Ewigkeit dauernden Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern „gerecht“ zu urteilen, historisch beginnend „in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts, als einige tausend Juden nach Israel kamen und dort, von der Familie Rothschild finanziell unterstützt, landwirtschaftliche Mustersiedlungen errichteten. Die Geschichte des Staates Israel ist eng mit der sogenannten Kibbuz-Bewegung verbunden. Nachdem in Russland 1905 die Revolution vorerst gescheitert war, wanderten 40.000 junge russische Juden nach Palästina aus, mit kommunistischen oder anarcho-sozialistischen Ideen als ideologisches Reisegepäck.“
„Wenn man dem kommunistischen Ideal irgendwo und irgendwann auf der Welt nahegekommen ist, so war es hier. Die Idylle dauerte nur wenige Jahre. Vermehrt kamen Juden ins Land, die ein anderes ideologisches Reisegepäck mitbrachten als die anarcho-sozialistischen Kibbuzniks, nämlich den Zionismus. […] Ideologisch unterfüttert wurde das Projekt der Staatsgründung von Theodor Herzls berühmten, 1896 erschienenen Buch ‚Der Judenstaat‘. Die erste Bruchlinie in der jüdischen Besiedlung Palästinas tat sich damit auf.“
Die „Kleine Geschichte Israels“ endet 2005 mit dem Schlaganfall von Ariel Scharon, nach dem er ins Koma fiel, aus dem er bis zu seinem Tod neun Jahre später nicht mehr erwachte. Eine seiner letzten Leistungen war die Räumung des Gaza-Streifens: „Der militärische Aufwand, die Sicherheit der israelischen Siedler in einer ihnen feindlichen Umgebung zu gewährleisten, war zu groß geworden. Wessen Geistes Kinder am Werk waren, illustriert die Tatsache, dass nach dem Abzug der Siedler alles, was sie errichtet hatten, geschleift wurde. Nichts sollte den Palästinensern überlassen werden.“
„Ich war bemüht, einigermaßen gerecht zu bleiben und zwischen den Zeilen immer wieder vorsichtige Sympathie durchschimmern zu lassen für ein Land, das nur ein Jahr älter ist als ich selbst. Das ist mir in zunehmendem Maß unmöglich geworden, je näher sich meine Erzählung der finsteren Gegenwart dessen nähert, was im Augenblick in Israel geschieht [...]“
Das ist die eine Seite der Medaille. In Österreich tritt bei der Nationalratswahl am 29. September dieses Jahres eine Partei an, die mit dem Namen „GAZA“ für Frieden, Neutralität und Gerechtigkeit wirbt und behauptet: „Seit bald einem Jahr begeht Israel einen Völkermord an den Palästinenserinnen und Palästinensern, doch von den im österreichischen Parlament vertretenen Parteien hat sich bisher niemand dagegen ausgesprochen.“ Die „Liste GAZA“ sollte Saengers Werk ihren Mitgliedern und Wählern empfehlen, vor allem deshalb, weil der Autor auch die andere Seite der Medaille kritisch betrachtet.
Nachdem das Mandat der Engländer am 14. Mai 1948 geendet hat, haben die gut organisierten Juden ihren Staat noch am selben Tag gegründet. „Schon am nächsten Morgen befand sich der neue Staat im Krieg, denn noch in der Nacht hatten seine arabischen Nachbarstaaten Ägypten, Saudi-Arabien, Syrien, Jordanien, der Libanon und und der Irak ihm diesen erklärt. Die unmittelbare Folge war eine Große Flüchtlingswelle [der Palästinenser], deren Ursache bis heute umstritten ist.“
„Es wäre falsch zu glauben, die arabischen Armeen wären gekommen, ihren palästinensischen Glaubensbrüdern zu ihrem Recht zu verhelfen. Vielmehr wollte man Israel vernichten und Palästina unter sich aufteilen.“
Infolge dieses Krieges mussten hunderttausend Palästinenser Hab und Gut zurück lassen, ebenso wie rund eine Million orientalischer Juden, „die islamischen Länder, in denen sie gut integriert waren, verlassen mussten“. Saenger erinnert daran, dass diese relativ schnell im neuen Staat Israel integriert wurden, während die Palästinenser (außer in Jordanien) von den anderen arabischen Staaten nur in Elendsviertel abgeschoben wurden; „teilweise leben sie und ihre Nachkommen auch heute noch in den armseligen Lagern, in denen man sie nach ihrer Flucht gepfercht hatte.“
„Durch Einbürgerung und Integration hätte man den armen Palästinensern, die zum unschuldigen Opfer weltgeschichtlicher Fatalitäten geworden waren, wirksam helfen können. Doch statt ihnen diese Perspektive zu geben, ließ man sie in Lagern leben, wo sie sich zwangsläufig radikalisieren mussten, denn nur als Radikalisierte ware sie für die arabischen Führer und ihre nationalistischen Zwecke zu brauchen. […] Eine Ausnahme ist Jordanien […] Man stelle sich vor, die anderen arabischen Staaten wären dem jordanischen Beispiel gefolgt.“
Soweit kurz exzerpiert die beiden Seiten des Konflikts, die Oberflächen der Medaille. Die Masse der Medaille jedoch, der Kern des Konflikts, gewichtige Ursache der Dauer-Krise seit Gründung Israels bis heute, bilden die „perfiden Engländer“. (Die biblische Ursachenforschung, die bei Abraham, seinen beiden Ehefrauen und seinen beiden Söhnen Isaak und Ismail angesiedelt werden könnte, wollen wir hier ausklammern.) „England und Frankreich waren damals die führenden Kolonialmächte – mit Völkern und Provinzen zu jonglieren lag ihnen daher im Blut, und das auf eine Weise, die heute kaum mehr verständlich ist.“
Dieser Teil der „Kleinen Geschichte Israels“ ist mindestens genauso wichtig, wie die häufigen Konflikte mit Todesfolgen. Auf 100 Seiten seines Buches legt der Autor – kein Historiker, aber ein redlicher Sucher nach der Wahrheit - die Ursachen des Konflikts besser frei, als hunderte schwergewichtige Bücher zu diesem Thema.
Hans Saenger
Kleine Geschichte Israels (kompletter Text siehe ethos.at)
Kleine Schriften 5, Privatdruck, 2024
SIEHE AUCH: In Memoriam Golda Meir von Manfred Breitenberger (fischundfleisch.com, 8.8.2024)