Kleine Geschichte Israels

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von Hans Saenger

Vorwort

Den Alten galt die Geschichtsschreibung als musische Tätigkeit. Die Quellen, aus denen ein antiker Geschichtsschreiber schöpfte, waren in erster Linie sein Gedächtnis und seine Intuition, sein Beistand aber Clio. Als eine von den neun Musen war sie die Schutzgöttin der Geschichtsschreibung, welche den Alten als Kunst galt, nicht aber wie uns Heutigen als Wissenschaft. Nahm ein alter Geschichtsschreiber ein geschichtliches Werk in Angriff, so war es seine erste und wichtigste Aufgabe, den Beistand der Clio zu erflehen, denn ohne diesen konnte nichts Rechtes gelingen.

Die neun Musen hatte Zeus, selbst ein Titanenspross, mit der Titanin Mnemosyne gezeugt. Mnemosyne ist aber nicht nur die Mutter der Musen, sie ist auch die Namensgeberin eines Flusses in der Unterwelt. Im Gegensatz zu Lethe, dem Unterweltfluss des Vergessens, ist Mnemosyne der Fluss des Erinnerns.

Den vorliegenden Text habe ich im Herbst 2023, wenige Wochen nach den Ereignissen vom 7. Oktober begonnen. Da ich das unabweisbare Gefühl hatte, dass sich die Welt auf einen entscheidenden Punkt zubewegt, wollte ich etwas schreiben, so wie ich bereits die beiden anderen Megaereignisse der letzten Jahre, die Coronakrise und die Ereignisse in der Ukraine, gedanklich und mit der Feder in der Hand begleitet habe. Freilich wollte ich mich nicht der Gefahr aussetzen, dass ich etwas zu Papier bringe, was von den Ereignissen überholt sein könnte, noch ehe gleichsam meine Tinte trocken sein würde. Ich widerstand also der Versuchung, den Propheten zu spielen ― das möge die Sache von Berufeneren bleiben. So verfiel ich auf den Gedanken, mich mit der israelischen Geschichte zu beschäftigen, meine punktuellen Erinnerungen an diese aufzufrischen und meine Wissenslücken, so gut als es mir möglich war, zu schließen.

Der israelische Staat, der 2023 das Jubiläum seines 75-jährigen Bestehens gefeiert hat, ist nur ein Jahr älter als ich selbst. In den Fokus meines damals noch sehr naiven Interesses geriet er das erste Mal im Jahr 1967, anlässlich des Siebentagekrieges; beinahe alles, was sich vor diesem Zeitpunkt ereignet hatte, war mir damals unbekannt; geläufig waren mir allenfalls die Namen Ben Gurion oder Weizmann, freilich, ohne dass ich genau gewusst hätte, welche Rolle die beiden Männer bei der Gründung des Staates Israel und in den ersten Jahren seiner Geschichte gespielt hatten. Wohl lernte ich seit diesen fernen Jugendtagen einiges über Israel dazu, doch blieb mein Wissen lückenhaft, fragmentarisch, punktuell, bis ich vor wenigen Wochen begann, mich mit der Geschichte des Landes zu beschäftigen. Noch schlechter freilich war es um meine Kenntnisse dessen bestellt, was sich vor dem Jahr 1948, also gleichsam im Embrionalstadium des Staates Israel, zugetragen hatte. Und diese Geschichte zu kennen, wäre wohl das Allerwichtigste, wie es das Allerwichtigste wäre, von unserer individuellen Biographie dasjenige zu kennen, was sich zugetragen hat, als wir im Leib unserer Mutter saßen, in unserem eigenen Embrionalstadium also.

Der entstandene Text ist daher, wie viele andere aus meiner Feder, in erster Linie ein Versuch der Selbstbelehrung und ein Dokument dieses Versuches. Darüber hinaus ist es auch ein Versuch, einer verhängnisvollen Tendenz unserer konfliktreichen Zeit entgegenzuwirken, nämlich der Ausblendung der Vorgeschichte eines Konfliktes. Man könnte das Geschichtsvergessenheit nennen. Als Beispiel dafür kann der Ukrainekrieg gelten, wo man uns unablässig einzureden versucht, er hätte begonnen durch den unprovozierten Überfall Russlands auf die Ukraine. Doch jeder Konflikt, zumal einer von der Schwere des Ukrainekrieges, hat seine Vorgeschichte, und Gerechtigkeit ist nur möglich, wenn man auch diese kennt und in sein Urteil einbezieht. Ihre Vorgeschichte hat auch die Attacke der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 ― sie ist bereits mehr als hundert Jahre lang. Die Attacke zu verurteilen ist leicht, wenn man ihre Vorgeschichte ausblendet, wenn man so tut, als wäre sie ein Blitz aus wolkenlosem Himmel gewesen. Ich will niemanden tadeln, wenn er es vorzieht, zu vergessen, statt sich zu erinnern; wenn er, um im Bild zu bleiben, es also vorzieht, Lethe statt Mnemosyne zu trinken. Nur möge er dann schweigen und sich des Urteils enthalten. Man tadle aber auch mich nicht, wenn ich es selbst umgekehrt halte.

Wenn einer wie ich seit nunmehr fünfundfünfzig Jahren in Wien lebt, hat er nur zwei Möglichkeiten: entweder der Ignorant zu bleiben, der er war, als es ihn in diese Stadt verschlagen hat, oder nach und nach zum Historiker zu werden, freilich zu keinem professionellen, sondern zu einem höchst amateurhaften. Der nachstehende Text ist das Werk eines solchen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Er ist aber auch die Basis für weitere Tauchgänge in die Tiefen der Zeit.

Wien, im Mai 2024

Hans Saenger