Was kann Wissenschaft leisten? - Paul Feyerabend

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Paul Feyerabend

Während Kant und Popper die Fragen beantworten, was eigentlich Wissenschaft ist, und mit welcher Methode sie arbeiten soll, geht Paul Feyerabend einen Schritt weiter und beleuchtet, wie Wissenschafter im Laufe der Geschichte Theorien entwickelt und durchgesetzt haben. Er selbst bezeichnet die einzelnen Kapitel seines Buches "Wider den Methodenzwang" als Essays, womit er sich gegen die Philosophie als Wissenschaft und die Philosophie als Systementwurf, wie sie von Kant und Popper betrieben wurde, abgrenzt. Auch wenn er deren Systematik ablehnt, so verbindet ihn mit Popper die Ablehnung jeglichen Dogmatismus und das Verständnis der Wissenschaft als "Abenteuer".

So wie Popper ist Feyerabend in Wien geboren, allerdings 22 Jahre nach Karl Popper im Jahr 1924. Gestorben ist Paul Feyerabend im gleichen Jahr wie Popper, 1994. Zunächst war er ein Verfechter von Poppers Epistemologie, positionierte sich aber später als "Anarchist der Wissenschaftstheorie". Sein Buch im englischen Original heißt: "Against Method: Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge". Alle Versuche, der Wissenschaft eine Methode zu verordnen würden nur "niedrige Instinkte" und "die Sucht nach geistiger Sicherheit" befriedigen, meint Feyerabend, der im Gegensatz dazu "nur einen Grundsatz" zulassen will: Anything goes. (WdM, 31f)

Anders gesagt: Alles ist möglich, was der Erweiterung der Erkenntnis dienlich ist, das sind neben der Wissenschaft auch "Religion, Prostitution usw". (WdM, 23) Auch wenn Feyerabend einer Pointe zuliebe gerne mal provoziert - denn Wissenschaft und Wissenschaftstheorie dürfen auch unterhaltsam sein - so scheint seine Feststellung, "daß 'empirische' Theorien in ihren späteren Entwicklungsstadien nicht mehr von zweitrangigen Mythen zu unterscheiden sind" (M, 51) nicht unberechtigt. Mythen leben "allein durch die Bemühungen der Gemeinde der Gläubigen und ihrer Führer fort, seien diese Führer nun Priester oder Nobelpreisträger. Dieses Ergebnis halte ich für das entscheidendste Argument gegen jede Methode, die die Einheitlichkeit fördert [...] Jede solche Methode ist im Grund eine Methode der Täuschung: Sie erzwingt einen blinden Konformismus und redet von der Wahrheit. [...] Für die objektive Erkenntnis brauchen wir viele verschiedene Ideen. Und eine Methode, die die Vielfalt fördert, ist auch als einzige mit einer humanistischen Auffassung vereinbar." (WdM, 53f) Anderseits gilt aber auch: "Kein Gedanke ist so alt oder absurd, daß er nicht unser Wissen verbessern könnte." Wenn dieser Gedanke Element eines erstklassigen Mythos ist, so heißt ihn Feyerabend willkommen.

Ob Mythos oder Geschichte ist in der Geschichtswissenschaft oft nicht eindeutig zu entscheiden. Gerade deshalb meint Feyerabend, dass die Wissenschaftsgeschichte für eine Theorie und ihre Weiterentwicklung genauso wichtig ist wie die Methode ihrer Begründung. Ausführlich untersucht er die Geschichte der "Kopernikanischen Revolution", zu der Galilei viel beigetragen hat, insbesondere durch "Propaganda" und "psychologische Tricks". Einer der Tricks: er schreibt nicht nur in Latein, der Sprache der Gelehrten, sondern auch auf Italienisch; damit führt er eine neue "Beobachtersprache" ein und erreicht auch Menschen, die den herrschenden Institutionen kritisch gegenüber stehen.

"Außer natürlichen Interpretationen verändert Galilei auch Wahrnehmungen, die Kopernikus in Gefahr zu bringen scheinen. Er gibt das Vorhandensein solcher Wahrnehmungen zu, lobt Kopernikus dafür, daß er sie nicht beachtet hat, und behauptet, er habe sie mit Hilfe des Fernrohrs entfernt." (M. 128) Tatsächlich hat das Fernrohr keine Beweise geliefert. Feyerabend geht in seiner Aufarbeitung der Geschichte dieser Wissenschaftsrevolution sogar so weit, dass die Theorie von Kopernikus in Widerspruch mit allen damals bekannten Tatsachen stand. Sogar die "Kirche zur Zeit Galileis hielt sich viel enger an die Vernunft als Galilei selber [...] Ihr Urteil gegen Galilei war rational und gerecht". (M, 206)

Feyerabends Buch ist weniger Wissenschaftstheorie als vielmehr Ideengeschichte. Die Frage, wie Wissenschaft funktioniert, beantwortet er durch seine Erzählungen darüber, wie Wissenschafter im Umfeld verschiedener Institutionen agieren. Von der Frage, welche Methoden Wissenschafter anwenden, um zu Erkenntnissen zu gelangen, lenkt er ab. Statt dessen beantwortet er die Frage, welche Methoden sie anwenden, um ihre jeweiligen Erkenntnisse durchzusetzen. Sein Narrativ ist wahrscheinlich keine Kopernikanische Wende der Wissenschaftstheorie, aber doch ein wichtiger Paradigmenwechsel. Wobei man im Sinne Feyerabends postulieren darf, dass die Wissenschafter nicht nur eine Vielfalt von Ideen, Theorien, Hypothesen, Behauptungen und Vermutungen zulassen sollten, sondern auch eine Vielfalt von Paradigmen. Die Frage, ob die Institutionen der Wissenschaft heute eher aufseiten der Propaganda oder aufseiten der Prostitution stehen, hat Paul Feyerabend nicht direkt beantwortet.