Was kann Wissenschaft leisten?

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PELLETS. Kapitel 7 - Die Krise der Wissenschaft ist bereits seit Jahrzehnten Thema von Wissenschaftstheoretikern. Die Krise hält an, wie der wissenschaftliche Diskurs über Forstbewirtschaftung, Biomasse und Kohlenstoffemissionen zeigt, der er im vorigen Kapitel von PELLETS vorgestellt wurde. Dieser wirft viele Fragen auf, zu aller erst: Wer hat recht und wer bekommt Recht? Bei Vertiefung des Themas muss man fragen: Welche Thesen, Argumente, Axiome, Auffassungen, Behauptungen, Unterstellungen sind richtig, welche falsch? Welche Methoden wenden Wissenschafter an, um zu Erkenntnissen zu gelangen? Und nicht zuletzt: welche Methoden wenden sie an, um ihre jeweiligen Erkenntnisse durchzusetzen?

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"Wenn es jetzt in vielen Bereichen der Naturforschung fünfzigmal so viele Forscher gibt wie vor fünfzig Jahren, so hat sich das Angebot neuer Methoden wahrscheinlich verhundertfacht", schreibt Erwin Chargaff schon 1985. (Zeugenschaft, 208) Indirekt ist das eine Kritik an Karl Popper, der fünfzig Jahre früher in seinem Buch "Logik der Forschung" die Falsifizierbarkeit als wichtigstes Prinzip der Wissenschaft und die Falsifikation als die einzige Methode jeder Wissenschaft konstituiert hat. Popper, der seine Philosophie als "kritischen Rationalismus" bezeichnet hat, baut auf Immanuel Kant auf, der 1781 sein Hauptwerk, die "Kritik der reinen Vernunft" veröffentlichte.


Immanuel Kant

Da Kant den Begriff "Kritik" nicht im heute üblichen Sprachgebrauch im Sinne von "Beanstandung, Bemängelung" verwendet, sondern darunter eine wissenschaftliche Methode versteht, soll dieses Kapitel mit einem Exkurs über die von ihm begründete Epistemologie, die "Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können" beginnen. "Kritik" leitet Kant vom Griechischen "krinein" ab, auf Deutsch "prüfen, untersuchen", und nur in diesem Sinne verwendet er diesen Begriff.

Wer Kants Kritik nur oberflächlich aus dem Schulunterricht kennt, wird sich an die Aussage erinnern, dass „das Ding an sich“ nicht erkannt werden kann. Dieses Dilemma lässt sich leicht aufklären, wenn man das Wesen der Kritik, genauer gesagt: die Methode der Kritik versteht. Das „Geschäft der Kritik“ wie Kant formuliert, ist es, die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis zu ergründen und zu begründen und damit die Grenzen der Erkenntnis (d.h. die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit) aufzuzeigen. Die Vernunft (Ratio) spielt in der Kritik eine doppelte Rolle. Sie ist einerseits Gegenstand der Erkenntnis und anderseits Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis. Damit ist die Metaphysik selbstreferenziell, was die Gefahr innerer Widersprüche birgt.

Dass die Kritik selbstreferentiell ist, sollte als Auftrag verstanden werden, sie immer auch als Selbstkritik zu verstehen. Die Kritiken (Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft) sind schwer zu lesen, weil Kant uns keine fertigen Begründungen liefert, sondern uns an seinem Prozess der Ergründung der Elementarbegriffe der Metaphysik teilnehmen lässt. Er stellt uns kein Fertighaus auf ein vorbereitetes Fundament, sondern lässt uns bei jedem Schritt der Planung und Errichtung dieses Hauses teilnehmen. So bleiben die Methode und ihre Begründung für den ungeübten Leser unklar und verschwommen, weil Kant oft unvermittelt von der Architektur in die Bauausführung wechselt. Seine Standardwerke sind so umfangreich, weil er gleichzeitig die Architektur der Metaphysik als Wissenschaft erklären und umgehend die Anwendungsmöglichkeiten aufzeigen und alle falschen Anwendungen ausschließen wollte.

Alleine die Anzahl der Möglichkeiten des Vernunftgebrauchs ist atemberaubend: apodiktisch, discursiv, dogmatisch, empirisch, hyperphysisch, hypothetisch, intuitiv, konstitutiv, logisch, mathematisch, moralisch, natürlich, polemisch, praktisch, regulativ, rein gesetzgebend, skeptisch, spekulativ, systematisch, theoretisch, transscendental oder transcendent. Es ist gar nicht notwendig, auf diese Unterscheidungen im Detail einzugehen. Es reicht darauf hinzuweisen, dass schon Kant erkannte: nicht jeder Gebrauch der Vernunft ist vernünftig. Das Kapitel Science & Evicence liefert viele Behauptungen, die eher einen dogmatischen, polemischen oder spekulativen Vernunftgebrauch bezeugen, als einen konstitutiven, logischen oder praktischen.

Hier die wesentlichen Grundlagen der kritischen Methode, die das Ziel hat, die Grenzen der Erkenntnis auszuloten. Die viel zitierte Formulierung Kants lautet: "Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen". Diese Aussage wird oft theologisch interpretiert, ist aber kein Bekenntnis zu einem konkreten Glaubensinhalt (z.B. zum Christentum), sondern der Hinweis, dass Glauben, so wie Wissen, Denken, Erkennen, Erfahren, Vorstellen, Wahrnehmen, Anschauen "Vermögen" sind, die alle essenziell für die Metaphysik als Wissenschaft sind, und das Wesen des homo sapiens definieren. Glaube steht am Anfang - man kann auch sagen an der Grenze - des Wissens und jeder Wissenschaft.

Die Aussage "Glauben heißt nichts Wissen" ist falsch und richtig gleichzeitig: falsch in der pejorativen Bedeutung, dass Glauben dumm und Wissen gescheit ist; richtig im Sinne Kants: Glauben ist nicht Wissen, sondern etwas essenziell Anderes als "Wissen", wobei beide Begriffe in der Erkenntnistheorie Kants ihre Position haben. Beide "haben ihre Berechtigung" ist eine Formulierung, die man heute gerne verwendet um einen Streit zu vermeiden, anstatt eine Konfrontation auszutragen. Richtig aber im Geiste Kants ist die Aussage: Beide Begriffe sind notwendig.

Glaube ist der Bereich, wo die Erkenntnis beginnt und wo sie wieder aufhört. Vor jeder Theorie steht eine Idee, an die ein Wissenschafter glaubt. Auf jede ausformulierten Theorie folgt der Glaube, dass sie richtig (wahr) ist, bevor man beginnt, sie zu verifizieren (bzw. zu falsifizieren). Weitere Grenzbegriffe, die vor der Erkenntnis stehen, sind die Kategorien (Elementarbegriffe wie Kausalität, Quantität, Qualität, Modalität), und die „reinen Anschauungen“ Raum und Zeit. Grundsätze (Synonym: Prinzipien) sind "Regeln des objektiven Gebrauchs der Kategorien". Den Begriff der "Anschauung" verwendet Kant meist im Sinne der Beobachtung der empirischen Wissenschaft, so ist es verwirrend, wenn er plötzlich von den "reinen Anschauungen Raum und Zeit" spricht. Das ist ein Beispiel dafür, wie schwer es ist, seinen Ausführungen zu folgen. Genau genommen hat er gemeint: Raum und Zeit sind reine Begriffe (Begriffe a priori) als Bedingung der Möglichkeit jeglicher Anschauung.

Darüber hinaus gibt es Ideen, Begriffe a priori, die vor der Erkenntnis stehen (im Unterschied zu spekulativen Begriffen der Schulmetaphysik, die "über" oder "jenseits" der Erkenntnis stehen). Kant unterscheidet psychologische, kosmologische und theologische Ideen, die „lauter reine Vernunftbegriffe sind, die in keiner Erfahrung gegeben werden können“, die aber dazu geeignet sind, unseren Verstandesgebrauch zu einer synthetischen Einheit zu bringen. (P § 56) Bewusstsein und Selbstbewusstsein, sind psychologische Ideen, Unendlichkeit und Universum sind kosmologische Ideen, Gott und Schöpfung sind theologische Ideen. "Ideen", "reine Vernunftbegriffe" und "spekulative Begriffe" sind in Kants System weitgehend synonym. Spekulation ist demnach nicht grundsätzlich abwertend gemeint, wird aber scharf kritisiert im Kontext der vor-kantischen Metaphysik, die keine Wissenschaft war.

Zum Basiswissen über Kants Metaphysik zählt die Unterscheidung zwischen reiner und praktischer Vernunft. Die reine Vernunft gibt die Begriffe a priori, die praktische Vernunft (der Verstand) verknüpft diese Begriffe mit den Anschauungen. Zur Beurteilung von richtig oder falsch, gut oder schlecht braucht es die Urteilskraft. Der praktischen Vernunft widmet Kant ein eigenes Buch, ebenso wie der Urteilskraft. Urteilskraft und Vorstellungskraft sind zwei Schlüsselbegriffe, die von den Wissenschaftern in den vergangenen Jahrzehnten zu wenig beachtet und entwickelt wurden, deshalb behauptet Erwin Chargaff: "die Naturforschung ist [...] gefährlich geworden für die Menschheit, denn der Weg von der methodischen Feststellung zur industriellen Ausnützung ist jetzt sehr kurz. Manche Scheußlichkeit, die früher nur den schönen Inhalt eines Forschertraums gebildet hätte, liegt morgen schon auf den Straßen." (Z, 208/209)

Vorstellungskraft ist das Vermögen des Wissenschafters, Begriffe a priori mit Anschauungen a posteriori (Beobachtungen) zu einer Theorie zu verbinden. Urteilskraft benötigt der Wissenschafter zur Bewertung einer Theorie. Der heute in der Wissenschaftstheorie geläufigen Begriffe "These", "Hypothese", "Theorie" verwendet Kant nicht. Ebenso wenig wie den heute inflationär gebrauchten Begriff "Meinung" - der durch die Menschenrechte und viele Verfassungen in der "Meinungsfreiheit" besonders hervorgehoben und geschützt ist. Kants Interesse gilt den objektivierbaren Begriffen und Urteilen. Dazu zählt er auch die Überzeugung, "ein Fürwahrhalten, das objektiv hinreichenden Grund und demnach Gültigkeit für jedermann besitzt". Meinung dagegen ist immer subjektiv. Das Urteil wiederum ist "die mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes oder Vorstellung seiner Vorstellung". Kant wechselt häufig von einer Ebene der Betrachtung (beispielsweise des Begriffes "Vorstellung") auf die Metaebene (Vorstellung der Vorstellung).Vorstellung impliziert Perception, Empfindung, Erkenntnis, Begriff und Anschauung.

Breiten Raum schenkt Kant der Auseinandersetzung mit dem Empirismus von David Hume, der, wie Kant schreibt, "mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach, und meinen Untersuchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab". Er verweist darauf, dass Hume ihn auf den Gedanken gebracht habe, dass Ursache und Wirkung Begriffe a priori seien, und "so ging ich an die Deduktion dieser Begriffe. [...] Diese Deduktion, die meinem scharfsinnigen Vorgängern unmöglich schien [...] war das Schwerste, das jemals zum Behuf der Metaphysik unternommen werden konnte". (Prolegommena, 7) Das Schwerste", das Kant geleistet hat, wurde zunächst wenig gelesen, geschweige denn verstanden. Deshalb veröffentlichte der Philosoph zwei Jahre später die "Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können" als Einführung in die Kritik. Heute würde man wohl sagen "Kritik der reinen Vernunft für Dummies". Dies zeitigte Erfolge, ab 1787, nach der erweiterten Neuauflage der Kritik, wurde er zum einflussreichsten Philosophen der Aufklärung.

Kant hat bewiesen, dass spekulative Aussagen (Behauptungen, Urteile) im Geiste der Schulmetaphysik nicht bewiesen werden können. So bringt er in der vierten „Antinomie der reinen Vernunft“ den Nachweis, dass sowohl die Aussage, dass die Welt einen Schöpfer habe, als auch die Aussage, es gebe kein „schlechthin notwendiges Wesen in und außer der Welt“ wahr sein können. Mit den gleichen Begründungen (Untersuchung ihrer Gründe) ist aber auch nachweisbar, dass beide Behauptungen falsch sind. Anders gesagt: weder die Aussage "Gott lebt in uns allen" noch die Aussage, für die Nietzsche berühmt wurde, "Gott ist tot", kann bewiesen werden. Spekulative Begriffe (Gott, Unendlichkeit, Bewusstsein uvm) und Aussage übersteigen die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit und damit die Grenzen der Beweisbarkeit. Erkenntnis ist nur möglich, wenn die Aussagen empirisch überprüfbar sind.

Die wesentliche Leistung von Kant besteht in dem weit über den Empirismus und die spekulative Metaphysik hinaus gehende Verständnis des Zusammenhangs zwischen empirischer Erfahrung und rationaler Erkenntnis. War die Metaphysik vor Kant nur spekulativ, nur eine beliebige, assoziative Aneinanderreihung abstrakter Begriffe (was in der Poesie oder Mystik oder im Bereich der Börsenspekulationen durchaus legitim ist), so ist seine Transformation der Metaphysik vergleichbar mit der kopernikanischen Wende in der Physik. Mit heutigen Begriffen: Kant hat einen Paradigmenwechsel vollzogen. Zuvor war die Metaphysik buchstäblich abgehoben von der Realität und die Naturwissenschaft war auf einem Auge blind, weil sie versuchte, zu empirischen Erkenntnisse ohne Begriffe a priori zu gelangen.

Um das System von Kant zu verstehen, ist die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen wichtig. "Analytische Urteile sagen im Prädikate nichts, als das, was im Begriffe des Subjekts schon wirklich, obgleich nicht so klar und mit gleichem Bewusstsein gedacht war." (P., 13) Das ist einer der einfachsten Sätze von Kant. Anders gesagt: jeder analytische Satz ist eine Tautologie, beispielsweise: Alle Körper sind ausgedehnt. Alle analytischen Urteile gelten a priori - man braucht sie nicht erst in der empirischen Welt zu überprüfen. Sie beruhen auf dem Satz des Widerspruches (etwas kann nicht gleichzeitig A und Nicht-A sein, etwas kann nicht gleichzeitig sein und nicht sein).

Die Naturwissenschaft arbeitet üblicher Weise mit synthetischen Urteilen, das sind Sätze, die eine Synthese aus mehreren Begriffen bilden, beispielsweise: Ein Baum ist eine Pflanze mit Stamm, Ästen und Krone. "Erfahrungsurteile sind jederzeit synthetisch" (P. 15) und "Erfahrung ist selbst nichts anders, als eine kontinuierliche Zusammenfügung (Synthesis) der Wahrnehmungen" (P. 25), schreibt Kant. Charakteristisch für die Wissenschaft ist die laufende Präzisierung synthetischer Urteile. So definiert die Botanik Bäume als "ausdauernde und verholzende Samenpflanzen, die eine dominierende Sprossachse aufweisen, die durch sekundäres Dickenwachstum an Umfang zunimmt." (wikipedia) Urteile aus Erfahrung sind Urteile a posteriori, Erfahrungsurteile verwenden Begriffe a posteriori - zur Erkenntnis gelangt man erst durch die Verbindung mit den Begriffen a priori.

Eine zentrale Frage der Kritik lautet: sind synthetische Urteile a priori möglich? Genau genommen lautet die Frage: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? - denn dass sie möglich sind, ist Kants Voraussetzung für die Entwicklung der kritischen Methode. Oft werden empirische Urteile so selbstverständlich, dass man zur Meinung gelangen könnte, diese seien synthetische Urteile a priori. So könnte man folgendes Urteil betrachten: "Holzbiomasse enthält weniger Energie als Kohle, so dass die CO2-Emissionen für die gleiche Energieleistung höher sind". Physiker könnten in Kenntnis der Energiedichte verschiedener Rohstoffe diese Aussage für a priori richtig halten. Die Aussage ist zwar apodiktisch (unstrittig) und (bei Kenntnis der Formeln für Energiedichte) evident, aber nicht a priori. In diesem Sinne kritisiert Kant den Denkansatz Humes, der behauptet, "nur Erfahrung kann uns solche Verknüpfungen an die Hand geben, und [...] Erkenntnis a priori ist nichts als eine lange Gewohnheit, etwas wahr zu finden". (P, 27)

Synthetische Urteile a priori können nur aus Begriffen a priori gebildet werden, Kant sagt, dass die Begriffe a priori "die Materie der Metaphysik und ihr Bauzeug ausmachen" (P, 22). Letztlich können wir "von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen." (Kritik, 21) Auf diesem Satz basieren alle Varianten des Konstruktivismus, der im 20. Jahrhundert zu einer dominierenden Wissenschaftstheorie, ja sogar Weltanschauung geworden ist. Die radikale Fassung: jedes Gesetz ist gesetzt - nicht nur die Gesetzgebung der Staaten (positives Recht), sondern auch die Naturgesetze.

Zusammengefasst: Die Kritik der reinen Vernunft "ist ein Traktat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft selbst; aber sie verzeichnet gleichwohl den ganzen Umriß derselben, sowohl in Anschauung ihrer Grenze, als auch des ganzen inneren Gliederbaus derselben." (Kritik, 23) Darauf baut Karl Popper in der "Logik der Forschung" auf.


Karl Popper

"Wir wollen scharf zwischen dem Zustandekommen des Einfalls und den Methoden und Ergebnissen seiner logischen Diskussion unterscheiden und daran festhalten, daß wir die Aufgabe der Erkenntnistheorie oder Erkenntnislogik (im Gegensatz zur Erkenntnispsychologie) derart bestimmen, daß sie lediglich die Methoden der systematischen Überprüfung zu untersuchen hat, der jeder Einfall, solI er ernst genommen werden, zu unterwerfen ist." (LdF, 4f)

Ist der Einfall Zufall, Inspiration, Intuition? Wie kommt er zustande? Diese Fragen verweist Popper an die Psychologie. Für die Epistemologie ist wichtig, wie ein Einfall als Hypothese oder These formuliert wird und mit welchen Methoden diese Aussagen (Sätze) untersucht werden können. Wissenschaftstheorie interessiert sich "für Fragen von der Art: ob und wie ein Satz begründet werden kann; ob er nachprüfbar ist; ob er von gewissen anderen Sätzen logisch abhängt oder mit ihnen in Widerspruch steht usw." (LdF, 4f)

Als Popper die "Logik der Forschung" schrieb war der vom Wiener Kreis geprägte Positivismus sehr populär. Die Postivisten übernehmen die Abgrenzungen zwischen Naturwissenschaft und Metaphysik von David Hume, so als hätte es Kants Kritik nicht gegeben.

"Der Positivismus faßt das Abgrenzungsproblem 'naturalistisch' auf: nicht als Frage nach einer zweckmäßigen Festsetzung, sondern als Frage eines sozusagen 'von Natur aus' existierenden Unterschiedes zwischen Erfahrungswissenschaft und Metaphysik", so Popper, der kritisiert, dass die positivistische Abgrenzung zwischen "sinnvollen" (naturwissenschaftlichen) und "sinnlosen" (metaphysischen) Sätzen trivial ist, wenn man vorweg alle Sätze der Metaphysik als "sinnlos" definiert. Metaphysik liefert aus positivistischer Sicht nur Scheinsätze und Scheinprobleme und soll daher überwunden werden.

Popper hält dagegen, beide Bereiche seien wichtig, aber man müsse sie genau definieren. Definition ist per definitionem nichts anderes als abgrenzen (womit immer auch Eingrenzungen und Ausgrenzungen verbunden sind). Aufgrund von Poppers Definition soll die Entscheidung getroffen werden, ob eine "nähere Untersuchung für die empirische Wissenschaft von Interesse ist. Unser Abgrenzungskriterium wird also als ein Vorschlag für eine Festsetzung zu betrachten sein." (LdF, 10)

Da die Positivisten die induktive Herleitung von Thesen aus der Untersuchung der Natur als Methode der Wissenschaft wiederbelebt haben, muss Popper die "Festsetzung", die als Willkürakt gedeutet werden könnte, verteidigen und legitimieren. Im Unterschied zu den Positivisten, die versuchen "ein System von absolut gesicherten, unumstößlich wahren Sätzen aufzustellen" geht Popper "von anderen Zwecken aus. [...] Nur in einer Weise glauben wir, für unsere Festsetzungen durch Argumente werben zu können: durch Analyse ihrer logischen Konsequenzen, durch den Hinweis auf ihre Fruchtbarkeit, auf ihre aufklärende Kraft gegenüber den erkenntnistheoretischen Problemen.

Wir geben also offen zu, daß wir uns bei unseren Festsetzungen in letzter Linie von unserer Wertschätzung, von unserer Vorliebe leiten lassen. Wer, wie wir, logische Strenge und Dogmenfreiheit schätzt, wer praktische Anwendbarkeit sucht, wer gefesselt wird von dem Abenteuer der Forschung, die uns immer wieder vor neue, unvorhergesehene Fragen stellt und uns anregt, immer wieder neue, vorher ungeahnte Antworten zu erproben, der wird den Festsetzungen, die wir vorschlagen werden, wohl zustimmen können." (LdF, 10)

Das ist ein starkes und emotionales Plädoyer, aber keine Begründung. Popper liefert auch keine Abgrenzung, die über die Erkenntnisse von Immanuel Kant hinaus gehen würde. Sein Verdienst besteht darin, die Erkenntnisse und die kritische Methode Kants in die Sprache des 20. Jahrhunderts übersetzt zu haben. Und natürlich hat er mit der Ablösung der Verifikation durch die Falsifikation die Aporie gelöst, dass Wissenschaft "endgültige" Beweise liefern müsse. Denn zum Wesen der Wissenschaft gehört der Fortschritt, somit die Infragestellung und Änderung der bestehenden Wahrheiten, was mit "unumstößlich wahren Sätzen" nicht vereinbar ist. Gemäß Falsifikations-Prinzip ist eine wissenschaftliche These so lange gültig, bis sie durch eine andere These verbessert oder widerlegt (falsifiziert) wurde. 

"Der [induktive] Schluß von den durch 'Erfahrung' verifizierten besonderen Aussagen auf die Theorie ist logisch unzulassig, Theorien sind somit niemals empirisch verifizierbar." Trotz dieser apodiktischen Behauptung braucht Popper die Erfahrung um gesetzte Thesen zu überprüfen, doch die Art und Weise der "methodischen Nachprüfung" kann nicht die Verifikation, sondern nur die Falsifikation sein. In polemischer Absicht könnte man Popper unterstellen, sein Argument sei paradox, denn eine These sei in seiner Logik erst dann wissenschaftlich, nachdem sie falsifiziert wurde. Doch Poppers Abgrenzung legt lediglich fest, dass eine These grundsätzlich falsifizier-bar sein muss. Im Gegensatz dazu sind rein metaphysische Sätze (metaphysisch im vorkantianischen Sinne) grundsätzlich nicht falsifizier-bar, weil nicht nachprüfbar. Mit den Worten Poppers: "Ein empirisch-wissenschaftliches System muß an der Erfahrung scheitern können." (LdF, 12f)


Paul Feyerabend

Während Kant und Popper die Fragen beantworten, was eigentlich Wissenschaft ist, und mit welcher Methode sie arbeiten soll, geht Paul Feyerabend einen Schritt weiter und beleuchtet, wie Wissenschafter im Laufe der Geschichte Theorien entwickelt und durchgesetzt haben. Er selbst bezeichnet die einzelnen Kapitel seines Buches "Wider den Methodenzwang" als Essays, womit er sich gegen die Philosophie als Wissenschaft und die Philosophie als Systementwurf, wie sie von Kant und Popper betrieben wurde, abgrenzt. Auch wenn er deren Systematik ablehnt, so verbindet ihn mit Popper die Ablehnung jeglichen Dogmatismus und das Verständnis der Wissenschaft als "Abenteuer".

So wie Popper ist Feyerabend in Wien geboren, allerdings 22 Jahre nach Karl Popper im Jahr 1924. Gestorben ist Paul Feyerabend im gleichen Jahr wie Popper, 1994. Zunächst war er ein Verfechter von Poppers Epistemologie, positionierte sich aber später als "Anarchist der Wissenschaftstheorie". Sein Buch im englischen Original heißt: "Against Method: Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge". Alle Versuche, der Wissenschaft eine Methode zu verordnen würden nur "niedrige Instinkte" und "die Sucht nach geistiger Sicherheit" befriedigen, meint Feyerabend, der im Gegensatz dazu "nur einen Grundsatz" zulassen will: Anything goes. (WdM, 31f)

Anders gesagt: Alles ist möglich, was der Erweiterung der Erkenntnis dienlich ist, das sind neben der Wissenschaft auch "Religion, Prostitution usw". (WdM, 23) Auch wenn Feyerabend einer Pointe zuliebe gerne mal provoziert - denn Wissenschaft und Wissenschaftstheorie dürfen auch unterhaltsam sein - so scheint seine Feststellung, "daß 'empirische' Theorien in ihren späteren Entwicklungsstadien nicht mehr von zweitrangigen Mythen zu unterscheiden sind" (M, 51) nicht unberechtigt. Mythen leben "allein durch die Bemühungen der Gemeinde der Gläubigen und ihrer Führer fort, seien diese Führer nun Priester oder Nobelpreisträger. Dieses Ergebnis halte ich für das entscheidendste Argument gegen jede Methode, die die Einheitlichkeit fördert [...] Jede solche Methode ist im Grund eine Methode der Täuschung: Sie erzwingt einen blinden Konformismus und redet von der Wahrheit. [...] Für die objektive Erkenntnis brauchen wir viele verschiedene Ideen. Und eine Methode, die die Vielfalt fördert, ist auch als einzige mit einer humanistischen Auffassung vereinbar." (WdM, 53f) Anderseits gilt aber auch: "Kein Gedanke ist so alt oder absurd, daß er nicht unser Wissen verbessern könnte." Wenn dieser Gedanke Element eines erstklassigen Mythos ist, so heißt ihn Feyerabend willkommen.

Ob Mythos oder Geschichte ist in der Geschichtswissenschaft oft nicht eindeutig zu entscheiden. Gerade deshalb meint Feyerabend, dass die Wissenschaftsgeschichte für eine Theorie und ihre Weiterentwicklung genauso wichtig ist wie die Methode ihrer Begründung. Ausführlich untersucht er die Geschichte der "Kopernikanischen Revolution", zu der Galilei viel beigetragen hat, insbesondere durch "Propaganda" und "psychologische Tricks". Einer der Tricks: er schreibt nicht nur in Latein, der Sprache der Gelehrten, sondern auch auf Italienisch; damit führt er eine neue "Beobachtersprache" ein und erreicht auch Menschen, die den herrschenden Institutionen kritisch gegenüber stehen.

"Außer natürlichen Interpretationen verändert Galilei auch Wahrnehmungen, die Kopernikus in Gefahr zu bringen scheinen. Er gibt das Vorhandensein solcher Wahrnehmungen zu, lobt Kopernikus dafür, daß er sie nicht beachtet hat, und behauptet, er habe sie mit Hilfe des Fernrohrs entfernt." (M. 128) Tatsächlich hat das Fernrohr keine Beweise geliefert. Feyerabend geht in seiner Aufarbeitung der Geschichte dieser Wissenschaftsrevolution sogar so weit, dass die Theorie von Kopernikus in Widerspruch mit allen damals bekannten Tatsachen stand. Sogar die "Kirche zur Zeit Galileis hielt sich viel enger an die Vernunft als Galilei selber [...] Ihr Urteil gegen Galilei war rational und gerecht". (M, 206)

Feyerabends Buch ist weniger Wissenschaftstheorie als vielmehr Ideengeschichte. Die Frage, wie Wissenschaft funktioniert, beantwortet er durch seine Erzählungen darüber, wie Wissenschafter im Umfeld verschiedener Institutionen agieren. Von der Frage, welche Methoden Wissenschafter anwenden, um zu Erkenntnissen zu gelangen, lenkt er ab. Statt dessen beantwortet er die Frage, welche Methoden sie anwenden, um ihre jeweiligen Erkenntnisse durchzusetzen. Sein Narrativ ist wahrscheinlich keine Kopernikanische Wende der Wissenschaftstheorie, aber doch ein wichtiger Paradigmenwechsel. Wobei man im Sinne Feyerabends postulieren darf, dass die Wissenschafter nicht nur eine Vielfalt von Ideen, Theorien, Hypothesen, Behauptungen und Vermutungen zulassen sollten, sondern auch eine Vielfalt von Paradigmen. Die Frage, ob die Institutionen der Wissenschaft heute eher aufseiten der Propaganda oder aufseiten der Prostitution stehen, hat Paul Feyerabend nicht direkt beantwortet.


Erwin Chargaff

Eine indirekte Antwort findet man aber bei Erwin Chargaff in seinen "Bemerkungen über die Grenzen der Naturwissenschaft" (publiziert 1977 in der Zeitschrift "Scheidewege"): "Es gibt Grenzen der intellektuellen Rentabilität. [...] In mancher Beziehung könnte man sagen, daß die Naturwissenschaften ihre endgültige Grenze erreicht haben, wenn sie, ihres eigentlichen Sinnes nicht mehr eingedenk, in blinder Automatik zu wühlen fortfahren, jede immer weiter von der nächsten entfernt. Es kommt dann ein Zeitpunkt, da man den Eindruck gewinnt, daß die Wissenschaften nur zwecks Ernährung der Wissenschafter weiterexistieren."

Chargaff nimmt in seinem Essay direkten Bezug auf Kants "Prolegomena" und findet eine originelle Wendung für das Abgrenzungsproblem. Zunächst lenkt er die Betrachtungsweise weg von der Wissenschaft und spricht immer im Plural von den Wissenschaften. "Das enorme Anschwellen der Naturwissenschaften in unserer Zeit, der immer größer werdende Zustrom von Wissenschaftern, die Lawine von Publikationen, die eine Fülle von immer trivialer werdenden sogenannten Entdeckungen vermitteln: all dies hat den Charakter der Wissenschaften völlig verändert." Seine düstere Prognose: es wird "alles so weitergehen wie bisher, nur ärger", hat sich offenbar bestätigt.

Ebenso wie die Vermehrung von Forschungsprojekten kennt auch die Vermehrung der Wissenschaften durch immer weitere Spezialisierungen keine Grenzen. Chargaff geht daher auf "drei Arten von Grenzen" ein, die der "Anarchist" Feyerabend da und dort andeutet, aber nicht explizit ausführt: die konzeptionelle, finanzielle und moralische Grenze.

Konzeptionionell sieht Chargaff (im eingangs zitierten Essay) eine Vielfalt der Methoden. Damit folgt er der Forderung nach einem Ende des Methodenzwangs. Doch die Überfülle an Methoden führt zu moralisch fragwürdigen Folgen: "In unserer Zeit der Massenwissenschaften hat die Überfülle vorhandener Methoden nicht nur die Trivialisierung, sondern auch die irreversible Fragmentierung der wissenschaftlichen Erkenntnisse bewirkt. Heutzutage wird fast jedes Experiment zu einer Methode für die Nachahmer, so daß ein großer Teil aller Bestrebungen zu einer Art von banaler Analogieforschung degradiert wird." (Z, 201)

Die finanziellen Grenzen der Naturwissenschaften, illustriert er mit einem Beispiel aus der eigenen Forschungspraxis: zwei gleichartige und gleichwertige Untersuchungen kosteten 1975 etwa das 25-fache mehr als 35 Jahre davor. Die Überschreitung der "Grenzen der intellektuellen Rentabilität" haben auch das "mühsam erkämpfte Ideal der Forschungsfreiheit vernichtet. Mit wenigen Ausnahmen gibt es keine freie Forschung mehr".

Die moralischen Grenzen treten bei jedem Gebrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse auf, weil sie jederzeit auch zum Missbrauch führen können. "Die Welt scheint sich der Maxime unterworfen zu haben, welche lautet: Was getan werden kann, muß getan werden. Wenn eine Waffe gebaut werden kann, muß sie gebaut werden; [Anm HTH: Vergleiche Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen]kann sie angewandt werden, so muß man sie anwenden. Ein teuflischer Fatalismus gegenüber der Technokratie hat jede moralische oder legale Hemmung aufgehoben." Chargaffs moralische Mindestforderung lautet daher: "Die Naturwissenschaften sollen die Natur nicht denaturieren; sie sollen den Menschen nicht entmenschen."

Das pluralistische Verständnis der Wissenschaften öffnet auch die Tür zu den Geisteswissenschaften. Die Theorie eines Historikers - beispielsweise über den Widerruf Galileis vor der Inquisition - lässt sich durch Daten, vorwiegend historische Dokumente, bestätigen oder widerlegen - ist also im Sinne Poppers falsifizierbar. Doch die meisten geisteswissenschaftlichen Theorien unterliegen nicht der Falsifizierbarkeit, weil man gesellschaftliche Phänomene nicht in Experimenten wiederholen kann.


George Soros

Ein Schüler von Karl Popper, der berühmt-berüchtigte Börsenspekulant Geroge Soros, hat darauf mit der "Doktrin der Fehlbarkeit" reagiert. Demnach impliziert jede Gesellschaftstheorie (z.B. die Annahme, wie sich die Börsenkurse entwickeln werden) grundsätzlich die Faktoren Ungewissheit und Reflexivität. Ungewiss ist jede Theorie, weil jede "Sichtweise zwangsläufig verzerrt oder inkonsistent oder beides" ist. Reflexiv ist jede Theorie, in dem Sinne, dass nicht nur die Ereignisse auf die Theoriebildung Einfluss nehmen, sondern auch jede Theorie die Ereignisse beeinflusst. Reflexivität bedeutet demnach, dass Erkenntnisse sowohl kognitiv als auch manipulativ sind.

Soros entzieht sich selbstironisch der Falsifikation seiner "Doktrin" und verweist darauf, dass er als Philosoph gescheitert, aber als Spekulant erfolgreich gewesen sei: "Meine Auffassung der Reflexivität versetzte mich in die Lage, sowohl die Finanzkrise vorauszusagen als auch mit ihr zurechtzukommen, als sie eintrat." Ebenso ironisch könnte man darauf antworten: in Zeiten wie diesen findet sich immer irgendwo eine Finanzkrise, auf die eine Theorie (bzw Spekulation) zutrifft. Richtig und berechtigt ist jedenfalls der Hinweis darauf, dass die Naturwissenschaften (englisch: sciences) und die Geisteswissenschaften (englisch: arts) nicht nach den gleichen Methoden vorgehen können. Das Ergebnis des bestehenden "Methodenzwangs" zeigt sich besonders krass in der heutigen Medizin, die als Naturwissenschaft alles auf Messbarkeit reduziert hat. Nach oder durch Corona wurde der gesamte Bereich der Diagnostik, der eher eine Kunst als eine Wissenschaft ist, aus der Medizin verdrängt. Der schöne Begriff der "Heilkunst" ist in Vergessenheit geraten - aber das ist ein anderes Thema.


Resümee

Die Frage der Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft beschäftigt Generationen von Wissenschaftstheoretikern. Die Frage, was Wissenschaft leisten kann, hat Karl Popper aufbauend auf das philosophische Hauptwerk von Immanuel Kant für das 20. Jahrhundert neu beantwortet. Doch genauso wichtig ist die Frage, was Wissenschaften leisten sollen! Paul Feyerabend und Erwin Chargaff haben diese Frage gestellt und nicht systematisch, sondern essayistisch beantwortet. Im Sinne strenger wissenschaftlicher Methodologie beweisen sie damit nichts - ihre Essays sind aber trotzdem erhellend. Beide Vordenker lassen den alten Streit, ob wissenschaftliche Sätze durch Induktion (Rückschluss von Wirkungen auf ihre Ursachen, bzw von Thesen auf die beobachtbaren Gegenstände) oder Deduktion (Ableitung von Thesen oder Hypothesen von den beobachteten Gegenständen) zustande kommen, hinter sich und bringen moralische und ethische Aspekte ein.

Was ist der Unterschied zwischen Moral und Ethik? Jede Moral beantwortet die Frage: was soll ich tun (oder unterlassen)? Die Ethik beantwortet die Frage: warum soll ich etwas tun (oder unterlassen)? Die Ethik steht zur Moral so wie die Metaphysik zur Physik. So wie es viele Spezialgebiete der Physik gibt, aber nur eine Metaphysik (die als Wissenschaft auftreten kann), so gibt es auch viele Moralen (Sitten, Gewohnheiten, Verhaltensweisen), aber nur eine Ethik. Ein Wissenschafter kann ein Leben lang seiner Arbeit nachgehen, und die expliziten Regeln seines Fachgebietes ("Disziplin" ist ein Synonym, das die moralische Komponente eines Fachgebietes impliziert), sowie die impliziten Regeln seiner Arbeitsmoral befolgen. Er kann gewissenhaft seine Aufgaben erfüllen (in Beantwortung der Frage: was soll ich heute tun?), ohne ein einziges Mal die ethische Frage zu stellen: warum mache ich eigentlich was ich mache?

Wenn in manchen Bereichen "Ethik-Kommissionen" tätig werden, so beschränken sich diese meist auf die moralischen Fragen: was dürfen die Wissenschafter noch, was noch nicht und was nicht mehr erforschen? Die Frage, warum sie etwas dürfen oder unterlassen sollen, wird meist ausgeblendet oder unzureichend beantwortet. So werden Ethik-Kommissionen nur allzu oft zu einem moralischen Feigenblatt.

Die Wissenschafter haben sich an das Postulat gewöhnt, dass sie ihrer Arbeit "wertfrei" nachgehen müssen. Nietzsche hat dafür den Begriff a-moralisch geprägt, was nicht "unmoralisch" im konventionellen Sprachgebrauch bedeutet, sondern außer-moralisch. Wissenschaftliche Forschung steht "Jenseits von Gut und Böse". An die Stelle von Bewertungen im moralischen Sinne ist die Einhaltung von staatlichen Gesetzen und umfangreichen Regularien getreten. Anmerkung am Rande: die Forderung "a-moralisch" zu agieren, ist selbst moralisch; und Gewohnheit ist kein zureichender Grund, ein Postulat unkritisch zu übernehmen.

Wissenschafter müssen ihre Arbeit gut machen, um ihren Job zu behalten. Durch Ausschaltung der Moral hat man die Wissenschafter von der Frage befreit, ob ihre Arbeit gut oder schlecht ist. Im Mittelpunkt der Forschung soll nach dem gängigen Weltbild der Wissenschaften die Frage stehen, ob ein Forschungsergebnis richtig oder falsch ist. Sogar die Frage, ob eine Aussage wahr ist, wurde aus dem Diskurs eliminiert. Dies führte zu einem substanziellen wissenschaftlichen Manko, denn die Begriffe "wahr" und "richtig" unterscheiden sich nicht graduell, sondern prinzipiell. Durch die Eliminierung der Wahrheitsfrage aus den Wissenschaften wurden die Wissenschafter - im Sinne der Aufklärung - zu unmündigen Bürgern.

Der übliche Relativismus unserer Zeit reagiert auf die Wahrheitsfrage reflexartig mit der Aussage: es gibt keine Wahrheit. Heute lernt schon jedes Kind, dass die Wahrheit relativ ist und vom jeweiligen Standpunkt abhängt. Eine Folge dieses Paradigmas ist der Rückfall in die Zeit vor der Aufklärung. Glauben wird als primitive Vorform des Wissens verstanden, und Erkenntnis wird auf das Wissen beschränkt, das die Wissenschaften schaffen. Feyerabend bezeichnete diese Position, die - freilich subtiler formuliert - vom Wiener Kreis vertreten wurde, als "philosophischen Primitivismus".

"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung", schreibt Immanuel Kant in seinem Klassiker "Was ist Aufklärung? "Die positive (materielle) Welt ist nicht der Feind der Metaphysik. Jede Suche nach Wahrheit beginnt mit der Wahr-Nehmung der materiellen Welt, also der Wirklichkeit. Jedes Lebewesen nimmt die Welt auf seine Weise wahr. Der Mensch ist ein Lebewesen. Daher nimmt der Mensch die Welt auf seine Weise wahr. Aber im Unterschied zu allen anderen Lebewesen nimmt der Mensch, das was er sieht, hört, riecht und spürt nicht nur wahr, sondern auch für wahr. Die Wahr-Nehmung ist die primitivste Form der Wahrheit. Etwas für wahr nehmen ist der erste, unreflektierte Schritt der Wahrheitsfindung. Wie kam es dazu und wie entwickelten sich die Methoden der Wahrheitsfindung weiter? Die Antwort darauf findet sich in den Bibliotheken der Menschheit; und in dem einen Satz: weil Adam und Eva "vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse" gegessen hab. Diese Begründung ist völlig unwissenschaftlich, aber von einer tieferen Wahrheit.

Dem Vorwurf der mangelnden historischen Absicherung dieser Legende, dem schwachen empirischen Gehalt, weit weg von jeglicher Nachprüfbarkeit, könnte man entgegnen, der Wahrheitsgehalt sei evident. Die Evidenz liegt darin, dass die Werte Gut und Böse, Wahr und Falsch zwar theoretisch abgegrenzt und den "Fachgebieten" Ethik und Epistemologie zugeordnet werden können, in der Praxis jedoch immer zusammen gehören. Sie bilden eine natürliche Einheit im "Baum der Erkenntnis von Gut und Böse" (der als "Baum der Erkenntnis" in vielen Interpretationen verkürzt und damit verfälscht wurde). Die Ausgrenzung von Gut und Böse aus der Wissenschaft hat dazu geführt, dass diese Werte zwar weiterhin vorhanden sind, aber immer nur unterschwellig und deshalb intransparent bleiben. Die Forderung nach Offenheit (Thema des zweiten Hauptwerkes von Karl Popper) sollte auch für die Wissenschaften gelten.

In allen Kulturen, so auch in den Subkulturen der Wissenschaften gilt: wahr ist, was sich bewährt hat. Was sich bewährt hat, wird bewahrt. Bewährung und Bewahrung sind die moralischen Implikationen jeder wissenschaftlichen Wahrheit. Das ist natürlich keine definitive Antwort auf die Frage: was ist Wahrheit? Nach Kant ist Wahrheit die Übereinstimmung der Tatsachen mit den Gesetzen unseres Verstandes. Dies ist eine methodologische Definition. Die metaphysische Definition lautet: Wahrheit ist ein reiner Vernunftbegriff (ein Begriff a priori bzw. eine Idee). Ideen sind (wie bereits zitiert) „lauter reine Vernunftbegriffe, die in keiner Erfahrung gegeben werden können“.

Neben der Grundlagenforschung an den Universitäten sind heute große Teile der Wissenschaften an die Unternehmen und ihre F&E-Abteilungen (Forschung & Entwicklung) ausgelagert. Auch immer mehr Forschungsprojekte an den Universitäten werden im Auftrag von Unternehmen und somit in Erfüllung kommerzieller Interessen durchgeführt. EU-Projekte wiederum wecken oft den Eindruck, dass es nur noch darum geht Forschungsgelder zu lukrieren - nicht um konkrete Forschungsziele. Aus der wissenschaftlichen Praxis wurde die Wahrheitsfrage weitgehend eliminiert, weil es meist um praktische Anwendungen geht, die sich ökonomisch verwerten lassen.

Die Wissenschaften sind mit ihrem Relativismus, der heute sogar die ewigen Kontrahenten Rationalismus und Empirismus vereint hat, in die Fußstapfen von Friedrich Nietzsche getreten und haben in den vergangenen hundert Jahren zur Umwertung zahlreicher Werte beigetragen, zahlreiche Anschauungen relativiert, und sich weitgehend a-moralisch verhalten. Doch auf einen Wert wollte und konnte auch Nietzsche nie verzichten: die Redlichkeit. Redlich ist ein Wissenschafter dann, wenn er seine Werte, die nolens volens in seine Forschung einfließen, offen legt. Die Offenheit ist die Alternative zur Abgrenzung zwischen Ethik und Epistemologie, die gescheitert ist, weil es sich dabei um eine gewaltsame Ausgrenzung handelt.

Auch wenn die Spaltung zwischen Wissenschaft und sonstigen Formen der Erkenntnis weit fortgeschritten ist, so ist die Einheit von Gut/Böse und Wahr/Falsch ein Paradigma aller Zivilisationen dieser Welt, ein globales Paradigma. Paradigma könnte man als Meta-These bezeichnen, also eine These, die dutzende weitere Thesen inkludiert. Das ptolomäische war, das kopernikanische Weltbild ist ein Paradigma. Mit Hilfe von Galilei und vieler anderer Naturwisssenschafter seiner Zeit konnte der Paradigmenwechsel vollzogen werden.

Die grundsätzliche Fragestellung des Buches PELLETS lautet: welches Paradigma gilt im Biomasse-Streit? Diese Frage soll im Kapitel "Klimawandel, Energie und der Wald" durch die kritische Methode und fallweise anarchistische Interventionen beantwortet werden.