Was kann Wissenschaft leisten? - Resümee

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Resümee

Die Frage der Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft beschäftigt Generationen von Wissenschaftstheoretikern. Die Frage, was Wissenschaft leisten kann, hat Karl Popper aufbauend auf das philosophische Hauptwerk von Immanuel Kant für das 20. Jahrhundert neu beantwortet. Doch genauso wichtig ist die Frage, was Wissenschaften leisten sollen! Paul Feyerabend und Erwin Chargaff haben diese Frage gestellt und nicht systematisch, sondern essayistisch beantwortet. Im Sinne strenger wissenschaftlicher Methodologie beweisen sie damit nichts - ihre Essays sind aber trotzdem erhellend. Beide Vordenker lassen den alten Streit, ob wissenschaftliche Sätze durch Induktion (Rückschluss von Wirkungen auf ihre Ursachen, bzw von Thesen auf die beobachtbaren Gegenstände) oder Deduktion (Ableitung von Thesen oder Hypothesen von den beobachteten Gegenständen) zustande kommen, hinter sich und bringen moralische und ethische Aspekte ein.

Was ist der Unterschied zwischen Moral und Ethik? Jede Moral beantwortet die Frage: was soll ich tun (oder unterlassen)? Die Ethik beantwortet die Frage: warum soll ich etwas tun (oder unterlassen)? Die Ethik steht zur Moral so wie die Metaphysik zur Physik. So wie es viele Spezialgebiete der Physik gibt, aber nur eine Metaphysik (die als Wissenschaft auftreten kann), so gibt es auch viele Moralen (Sitten, Gewohnheiten, Verhaltensweisen), aber nur eine Ethik. Ein Wissenschafter kann ein Leben lang seiner Arbeit nachgehen, und die expliziten Regeln seines Fachgebietes ("Disziplin" ist ein Synonym, das die moralische Komponente eines Fachgebietes impliziert), sowie die impliziten Regeln seiner Arbeitsmoral befolgen. Er kann gewissenhaft seine Aufgaben erfüllen (in Beantwortung der Frage: was soll ich heute tun?), ohne ein einziges Mal die ethische Frage zu stellen: warum mache ich eigentlich was ich mache?

Wenn in manchen Bereichen "Ethik-Kommissionen" tätig werden, so beschränken sich diese meist auf die moralischen Fragen: was dürfen die Wissenschafter noch, was noch nicht und was nicht mehr erforschen? Die Frage, warum sie etwas dürfen oder unterlassen sollen, wird meist ausgeblendet oder unzureichend beantwortet. So werden Ethik-Kommissionen nur allzu oft zu einem moralischen Feigenblatt.

Die Wissenschafter haben sich an das Postulat gewöhnt, dass sie ihrer Arbeit "wertfrei" nachgehen müssen. Nietzsche hat dafür den Begriff a-moralisch geprägt, was nicht "unmoralisch" im konventionellen Sprachgebrauch bedeutet, sondern außer-moralisch. Wissenschaftliche Forschung steht "Jenseits von Gut und Böse". An die Stelle von Bewertungen im moralischen Sinne ist die Einhaltung von staatlichen Gesetzen und umfangreichen Regularien getreten. Anmerkung am Rande: die Forderung "a-moralisch" zu agieren, ist selbst moralisch; und Gewohnheit ist kein zureichender Grund, ein Postulat unkritisch zu übernehmen.

Wissenschafter müssen ihre Arbeit gut machen, um ihren Job zu behalten. Durch Ausschaltung der Moral hat man die Wissenschafter von der Frage befreit, ob ihre Arbeit gut oder schlecht ist. Im Mittelpunkt der Forschung soll nach dem gängigen Weltbild der Wissenschaften die Frage stehen, ob ein Forschungsergebnis richtig oder falsch ist. Sogar die Frage, ob eine Aussage wahr ist, wurde aus dem Diskurs eliminiert. Dies führte zu einem substanziellen wissenschaftlichen Manko, denn die Begriffe "wahr" und "richtig" unterscheiden sich nicht graduell, sondern prinzipiell. Durch die Eliminierung der Wahrheitsfrage aus den Wissenschaften wurden die Wissenschafter - im Sinne der Aufklärung - zu unmündigen Bürgern.

Der übliche Relativismus unserer Zeit reagiert auf die Wahrheitsfrage reflexartig mit der Aussage: es gibt keine Wahrheit. Heute lernt schon jedes Kind, dass die Wahrheit relativ ist und vom jeweiligen Standpunkt abhängt. Eine Folge dieses Paradigmas ist der Rückfall in die Zeit vor der Aufklärung. Glauben wird als primitive Vorform des Wissens verstanden, und Erkenntnis wird auf das Wissen beschränkt, das die Wissenschaften schaffen. Feyerabend bezeichnete diese Position, die - freilich subtiler formuliert - vom Wiener Kreis vertreten wurde, als "philosophischen Primitivismus".

"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung", schreibt Immanuel Kant in seinem Klassiker "Was ist Aufklärung? "Die positive (materielle) Welt ist nicht der Feind der Metaphysik. Jede Suche nach Wahrheit beginnt mit der Wahr-Nehmung der materiellen Welt, also der Wirklichkeit. Jedes Lebewesen nimmt die Welt auf seine Weise wahr. Der Mensch ist ein Lebewesen. Daher nimmt der Mensch die Welt auf seine Weise wahr. Aber im Unterschied zu allen anderen Lebewesen nimmt der Mensch, das was er sieht, hört, riecht und spürt nicht nur wahr, sondern auch für wahr. Die Wahr-Nehmung ist die primitivste Form der Wahrheit. Etwas für wahr nehmen ist der erste, unreflektierte Schritt der Wahrheitsfindung. Wie kam es dazu und wie entwickelten sich die Methoden der Wahrheitsfindung weiter? Die Antwort darauf findet sich in den Bibliotheken der Menschheit; und in dem einen Satz: weil Adam und Eva "vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse" gegessen hab. Diese Begründung ist völlig unwissenschaftlich, aber von einer tieferen Wahrheit.

Dem Vorwurf der mangelnden historischen Absicherung dieser Legende, dem schwachen empirischen Gehalt, weit weg von jeglicher Nachprüfbarkeit, könnte man entgegnen, der Wahrheitsgehalt sei evident. Die Evidenz liegt darin, dass die Werte Gut und Böse, Wahr und Falsch zwar theoretisch abgegrenzt und den "Fachgebieten" Ethik und Epistemologie zugeordnet werden können, in der Praxis jedoch immer zusammen gehören. Sie bilden eine natürliche Einheit im "Baum der Erkenntnis von Gut und Böse" (der als "Baum der Erkenntnis" in vielen Interpretationen verkürzt und damit verfälscht wurde). Die Ausgrenzung von Gut und Böse aus der Wissenschaft hat dazu geführt, dass diese Werte zwar weiterhin vorhanden sind, aber immer nur unterschwellig und deshalb intransparent bleiben. Die Forderung nach Offenheit (Thema des zweiten Hauptwerkes von Karl Popper) sollte auch für die Wissenschaften gelten.

In allen Kulturen, so auch in den Subkulturen der Wissenschaften gilt: wahr ist, was sich bewährt hat. Was sich bewährt hat, wird bewahrt. Bewährung und Bewahrung sind die moralischen Implikationen jeder wissenschaftlichen Wahrheit. Das ist natürlich keine definitive Antwort auf die Frage: was ist Wahrheit? Nach Kant ist Wahrheit die Übereinstimmung der Tatsachen mit den Gesetzen unseres Verstandes. Dies ist eine methodologische Definition. Die metaphysische Definition lautet: Wahrheit ist ein reiner Vernunftbegriff (ein Begriff a priori bzw. eine Idee). Ideen sind (wie bereits zitiert) „lauter reine Vernunftbegriffe, die in keiner Erfahrung gegeben werden können“.

Neben der Grundlagenforschung an den Universitäten sind heute große Teile der Wissenschaften an die Unternehmen und ihre F&E-Abteilungen (Forschung & Entwicklung) ausgelagert. Auch immer mehr Forschungsprojekte an den Universitäten werden im Auftrag von Unternehmen und somit in Erfüllung kommerzieller Interessen durchgeführt. EU-Projekte wiederum wecken oft den Eindruck, dass es nur noch darum geht Forschungsgelder zu lukrieren - nicht um konkrete Forschungsziele. Aus der wissenschaftlichen Praxis wurde die Wahrheitsfrage weitgehend eliminiert, weil es meist um praktische Anwendungen geht, die sich ökonomisch verwerten lassen.

Die Wissenschaften sind mit ihrem Relativismus, der heute sogar die ewigen Kontrahenten Rationalismus und Empirismus vereint hat, in die Fußstapfen von Friedrich Nietzsche getreten und haben in den vergangenen hundert Jahren zur Umwertung zahlreicher Werte beigetragen, zahlreiche Anschauungen relativiert, und sich weitgehend a-moralisch verhalten. Doch auf einen Wert wollte und konnte auch Nietzsche nie verzichten: die Redlichkeit. Redlich ist ein Wissenschafter dann, wenn er seine Werte, die nolens volens in seine Forschung einfließen, offen legt. Die Offenheit ist die Alternative zur Abgrenzung zwischen Ethik und Epistemologie, die gescheitert ist, weil es sich dabei um eine gewaltsame Ausgrenzung handelt.

Auch wenn die Spaltung zwischen Wissenschaft und sonstigen Formen der Erkenntnis weit fortgeschritten ist, so ist die Einheit von Gut/Böse und Wahr/Falsch ein Paradigma aller Zivilisationen dieser Welt, ein globales Paradigma. Paradigma könnte man als Meta-These bezeichnen, also eine These, die dutzende weitere Thesen inkludiert. Das ptolomäische war, das kopernikanische Weltbild ist ein Paradigma. Mit Hilfe von Galilei und vieler anderer Naturwisssenschafter seiner Zeit konnte der Paradigmenwechsel vollzogen werden.

Die grundsätzliche Fragestellung des Buches PELLETS lautet: welches Paradigma gilt im Biomasse-Streit? Diese Frage soll im Kapitel "Klimawandel, Energie und der Wald" durch die kritische Methode und fallweise anarchistische Interventionen beantwortet werden.