Was kann Wissenschaft leisten? - Erwin Chargaff

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Erwin Chargaff

Eine indirekte Antwort findet man aber bei Erwin Chargaff in seinen "Bemerkungen über die Grenzen der Naturwissenschaft" (publiziert 1977 in der Zeitschrift "Scheidewege"): "Es gibt Grenzen der intellektuellen Rentabilität. [...] In mancher Beziehung könnte man sagen, daß die Naturwissenschaften ihre endgültige Grenze erreicht haben, wenn sie, ihres eigentlichen Sinnes nicht mehr eingedenk, in blinder Automatik zu wühlen fortfahren, jede immer weiter von der nächsten entfernt. Es kommt dann ein Zeitpunkt, da man den Eindruck gewinnt, daß die Wissenschaften nur zwecks Ernährung der Wissenschafter weiterexistieren."

Chargaff nimmt in seinem Essay direkten Bezug auf Kants "Prolegomena" und findet eine originelle Wendung für das Abgrenzungsproblem. Zunächst lenkt er die Betrachtungsweise weg von der Wissenschaft und spricht immer im Plural von den Wissenschaften. "Das enorme Anschwellen der Naturwissenschaften in unserer Zeit, der immer größer werdende Zustrom von Wissenschaftern, die Lawine von Publikationen, die eine Fülle von immer trivialer werdenden sogenannten Entdeckungen vermitteln: all dies hat den Charakter der Wissenschaften völlig verändert." Seine düstere Prognose: es wird "alles so weitergehen wie bisher, nur ärger", hat sich offenbar bestätigt.

Ebenso wie die Vermehrung von Forschungsprojekten kennt auch die Vermehrung der Wissenschaften durch immer weitere Spezialisierungen keine Grenzen. Chargaff geht daher auf "drei Arten von Grenzen" ein, die der "Anarchist" Feyerabend da und dort andeutet, aber nicht explizit ausführt: die konzeptionelle, finanzielle und moralische Grenze.

Konzeptionionell sieht Chargaff (im eingangs zitierten Essay) eine Vielfalt der Methoden. Damit folgt er der Forderung nach einem Ende des Methodenzwangs. Doch die Überfülle an Methoden führt zu moralisch fragwürdigen Folgen: "In unserer Zeit der Massenwissenschaften hat die Überfülle vorhandener Methoden nicht nur die Trivialisierung, sondern auch die irreversible Fragmentierung der wissenschaftlichen Erkenntnisse bewirkt. Heutzutage wird fast jedes Experiment zu einer Methode für die Nachahmer, so daß ein großer Teil aller Bestrebungen zu einer Art von banaler Analogieforschung degradiert wird." (Z, 201)

Die finanziellen Grenzen der Naturwissenschaften, illustriert er mit einem Beispiel aus der eigenen Forschungspraxis: zwei gleichartige und gleichwertige Untersuchungen kosteten 1975 etwa das 25-fache mehr als 35 Jahre davor. Die Überschreitung der "Grenzen der intellektuellen Rentabilität" haben auch das "mühsam erkämpfte Ideal der Forschungsfreiheit vernichtet. Mit wenigen Ausnahmen gibt es keine freie Forschung mehr".

Die moralischen Grenzen treten bei jedem Gebrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse auf, weil sie jederzeit auch zum Missbrauch führen können. "Die Welt scheint sich der Maxime unterworfen zu haben, welche lautet: Was getan werden kann, muß getan werden. Wenn eine Waffe gebaut werden kann, muß sie gebaut werden; [Anm HTH: Vergleiche Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen]kann sie angewandt werden, so muß man sie anwenden. Ein teuflischer Fatalismus gegenüber der Technokratie hat jede moralische oder legale Hemmung aufgehoben." Chargaffs moralische Mindestforderung lautet daher: "Die Naturwissenschaften sollen die Natur nicht denaturieren; sie sollen den Menschen nicht entmenschen."

Das pluralistische Verständnis der Wissenschaften öffnet auch die Tür zu den Geisteswissenschaften. Die Theorie eines Historikers - beispielsweise über den Widerruf Galileis vor der Inquisition - lässt sich durch Daten, vorwiegend historische Dokumente, bestätigen oder widerlegen - ist also im Sinne Poppers falsifizierbar. Doch die meisten geisteswissenschaftlichen Theorien unterliegen nicht der Falsifizierbarkeit, weil man gesellschaftliche Phänomene nicht in Experimenten wiederholen kann.