GWF: Georg Wilhelm Friedrich Hegel - Dialektik der Welle

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Dialektik der Welle

Die Welle ist an und für sich, indem und dadurch dass sie für ein Anderes an und für sich ist; d.h. sie ist nur als ein Anerkanntes. Der Begriff dieser ihrer Einheit in ihrer Verdopplung, des sich in der Welle realisierenden Meeres, ist eine vielseitige und vieldeutige Verschränkung, so dass die Momente derselben teils genau auseinandergehalten, teils in dieser Unterscheidung zugleich auch als nicht unterschieden oder immer in ihrer entgegengesetzten Bedeutung genommen und erkannt werden müssen. Die Doppelsinnigkeit des Unterschiedenen liegt in dem Wesen der Welle, unendlich oder unmittelbar das Gegenteil der Bestimmtheit, in der sie gesetzt ist, zu sein. [...] Die Bewegung ist für die Welle eine andere Welle; sie ist außer sich gekommen. Dies hat die gedoppelte Bedeutung: erstlich, sie hat sich selbst verloren, denn sie findet sich als andere Welle; zweites, sie hat damit die Andere aufgehoben, denn sie sieht auch nicht die Andere als Welle, sondern sich selbst in der Anderen. Sie muss dies ihr Anderssein aufheben; dies ist das Aufheben des ersten Doppelsinnes und darum selbst ein zweiter Doppelsinn; erstlich, sie muss darauf gehen, die andere selbstständige Welle aufzuheben, um dadurch ihrer als Welle gewiss zu werden; zweitens geht sie hiermit darauf, sich selbst aufzuheben, denn die Andere ist sie selbst.

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Wer Hegel gelesen hat, wird sofort den unverwechselbaren Duktus des Titanen der Philosophiegeschichte, des Riesen des deutschen Idealismus erkennen. Wer Hegel wirklich gelesen hat, wird vielleicht negieren, dass es sich um Worte eines Titanen handelt. Wer jedoch zur Negation der Negation fortschreitet, der kann zur Gewissheit gelangen, wenn er folgende Absätze liest:

"Das Selbstbewusstsein ist an und für sich, indem und dadurch dass ses für ein Anderes an und für sich ist; d.h. es ist nur als ein Anerkanntes. Der Begriff dieser seiner Einheit in seiner Verdopplung, der sich im Selbstbewusstsein realisierenden Unendlichkeit, ist eine vielseitige und vieldeutige Verschränkung, so dass die Momente derselben teils genau auseinandergehalten, teils in dieser Unterscheidung zugleich auch als nicht unterschieden oder immer in ihrer entgegengesetzten Bedeutung genommen und erkannt werden müssen. Die Doppelsinnigkeit des Unterschiedenen liegt in dem Wesen des Selbstbewusstseins, unendlich oder unmittelbar das Gegenteil der Bestimmtheit, in der es gesetzt ist, zu sein. [Die Auseinanderlegung des Begriffs dieser geistigen Einheit in ihrer Verdopplung stellt uns die Bewegung des Anerkennens dar.] Es ist für das Selbstbewusstsein ein anderes Selbstbewusstsein; es ist außer sich gekommen. Dies hat die gedoppelte Bedeutung: erstlich, es hat sich selbst verloren, denn es findet sich als ein anderes Wesen; zweites, es hat damit das Andere aufgehoben, denn sie sieht auch nicht die Andere als Wesen, sondern sich selbst im Anderen. Es muss dies sein Anderssein aufheben; dies ist das Aufheben des ersten Doppelsinnes und darum selbst ein zweiter Doppelsinn; erstlich, es muss darauf gehen, das andere selbstständige Wesen aufzuheben, um dadurch seiner als des Wesens gewiss zu werden; zweitens geht es hiermit darauf, sich selbst aufzuheben, denn dies Andere ist es selbst."

Dies sind - lediglich der neuen Rechtschreibung angepasste - authentische Zitate aus dem Kapitel "Herrschaft und Knechtschaft" der "Phänomenologie des Geistes" (145 f). In der kleinen Verfremdung zu Beginn dieses Essays entäußert sich der Geist Hegels in seiner Doppelsinnigkeit; erstlich ist dieser Text eine Satire, die die Beliebigkeit der Begriffe in Hegels System offenbart; zweitens ist dieser Text die Anerkennung der Genialität Hegels und der Beweis, dass die Begriffe Hegels in ihrer Allgemeinheit immer auch das Einzelne (was immer das sein mag) zum Ausdruck bringen.

Berlin, wo Hegel zuletzt gelehrt und gelebt hat, ist nicht nur bekannt für das Brandenburger Tor, sondern auch für seine Badeseen. Ich selbst bin darin geschwommen. Wie neueste Satellitenaufnahmen bestätigen, handelt es sich dabei um die Fußstapfen des größten aller Titanen der Philosophie, die durch das historische Hochwasser der Spree im Jahr 1831 geflutet wurden. So ist es kein Zufall, dass nach einem Bade im Wannsee folgender Tractatus entstanden ist.

Die Phänomenologie der Welle

Jede Welle an sich ist Bewegung, die den Betrachter in Erwartung und Spannung versetzt, sich jedoch in schale Erinnerung verflüchtigt, sobald sie gestrandet ist, im Sandstrand versickert und sanft in das Meer zurück fließt, oder an Felsen bricht und schäumend abprallt.

Die Welle ist mehr als nur die Oberflächenform des Meeres. Die Welle als einzelne ist niemals und nirgends, sie ist nicht hier und nicht jetzt. Sie ist immer und überall hier gewesen und jetzt gewesen, bis sie auf ein Ufer trifft, wo sie ihre endgültige Form erreicht, aber nicht mehr Welle ist. Das Schicksal der Welle ist damit nicht besiegelt, denn auf eine Welle folgt die nächste und wieder die nächst und so weiter und so fort solange der Wind weht. Die Negation der Welle ist somit nicht das Ufer, an dem sie ausläuft oder abprallt, sondern der Wind, der weht oder nicht weht, stark oder schwach.

"Die reine allgemeine Bewegung, das absolute Flüssigwerden alles Bestehens, ist aber das einfache Wesen der Welle, die absolute Negativität, das reine Fürsichsein, das hiermit an dieser Welle ist." (Phänomenologie, 153)

Die Lektüre von Hegels Werken ist wie Wellenreiten. Alles, was du auf der Welle empfindest, ist die Energie der Welle; du bist eins mit der Welle, die Welle ist eins mit der Kraft des Meeres. Die Oberflächenspannung der Welle ist eins mit der Anspannung deines Körpers. Auf der Welle finden die allgemeinen Begriffe Bewegung und Balance, Konzentration und Kraft, Anspannung und Entspannung in dir zu sich. Du bist Teil der Welle als Part und Widerpart. Welle und Körper als Einheit lenken das Wellenbrett in eine Richtung, in die einzig mögliche Richtung. Das Ergebnis ist erlebte Freiheit. Doch die erlebte Freiheit ist keine gelebte Freiheit. Du verfügst lediglich über die Freiheit, die Welle zu beherrschen, die dich beherrscht.

Alles, was du auf der Welle und durch die Welle gelernt hast, wird dir nicht helfen, wenn du dich im Auf und Ab deines Lebens, im Alltag, in deinem Beruf zurechtfinden musst oder durch das Internet surfst, wenn du deine Familie, Freunde oder Feinde besser verstehen willst oder auch nur, wenn du dich durch die Massen einer Fußgängerzone schlängeln musst. Aber mit großer Wahrscheinlichkeit wirst du, hegelianischer Wellenreiter, nicht so leicht auf Glatteis ausrutschen. Im wirklichen Leben aber kommt es darauf an, sich nicht auf's Glatteis führen zu lassen.

Wellenreiten ist eine Bewegung sui generis. Dasselbe gilt für die Lektüre von Hegel: sie kann dich in ihren Bann ziehen, deinen Geist in Hochspannung versetzten, doch die Einzelheiten verschwimmen in schaler Erinnerung, sobald du das Buch schließt und das Allgemeine in einem Begriffe sich auf dem Buchdeckel offenbart: Phänomenologie, Logik, Wissenschaft, Ästhetik, Philosophie.

P.S. Auch ein Wasserfall, egal wie hoch, schlägt Wellen. Doch das ist ein anderes Thema, denn die Welle eines Wasserfalls entäußert sich als Sprudel, Schaum und Strudel; als solche ist diese Welle Einzelfall von allem, was der Fall ist.