Politische Ästhetik / Journalismus / Medienkritik
27. Februar 2024 - Die Fastenzeit ist noch lange nicht zu Ende, aber das Opferlamm des Jahres 2024 wurde schon geschlachtet: Der Heilige Sebastian, bekannt als ehemaliger Bundeskanzler Kurz. Hat doch tatsächlich der Richter Michael Radasztics in erster Instanz festgestellt, es gebe keinen Zweifel, dass Kurz und Bonelli im Ibiza-Untersuchungsausschuss 2020 bewusst falsch ausgesagt haben. Urteil: bedingte Freiheitsstrafe von acht Monaten.
Dieses Urteil fiel am Freitag, 23. Februar. Es hat keine zwei Tage gedauert, bis die Medien voll waren von Interviews, die vor Selbstmitleid des Ex-Kanzlers troffen. "Das hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun", jammerte er in der Kleinenzeitung.at (25.2.2024)
Abgesehen davon, dass eine bedingte Strafe keine Hinrichtung ist, stehen dem "Opferlamm" noch weitere Instanzen offen. Jedenfalls kann der ehemalige Strahlemann, Senkrechtstarter und Spitzenkandidat ohne Skrupel, aber mit bester Qualifikation im Fach Mobbing, nicht behaupten, dass er Opfer einer Medienkampagne geworden sei. Ganz im Gegenteil: die Massenmedien fassen ihn immer noch mit Samthandschuhen an.
Beispiele dafür liefert eine gemäßigte Tageszeitung, die sich selbst wohl in der Reihe der Qualitätsmedien einreihen würde: SN, die Salzburger Nachrichten.
23.2.2024 - Bericht über eine ganze Seite. Titel: Kurz wartet auf sein Urteil. Foto: Bastis visionärer Blick in die Zukunft. UT: Nun dürfte im Falschaussage-Prozess gegen Ex-Kanzler Kurz ein Urteil fallen. Wie der Prozess ausgehen könnte.
24.2.2024 - Bericht über eine ganze Seite. Titel: Da stockte Kurz der Atem. Fotos: "Verlegener Ex-Kanzler, argwöhnischer Richter" [SN Original-Bildtext]. UT: Das Finale im Falschaussage-Prozess gegen Ex-Kanzler Sebastian Kurz zog sich endlos hin. [Anm.:über das Urteil konnte die Printausgabe nicht berichten, weil es nach dem Redaktionsschluss verkündet wurde.]
26.2.2024 - Bericht halbseitig. Titel: Kurz-Urteil: Wie geht's weiter? Foto: "Wenn Combeback, dann in weiter Ferne: Sebastian Kurz und sein früherer Kabinettschef Bonelle beim Verlassen des Gerichts" [SN Original-Bildtext]. UT: Die Nicht rechtskräftige Verurteilung von Altkanzler Kurz wirft Schatten auf die ÖVP im Wahljahr. Zugleich festigte sie aber die Position von ÖVP-Chef Nehammer, sagt eine Parteikennerin. [Anm.: Über das Urteil erfährt der Leser auch in diesem Artikel kein Wort. SN-Redakteure gehen offenbar davon aus, dass Leser der "Qualitätszeitung" derartig weltbewegende Fakten schon wissen müssen und mit solch nebensächlichen Details nicht weiter behelligt werden wollen. RICHTIGSTELLUNG 28.2.24: In Spalte 1, letzter Absatz findet sich die Auskunft: "Er wurde zu acht Monaten bedingerer Haft verurteilt",]
Kommentar ethos.at: Dass eine Zeitung an einem Freitag so wenig zu berichten hat, dass sie eine Seite darüber spekulieren muss, wie das Urteil über einen einfachen Bürger, der in keiner politischen Funktion tätig ist, ausfällt, ist nicht anzunehmen. Anzunehmen ist vielmehr, dass die SN diese Nicht-Nachricht für wichtig hält! Der Umfang eines Artikels ist bei einer gedruckten Zeitung immer Maßstab für "Wichtigikeit" eines Themas. Die Qualität der Berichterstattung beginnt nicht erst bei der Ausgewogenheit in einem Bericht selbst, sondern bei der Ausgewogenheit der Auswahl von Themen. In beiden Bereichen hat die SN am Freitag und an den beiden Folgetagen versagt. Das Prädikat "Qualitätszeitung" verdient ein Medium mit so einer Berichterstattung nicht.
GEGENDARSTELLUNG der SN Salzburger Nachrichten
danke für Ihre Zusendung. Ihre Hinweise sind unvollständig bzw. falsch. Der kritisierte Beitrag am Freitag umfasst alle Möglichkeiten eines Urteils, alle Fakten zum Prozess, alle wesentlichen handelnden Personen, sodass sich die Leserinnen und Leser am Tag der Urteilsverkündung noch einmal ein umfassendes Bild machen konnten. Das um 19 Uhr verkündete Urteil selbst haben wir selbstverständlich in der Salzburg-Ausgabe umfangreich in allen Facetten dargestellt. Titel der Seite 3: Falschaussage, Kurz verurteilt. Auch der dritte von Ihnen angeführte Beitrag enthält ganz klar die Aussage, dass Sebastian Kurz zu acht Monaten bedingt verurteilt worden ist, sein Kabinettschef zu sechs Monaten bedingt. Wir haben zudem rund um die Uhr und sehr ausführlich und faktentreu online kommuniziert. Ich kann daher leider nicht nachvollziehen, worin ein Fehlverhalten der SN gelegen haben soll. Im Gegenteil: ich muss Sie bitten, die falsche Darstellung in Ihrer Auflistung zu korrigieren.
Herzlich, Manfred Perterer, Chefredakteur SN
27.2.2024 - SN NACHSATZ (Bericht halbseitig): "Alte Verbundenheit: Die ÖVP übernimmt die Anwaltskosten für Altkanzler Kurz. Das besagt ein ÖVP-Beschluss, der für alle hohen oder ehemals hohen Funktionäre gilt. Aber nicht für Kabinettsmitarbeiter."