Spengler Oswald: Der Untergang des Abendlandes - Einleitung

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Einleitung

Die Arbeit an seinem 1470 Seiten umfassenden Monumentalwerk hat Oswald Spengler ein paar Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges begonnen. Es besteht aus zwei Bänden: Teil 1 (erschienen 1918 bei Braumüller, Wien) Gestalt und Wirklichkeit; Teil 2 (erschienen 1922 bei C.H. Beck, München) Welthistorische Perspektiven. Allein die Einleitung umfasst 80 Seiten. Hier stellt der Autor seine geschichtsphilosophische Konzeption vor, ausgehend von der Frage: „Gibt es eine Logik der Geschichte?“ (23)

Spengler erweitert und präzisiert die Fragestellung: „Gibt es jenseits von allem Zufälligen und Unberechenbaren der Einzelereignisse eine sozusagen metaphysische Struktur der historischen Menschheit, die von den weithin sichtbaren, populären, geistig-politischen Gebilden der Oberfläche wesentlich unabhängig ist? Die diese Wirklichkeit geringeren Ranges vielmehr erst hervorruft? Erscheinen die großen Züge der Weltgeschichte dem verstehenden Auge vielleicht immer wieder in einer Gestalt, die Schlüsse zuläßt? Und wenn – wo liegen die Grenzen derartiger Folgerungen? Ist es möglich, im Leben selbst – denn menschliche Geschichte ist der Inbegriff von ungeheuren Lebensläufen, als deren Ich und Person schon der Sprachgebrauch unwillkürlich Individuen höherer Ordnung wie »die Antike«, »die chinesische Kultur« oder »die moderne Zivilisation« denkend und handelnd einführt – die Stufen aufzufinden, die durchschritten werden müssen, und zwar in einer Ordnung, die keine Ausnahme zuläßt? Haben die für alles Organische grundlegenden Begriffe, Geburt, Tod, Jugend, Alter, Lebensdauer, in diesem Kreise vielleicht einen strengen Sinn, den noch niemand erschlossen hat? Liegen, kurz gesagt, allem Historischen allgemeine biographische Urformen zugrunde?“ (23 f) [Hervorhebungen ethos.at]

Die positiven Antworten sind in allen einzelnen Fragen bereits vorweggenommen, als Axiome seiner Philosophie. Nur eine Frage bleibt zunächst offen: „wo liegen die Grenzen derartiger Folgerungen?“ Doch er liefert auch dafür die Antwort: „die für alles Organische grundlegenden Begriffe, Geburt, Tod, Jugend, Alter, Lebensdauer“, also die Betrachtung der Geschichte als lebenden Organismus – das ist die Grenze des Chronos der Geschichtsschreibung, die sich damit vom Kosmos der Natur unterscheidet: „Das Mittel, tote Formen zu erkennen, ist das mathematische Gesetz. Das Mittel, lebendige Formen zu verstehen, ist die Analogie. Auf diese Weise unterscheiden sich Polarität und Periodizität der Welt.“ (24) Natur und Geschichte stehen nicht in Widerspruch; der Mensch ist Glied der Natur ebenso wie Glied der Geschichte.

Spengler sieht den häufigsten Fehler der Historiker darin, dass sie Ereignisse (Erscheinungen) nach dem (naturwissenschaftlichen) Kausalitätsprinzip darstellen; dies sei „nichts als ein Stück verkappter Naturwissenschaft“. (28) Auch jene Historiker, die einzelne Analogien unterschiedlicher Epochen auf gut Glück gefunden haben, bleiben auf halbem Weg stehen. In einer Fußnote merkt er an: „Neben dem Physiker und Mathematiker wirkt der Historiker nachlässig, sobald er von der Sammlung und Ordnung seines Materials zur Deutung übergeht.“ (30)

Zum Verständnis der Natur gebrauchen Wissenschafter die mathematische Zahl (zur Messung des Was und Wieviel), zum Verständnis der Geschichte brauchen Historiker die chronologische Zahl (zur Auskunft über das Wann). „Die Mathematik und das Kausalitätsprinzip führen zu einer naturhaften, die Chronologie und die Schicksalsidee zu einer historischen Ordnung der Erscheinung. Beide Ordnungen umfassen, jede für sich, die ganze Welt. Nur das Auge, in dem und durch das sich diese Welt verwirklicht, ist ein anderes.“ (31) Schicksal ist für Spengler kein Synonym für Zufall, ganz im Gegenteil: Unser Schicksal ist notwendig, so wie die natürliche Entwicklung eines Organismus, von der Geburt bis zum Tod. Das gilt für den Menschen ebenso wie für das „Menschentum“, insbesondere die „Geschichte des höheren Menschentums.“ (97)

Nochmals in anderen Worten: „Natur ist die Gestalt, unter welcher der Mensch hoher Kulturen den unmittelbaren Eindrücken seiner Sinne Einheit und Bedeutung gibt. Geschichte ist diejenige, aus welcher seine Einbildungskraft das lebendige Dasein der Welt in bezug auf das eigene Leben zu begreifen und diesem damit eine vertiefte Wirklichkeit zu verleihen sucht. Ob er dieser Gestaltungen fähig ist und welche von ihnen sein waches Bewußtsein beherrscht, das ist eine Urfrage aller menschlichen Existenz.“ (31) „Die Geschichte trägt das Merkmal des Einmalig-tatsächlichen, die Natur des Ständig-möglichen. (276)

Den Begriff „Weltgeschichte“ differenziert Spengler. Einerseits ist es die europäische Sicht auf die Welt seit Zeiten des Kolonialismus, oder auch das Bild anderer Kulturen auf ihre eigene Welt, anderseits ist es das „öde Bild“ einer linienförmigen Weltanschauung, der ein „zoologischer Begriff“ von „Menschheit“ zugrunde liegt. „Aber »die Menschheit« hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig wie die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat. »Die Menschheit« ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort.»Die Menschheit? Das ist ein Abstraktum. Es hat von jeher nur Menschen gegeben und wird nur Menschen geben« (Goethe zu Luden).“ (53)

Das „Menschentum“ dagegen ist ein lebendiger Organismus, und so wie jeder Organismus zeitlich und örtlich begrenzt. Fast romantisch schwärmerisch schreibt Spengler: „Ich sehe statt jenes öden Bildes einer linienförmigen Weltgeschichte, das man nur aufrecht erhält, wenn man vor der überwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schließt, das Schauspiel einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoße einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, aufblühen, von denen jede ihrem Stoff, dem Menschentum, ihre eigne Form aufprägt, von denen jede ihre eigne Idee, ihre eignen Leidenschaften, ihr eignes Leben, Wollen, Fühlen, ihren eignen Tod hat. Hier gibt es Farben, Lichter, Bewegungen, die noch kein geistiges Auge entdeckt hat. Es gibt aufblühende und alternde Kulturen, Völker, Sprachen, Wahrheiten, Götter, Landschaften, wie es junge und alte Eichen und Pinien, Blüten, Zweige und Blätter gibt, aber es gibt keine alternde »Menschheit«. Jede Kultur hat ihre neuen Möglichkeiten des Ausdrucks, die erscheinen, reifen, verwelken und nie wiederkehren. Es gibt viele, im tiefsten Wesen völlig voneinander verschiedene Plastiken, Malereien, Mathematiken, Physiken, jede von begrenzter Lebensdauer, jede in sich selbst geschlossen, wie jede Pflanzenart ihre eigenen Blüten und Früchte, ihren eignen Typus von Wachstum und Niedergang hat. Diese Kulturen, Lebewesen höchsten Ranges, wachsen in einer erhabenen Zwecklosigkeit auf wie die Blumen auf dem Felde. Sie gehören, wie Pflanzen und Tiere, der lebendigen Natur Goethes, nicht der toten Natur Newtons an.“ (53 f)

Weiter unten ergänzt Spengler: „Ich erinnere an Goethe. Was er die lebendige Natur genannt hat, ist genau das, was hier Weltgeschichte im weitesten Umfange, die Welt als Geschichte genannt wird. Goethe, der als Künstler wieder und immer wieder das Leben, die Entwicklung seiner Gestalten, das Werden, nicht das Gewordene, herausbildete, wie es der »Wilhelm Meister« und »Wahrheit und Dichtung« zeigen, haßte die Mathematik. Hier stand die Welt als Mechanismus der Welt als Organismus, die tote der lebendigen Natur, das Gesetz der Gestalt gegenüber. Jede Zeile, die er als Naturforscher schrieb, sollte die Gestalt des Werdenden, »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«, vor Augen stellen. Nachfühlen, Anschauen, Vergleichen, die unmittelbare innere Gewißheit, die exakte sinnliche Phantasie – das waren seine Mittel, dem Geheimnis der bewegten Erscheinung nahe zu kommen. Und das sind die Mittel der Geschichtsforschung überhaupt.“ (60)

In einer Fußnote verstärkt er diesen Gedanken emphatisch: „An folgendem Ausspruch möchte ich nicht ein Wort geändert wissen: »Die Gottheit ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Toten; sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten. Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Göttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu tun, der Verstand mit dem Gewordenen, Erstarrten, dass er es nutze« (zu Eckermann). Dieser Satz enthält meine ganze Philosophie.“ (100)

Kulturen als „Lebewesen höchsten Ranges“ sind von Zivilisationen zu unterscheiden. Beide Begriffe werden von vielen Historikern nicht scharf unterschieden, für Spengler aber ist klar: „Der Untergang des Abendlandes, so betrachtet, bedeutet nichts Geringeres als das Problem der Zivilisation. Eine der Grundfragen aller höheren Geschichte liegt hier vor. Was ist Zivilisation, als organisch-logische Folge, als Vollendung und Ausgang einer Kultur begriffen?

Denn jede Kultur hat ihre eigne Zivilisation. Zum ersten Male werden hier die beiden Worte, die bis jetzt einen unbestimmten Unterschied ethischer Art zu bezeichnen hatten, in periodischem Sinne, als Ausdrücke für ein strenges und notwendiges organisches Nacheinander gefaßt. Die Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal einer Kultur. Hier ist der Gipfel erreicht, von dem aus die letzten und schwersten Fragen der historischen Morphologie lösbar werden. Zivilisationen sind die äußersten und künstlichsten Zustände, deren eine höhere Art von Menschen fähig ist. Sie sind ein Abschluß;“ (70)

Der Untergang des Abendlandes, zunächst ein örtlich und zeitlich beschränktes Phänomen wie das ihm entsprechende des Untergangs der Antike, ist, wie man sieht, ein philosophisches Thema, das in seiner ganzen Schwere begriffen alle großen Fragen des Seins in sich schließt.“ (24) Am Ende der Einleitung präzisiert Spengler, was er mit allen „großen Fragen des Seins“ meint:

„Es bleibt noch das Verhältnis einer Morphologie der Weltgeschichte zur Philosophie festzustellen. Jede echte Geschichtsbetrachtung ist echte Philosophie – oder bloße Ameisenarbeit. Aber der systematische Philosoph bewegt sich, was die Dauer seiner Ergebnisse betrifft, in einem schweren Irrtum. Er übersieht die Tatsache, daß jeder Gedanke in einer geschichtlichen Welt lebt und damit das allgemeine Schicksal der Vergänglichkeit teilt. Er meint, daß das höhere Denken einen ewigen und unveränderlichen Gegenstand besitze, daß die großen Fragen zu allen Zeiten dieselben seien und daß sie endlich einmal beantwortet werden könnten.“ (86 f) Daraus folgt: „Jede Philosophie ist ein Ausdruck ihrer und nur ihrer Zeit.“ (87)

„Deshalb sehe ich den Prüfstein für den Wert eines Denkers in seinem Blick für die großen Tatsachen seiner Zeit. Erst hier entscheidet es sich, ob jemand nur ein geschickter Schmied von Systemen und Prinzipien ist, ob er sich nur mit Gewandtheit und Belesenheit in Definition und Analysen bewegt – oder ob es die Seele der Zeit selbst ist, die aus seinen Werken und Intuitionen redet. Ein Philosoph, der nicht auch die Wirklichkeit ergreift und beherrscht, wird niemals ersten Ranges sein.“ (88)

Zusammengefasst: Die Einleitung klärt die Schlüsselbegriffe, die für das Verständnis von Oswald Spengler von Bedeutung sind:

+ Geschichte im Unterschied zur Natur

+ der Mensch als Glied beider Betrachtungsweisen

+ die Logik der Geschichte folgt den für alles Organische grundlegenden Begriffen Geburt, Tod, Jugend, Alter, Lebensdauer.

+ mathematische (naturwissenschaftliche) versus chronologische (historische) Zahl

+ Weltgeschichte als Geschichte der Welt unterschiedlicher (zeitlich und räumlich beschränkter) Kulturen, nicht als lineare Aneinanderreihung historischer Ereignisse.

+ Zivilisation als Endstufe einer Kultur, die notwendig diese Entwicklungsstufe erreicht. Untergang bedeutet Vollendung, Vollendung bedeutet Ende.

+ Morphologie: Darstellung der Geschichte als organische Einheit von regelmäßiger Struktur. Auch: Physiognomik der Geschichte im Unterschied zur Systematik der Natur, Schicksalsidee versus Kausalitätsprinzip

+ echte Geschichtsbetrachtung ist echte Philosophie