Musil Robert: Der Mann ohne Eigenschaften - Über Europa

Beitragsseiten

Das hilflose Europa

oder: Reise vom Hundertsten ins Tausendste

[1922] Zitiert aus dem Projekt Gutenberg

Der Autor ist bescheidener und weniger hilfsbereit als der Titel glauben macht. Ich bin nicht nur überzeugt, daß das, was ich sage, falsch ist, sondern auch das, was man dagegen sagen wird. Trotzdem muß man anfangen, davon zu reden; die Wahrheit liegt bei einem solchen Gegenstand nicht in der Mitte, sondern rundherum wie ein Sack, der mit jeder neuen Meinung, die man hineinstopft, seine Form ändert, aber immer fester wird.

1

Ich beginne mit einem Symptom.

Zweifellos machen wir seit zehn Jahren Weltgeschichte im grellsten Stil und können es doch eigentlich nicht wahrnehmen. Wir sind nicht eigentlich geändert worden; ein bißchen Überhebung vordem, ein bißchen Katzenjammer nachdem; wir waren früher betriebsame Bürger, sind dann Mörder, Totschläger, Diebe, Brandstifter und ähnliches geworden: und haben doch eigentlich nichts erlebt. Oder ist es nicht so? Das Leben geht doch genau so dahin wie früher, bloß etwas geschwächter und mit etwas Krankenvorsicht; der Krieg wirkte mehr karnevalisch als dionysisch, und die Revolution hat sich parlamentarisiert. Wir waren also vielerlei und haben uns dabei nicht geändert, wir haben viel gesehen und nichts wahrgenommen.

Darauf gibt es, glaube ich, nur eine Antwort: Wir besaßen nicht die Begriffe, um das Erlebte in uns hineinzuziehn. Oder auch nicht die Gefühle, deren Magnetismus sie dazu aktiviert. Zurückgeblieben ist nur eine sehr erstaunte Unruhe, ein Zustand, als hätten sich vom Erlebnis her Nervenbahnen zu bilden begonnen und wären vorzeitig abgerissen worden.

Eine Unruhe. Deutschland wimmelt von Sekten. Man blickt nach Rußland, nach Ostasien, nach Indien. Man klagt die Wirtschaft an, die Zivilisation, den Rationalismus, den Nationalismus, man sieht einen Untergang, ein Nachlassen der Rasse. Alle Wölbungen sind vom Krieg eingedrückt worden. Selbst der Expressionismus stirbt. Und das Kino ist am Vormarsch (Rom vor dem Untergang).

In Frankreich, in England, in Italien – soweit man es als Nichtspezialist bei unsrem sehr schlechten Nachrichtendienst beurteilen kann – scheint die Unsicherheit nicht geringer zu sein, mögen auch die Einzelerscheinungen abweichen.

2

So sieht also Weltgeschichte in der Nähe aus; man sieht nichts.

Freilich wird man einwenden, man sei zu nah. Das ist aber ein Gleichnis. Hergenommen vom Gesichtssinn; man kann zu nah an einem Ding sein, um es überblicken zu können. Kann man aber zu nah an einer Erkenntnis sein, um sie fassen zu können? Das Gleichnis stimmt nicht. Wir wüßten genug, um uns ein Urteil über Gegenwärtiges und Jüngstvergangenes zu bilden, wir wissen jedenfalls mehr, als spätere Zeiten wissen werden. Eine andre Wurzel des Gleichnisses heißt, noch zu beteiligt sein. Aber wir waren ja gar nicht beteiligt?

Die berühmte historische Distanz besteht darin, daß von hundert Tatsachen fünfundneunzig verlorengegangen sind, weshalb sich die verbliebenen ordnen lassen, wie man will. Darin aber, daß man diese fünf nun ansieht wie eine Mode von vor zwanzig Jahren oder ein lebhaftes Gespräch zwischen Menschen, die man nicht hört, bekundet sich die Objektivität. Man erschrickt über die Groteskheit menschlicher Handlungen, sobald sie nur ein wenig ausgetrocknet sind, und sucht sie aus allen Umständen zu erklären, die man nicht selbst ist, das ist aus den historischen.

Historisch ist das, was man selbst nicht tun würde; der Gegensatz dazu ist das Lebendige. Wenn unsre Zeit eine »Epoche« wäre, so dürfte man wohl fragen, ob wir uns am Anfang, am Ende oder in der Mitte befinden? Wenn es einen gotischen Menschen mit einer Vor-, Früh-, Hoch- und Spätzeit gegeben hat: in welcher Lage zu seinem Zenith befindet sich der moderne? Wenn es eine deutsche oder eine weiße Rasse gibt: in welcher biologischen Phase? Soll solcher Auf- und Niedergang nicht nur eine nachträgliche und recht billige Feststellung sein, so müßte man ein symptomatologisches Bild davon haben, wie solche Auf- und Niedergänge im allgemeinen aussehn. Das wäre eine andre Objektivität, aber daran fehlt es noch weit. Und vielleicht sind die lebendigen historischen Tatsachen gar nicht eindeutig, sondern erst die toten? Am Ende ist die lebendige Geschichte gar keine Geschichte, nämlich nichts, das sich mit den historischen Vulgärkategorien einfangen ließe?

Es ist da nämlich ein merkwürdiges Gefühl von Zufall mitbeteiligt.

3

Es ist ein sehr aktuelles Gefühl von Zufall mit bei allem, was geschah. Es hieße den Glauben an die Notwendigkeit der Geschichte doch beträchtlich überspannen, wollte man in allen Entscheidungen, die wir erlebt haben, den Ausdruck einer einheitlichen Bedeutung sehn. Leicht vermag man hinterdrein im Versagen der deutschen Diplomatie oder Feldherrnkunst zum Beispiel eine Notwendigkeit zu erkennen: aber jeder weiß doch, daß es ebensogut auch anders hätte kommen können, und daß die Entscheidung oft an einem Haar hing. Es sieht beinahe aus, als ob das Geschehen gar nicht notwendig wäre, sondern die Notwendigkeit erst nachträglich duldete.

Ich will nicht Philosophie treiben – Gott behüte mich, in einer so seriösen Zeit –, aber ich muß an den berühmten Mann denken, der unter dem berüchtigten Dach vorübergeht, von dem der Ziegel fällt. War das notwendig? – Gewiß ja und gewiß nein. Daß der berühmte Ziegel sich lockerte, und daß der berüchtigte Mann vorbeikam, trug sich – wollen wir sagen, unter Nachlaß der Lehre vom freien und unfreien Willen, bei der sich die ganze Geschichte noch einmal wiederholt – ganz gewiß mit Gesetz und Notwendigkeit zu; daß aber beides just zur selben Zeit geschah, tat es nicht, wenn man nicht an den lieben Gott glaubt oder an das Walten einer noch höheren Vernunft in der Geschichte. Weshalb man die Unglücksfälle zwar aus Gott oder einer Ordnung ableiten kann, aber nicht Gott oder die Ordnung aus den Unglücksfällen.

Schlicht gesagt: Was man geschichtliche Notwendigkeit nennt, ist bekanntlich keine gesetzliche Notwendigkeit, wo zu einem bestimmten p ein bestimmtes v gehört, sondern ist so notwendig, wie es die Dinge sind, »wo eins das andere gibt«. Gesetze mögen schon dabei sein – etwa der Zusammenhang geistiger Entwicklungen mit wirtschaftlichen oder der Stellungsfaktor in der bildenden Kunst –, aber doch ist immer auch etwas dabei, das so nur einmal und diesmal da ist. Und nebenbei bemerkt, zu diesen einmaligen Tatsachen gehören zum Teil auch wir Menschen.

4

Das Weltbild verliert dadurch an sogenannter Erhabenheit. Trösten wir uns durch einen Ausblick.

Ein grüner Jäger schießt im grünen Wald den braunen Hirsch. Versuchen wir, das rückgängig zu machen. Die Kugel fuhr aus dem Gewehr, der Blitz folgte, der Donner kam nach, der Hirsch brach ein, fiel zur Seite, sein Geweih prallte auf, dann lag er da. Rückfahrt: Der Hirsch richtet sich auf – aber er dürfte nicht aufstehn, sondern müßte in die Höhe »fallen«, sein Geweih müßte zuvor einen Spiegeltanz der Bewegungen des Aufprallens ausführen, und er müßte mit der Endgeschwindigkeit beginnen, aber mit der Anfangsgeschwindigkeit enden. Die Kugel müßte mit dem breiten Ende voran zurückfliegen, die Pulvergase müßten sich mit einem Knall in fester Form niederschlagen, und so weiter. Um auch nur einen Schritt davon zurückzunehmen, genügte nicht das Rückgängigmachen des Geschehenen, sondern man müßte dazu die umfänglichsten Vollmachten zum Umbau der gesamten Welt haben. Die Schwerkraft müßte nach aufwärts wirken, in der Luft müßte eine Vertikalebene aus Erde sein, die Ballistik müßte sich in einer ganz unausdenkbaren Weise ändern, kurz, wenn man eine Melodie von hinten nach vorn spielt, so ist es keine Melodie mehr, und man müßte Zeit und Raum erschüttern, damit das anders würde.

In Wahrheit muß, um auch nur einen erschossenen Hirsch wieder auf die Beine zu bringen, etwas ganz Neues geschehn, nicht bloß eine Umkehrung und Wiedergutmachung! Die Welt ist voll eines unbändigen Willens zum Neuen, voll einer Zwangsidee des Andersmachens, des Fortschritts!

5

Es gibt Leute, welche sagen, wir haben die Moral verloren. Andere sagen, wir haben die Unschuld verloren und uns mit dem Apfel im Paradiese die störende Intellektualität einverleibt. Wieder andre sagen, daß wir durch die Zivilisation hindurch zur Kultur gelangen müßten, wie sie die Griechen hatten. Und so mehreres.

6

Eine historische Betrachtungsweise, welche das Geschehen in aufeinanderfolgende Epochen zerlegt und dann so tut, als entspräche jeder ein bestimmter historischer Typus Mensch – also etwa der griechische oder der gotische oder der moderne –, und ferner so tut, als gäbe es da einen Auf- und Abstieg (etwa also der frühgriechische – der griechische – der hochgriechische – der spät- und verfallsgriechische – der nichtgriechische Mensch), und es wäre da etwas aufgeblüht und verwelkt, nicht bloß eine Entfaltung, sondern ein Wesen, das sich entfaltete, eine Menschenart, eine Rasse, eine Gesellschaft, ein real wirkender Geist, ein Mysterium: eine solche Betrachtungsweise, die heute nicht nur in der Essayistik üblich ist, sondern vielfach auch in der historischen Forschung selbst, arbeitet mit einer Hypothese.

Gegeben ist von der ganzen Sache nur das Phänomenale; eine bestimmte Art von Bauten, Dichtungen, Bildwerken, Handlungen, Ereignissen, Lebensformen und ihr deutliches Beisammensein und Zueinandergehören. Daß dieses phänomenale Substrat einer bestimmten Zeitspanne, Epoche, Kultur auf den ersten Blick als eine einmalige Einheit erscheinen mag, die nur dann und dort auftrat, hindert nicht zu bemerken, daß dies nicht ganz richtig ist; orientalische Lebenselemente wirken bekanntlich ins Hellenische hinein, und hellenische durchsetzen das Leben bis auf den heutigen Tag. Im Gegenteil, ähnliche Lebensäußerungen (und in der Geschichte handelt es sich ja doch nur um Ähnlichkeiten und Analogien) bilden durchaus, über Zeit und Ort verteilt, ein Kontinuum, das sich nur an bestimmten Stellen auffallend verdichtet, man könnte fast sagen, an bestimmten Umständen niederschlägt.

Ein solches phänomenales Bild erinnert den, der mit der statistischen Seite der äußeren oder inneren Natur ein wenig zu tun gehabt hat, an die Verschränkung einer dauernden, sagen wir ganz allgemein Determinante mit wechselnden, und ist die menschliche Konstitution diese dauernde Determinante, so kann sie nicht zugleich die Ursache der verschiedenen Epochen, Gesellschaften und dergleichen sein – im Sinne von tatsächlich wirkenden Wesenheiten genommen, und nicht bloß als harmlos deskriptive Sammelausdrücke –, sondern die Ursachen müssen in den Umständen liegen.

Die Botanik unterscheidet z. B. in einem so kleinen Land wie Niederösterreich ungefähr dreitausend Formen der wilden Rose und weiß nicht, ob sie diese in dreihundert oder in dreißig Arten zusammenfassen soll; so unsicher ist die Vorstellung von dem, was eine Art ist, selbst dort, wo so viele eindeutige Merkmale zur Verfügung stehn. Die Geschichte hingegen sollte es sich mit so durchaus nicht eindeutigen und so gewiß nicht »wesentlichen« Merkmalen zu tun vermessen, wie es die komplizierten Erscheinungen von Bauten, Werken und Lebensformen sind? Es handelt sich bei solchen Bedenken nicht darum, die phänomenale Existenz verschiedener Epochen zu leugnen, und in gewissem Sinn liegt auch jeder ein andrer Mensch zugrunde: aber es handelt sich um diesen Sinn!

7

Der Mensch hat sich seit 1914 als eine überraschend viel bildsamere Masse erwiesen, als man gemeinhin annahm.

Aus religiösen, moralischen und politischen Gründen hatte man vordem eine solche Erkenntnis nie recht wahrhaben wollen. Ich erinnere mich noch recht gut des sympathischen Aufsatzes eines repräsentativen deutschen Dichters, in dem dieser darüber staunte, daß der Mensch doch nicht so sei, wie er ihn, sondern so bös wie Dostojewski ihn gesehen habe. Andre mögen sich vielleicht der Bedeutung erinnern, welche in unsren Moralsystemen dem »Charakter« zukommt, das ist der Forderung, daß der Mensch mit sich als mit einer Konstanten rechnen lasse, während eine kompliziertere moralische Mathematik nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich nötig ist: Von einem Denken, das an die Fiktion des konstanten seelischen Habitus gewöhnt ist, ist der Schritt zur Annahme des Typus, der Epoche und dergleichen nicht weit.

Diese starre Einteilung widerspricht jedoch den Erfahrungen der Psychologie und unsres Lebens. Die Psychologie zeigt, daß die Phänomene vom übernormalen bis zum unternormalen Menschen stetig und ohne Sprung sich aneinanderbreiten, und die Erfahrung des Kriegs hat es in einem ungeheuren Massenexperiment allen bestätigt, daß der Mensch sich leicht zu den äußersten Extremen und wieder zurück bewegen kann, ohne sich im Wesen zu ändern. Er ändert sich, aber er ändert nicht sich.

8

Die Formel für diese Erfahrungen müßte ungefähr lauten: Große Amplitude der Äußerung, kleine im Innern. Es gehört gar nicht so viel dazu, um aus dem gotischen Menschen oder dem antiken Griechen den modernen Zivilisationsmenschen zu machen. Ein kleines, dauernd in einer bestimmten Richtung wirkendes Übergewicht von Umständen, von Außerseelischem, von Zufälligkeiten, Hinzugefallenem genügt dafür. Dieses Wesen ist ebenso leicht fähig der Menschenfresserei wie der Kritik der reinen Vernunft. Man soll nicht immer denken, daß es das tut, was es ist, sondern es wird das, was es – aus Gott weiß welchen Gründen – tut. Die Leute machen sich ihre Kleider, aber auch die Kleider machen Leute, und die Physiognomie ist eine unter dem Druck von innen und außen bewegliche Membran.

Es soll damit natürlich nicht der Unterschied zwischen primitiven Kulturen und entwickelten Gesellschaften geleugnet sein; er liegt in einer größeren Versa[ti]lität des Gehirns, die sich nur durch Generationen entwickelt – aber genau so wie das Kinn zurücktritt und der Gang aufrecht wird, nämlich als ein wirklicher physiologischer Unterschied, funktionell bedingt –, während es gar keinen funktionellen Unterschied ausmacht, ob man sein Gehirn aristotelisch oder kantisch turnen läßt. Wenn man Aufstieg, Höhe, Verfall einer bestimmten Menschenart oder Gesellschaft ohne solche Einschränkungen annimmt, so verlegt man das Entscheidende und Treibende zu sehr ins Zentrum; man muß es mehr, als es gewöhnlich geschieht, an der Peripherie suchen, bei den Um-ständen, beim »Ans-Ruder-Kommen« bestimmter Menschen- oder Anlagengruppen innerhalb eines im ganzen ziemlich gleichen Gemischs, beim Zufall oder, richtiger gesagt, bei der »ungesetzlichen Notwendigkeit«, wo eins das andre gibt, nicht zufällig, aber doch in der durchreichenden Aneinanderkettung von keinem Gesetz beherrscht.

(Um ein Beispiel zu geben: Wir wären ja wohl imstande, mit unsrer technischen und kommerziellen Organisation einen gotischen Dom in ein paar Jahren, und wenn es auf den Rekord ankäme, mit neuen Arten von Gilbrethgerüsten und »wissenschaftlicher Betriebsführung« in Wochen zu bauen. Er würde einheitlich nach einem Plan aufschießen, und wenn wir dazu selbst einen Originalplan verwendeten, würde es eine kahle Arbeit bleiben, weil die Zeit dabei fehlt, der Wechsel der Generationen, die Inkonsequenz, das organisch Gewordene, welches eben das unorganisch Zustandegekommene ist, und dergleichen. Die befremdlich lange Dauer von Willensimpulsen, die im Ausdruck der gotischen Seele liegt, entsteht so aus der langsamen, festhalten müssenden Technik der Verwirklichung, und Technisches, Kaufmännisches, Geistiges, Politisches verwirrt sich zu einem tausendfachen Gestrüpp von Ursachen schon in diesem einen Beispiel, wenn man es weiter verfolgt.)

9

Man nimmt häufig an, daß ein Hang zu solcher Betrachtungsweise grob mechanistisch, zivilisatorisch unkultiviert und zynisch sei. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß in ihm ein ungeheurer Optimismus steckt. Denn hängen wir mit unsrem Sein nicht an der Spule irgendwelcher Schicksalspopanze, sondern sind bloß mit einer Unzahl kleiner, wirr untereinander verknüpfter Gewichte behangen, so können wir selbst den Ausschlag geben.

Und dieses Gefühl ist uns verlorengegangen.

10

Wodurch?

Es ist wohl zum letztenmal in der Zeit der Aufklärung dagewesen; in jenem ausgehenden 18. Jahrhundert glaubten die Menschen an etwas in uns, das nur befreit zu werden brauche, um emporzuschnellen. Sie nannten es die »Vernunft« und hofften auf eine »natürliche Religion«, eine »natürliche Moral«, eine »natürliche Erziehung«, ja selbst auf eine »natürliche Wirtschaft«; sie schätzten Überlieferung gering und trauten sich zu, die Welt aus dem Geist neu aufzubaun. Der Versuch, auf einer viel zu schmalen Denkensgrundlage unternommen, brach zusammen und hinterließ einen platten Schutthaufen. Die Gegenwart fand das Entsetzen vor ihm (genauer vor einer im 19. Jahrhundert unternommenen, abgeschwächten naturwissenschaftlichen Wiederholung) noch den Büchern von Flaubert aufgeprägt, von Dostojewski, ja selbst noch von Hamsun; der »Rationalismus« war bei seinem Ende verächtlich und lächerlich geworden.

Es ist begreiflich, daß nach einem Fehlschlag des rational Konstruktiven ein Bedürfnis nach dem Irrationalen, nach Tatsachenfülle, nach Wirklichkeit folgt. Es kam auf zwei Wegen; ein Weg dieser Gegenwelle war: Geschichte. In gewissem Sinn war das plötzlich erwachende Interesse für sie ein Zurücksinken von der Anmaßlichkeit des Manns zum Lauschen des Kindes; Weite, Ruhe, Geführtwerden, die Vernunft aus den Dingen in den Menschen wachsen lassen: an die Stelle ethisch-aktivistischer Schroffheit tritt eine universalere, versöhnlichere, aber unbestimmtere Denkweise. Und, ach, die Tatsachenfülle wuchs zur Überfülle, die Geschichtsforschung wurde, einem Übermaß von Tatsachen gegenüber, notgedrungen immer pragmatischer und exakter: Ergebnis ein Alpdruck, ein stündlich wachsender Berg von Tatsachen, Gewinn an Wissen, Verlust an Leben, ein seelischer Fehlschlag, den zu vermeiden übrigens gar nicht ihr allein anheimgegeben war.

Denn die Geschichte hatte seit der Generation unsrer Großväter etwa, also in einer Zeit steigender Pragmatisierung des gesamten Denkens, wo sich die Philosophie hütete zu philosophieren, deren Aufgabe der Lebensauslegung im Nebenamt übernehmen müssen und erscheint daher gleich mit zwei schlechten Gewissen behaftet; einem pragmatischen, das über das Unzeitgemäße einer Geschichtsphilosophie spottet, und einem philosophischen, das über den seelenlosen Pragmatismus stöhnt, weil es ohne große ordnende Gesichtspunkte eben nicht geht.

11

Es sei hier eine Abschweifung gestattet, weil es noch immer zum Prestige der Schriftsteller gehört, auf den öden Pragmatismus böse zu sein.

Bekannt ist, daß schon »unsre großen klassischen Geistesheroen«, so der Ausdruck verstattet ist, die Ohren zurücklegten, wenn diese Geistesrichtung sich hören machte. Goethe, der Kant bewunderte, Spinoza liebte und ein Naturforscher war, stand sich besser mit dem Verstand als die Goetheseelein von heute (mit seiner Intuition wird Mißbrauch getrieben; in den naturwissenschaftlichen Schriften findet sich durchaus nicht jene »andre Art des Erkennens«, für die er so oft als Eideshelfer angerufen wird); wohl aber hatte die Klassik keine Freundlichkeit für englische Webstühle, für Mathematik, für Mechanik und, wenn ich mich recht erinnere, auch nicht für Locke und Hume, deren – nun, man sagt Skepsis, sie ablehnte, aber es war wohl eigentlich nur eine Form jenes Geistes der Positivität, der mit den Naturwissenschaften, der Mathematik und der Industrie heraufkam und von der Klassik instinktiv als sie zersetzend empfunden wurde. (Noch Hebbel, der sonst wie ein Mittler zwischen damals und heute steht, ist darin ganz klassisch.) Wenn ich mir unsre großen Humanisten richtig vorstelle, so war es ihnen – wenn auch mit Einschluß alles möglichen Wirren der Menschenbrust – doch irgendwie um einen Kosmos, eine ruhende Ordnung, ein geschlossenes Gesetzbuch zu tun; jedenfalls hätten sie das Maß von geistiger Unordnung und Häßlichkeit, mit dem wir heute zu rechnen haben, als unerträglich erniedrigend empfunden.

Aber dieser abgelehnte Geist der selbstgenügsamen Faktizität in der Wissenschaft, der Statistik, der Maschinen, der Mathematik, des Pragmatismus und der Zahl, dieser Sandhaufen der Tatsachen und Ameisenhaufen der Menschlichkeit hat heute gesiegt.

Leider oder nicht: die nachgeborenen Goetheseelein und Goetheselein müssen mit ihm rechnen lernen.

Er grub den zweiten Weg, in den die aus einem zu engen Bett der Verstandeskonstruktion sich wieder befreiende Gegenwelle einbog; er hatte aber schon lang vor der Aufklärungszeit begonnen und wuchs hinter ihr bloß verstärkt weiter fort.

12

Jedoch wenn hier die Worte Pragmatismus und Positivismus gebraucht werden, so mögen sie nicht zu genau und nicht als philosophische Spezialbezeichnungen genommen werden. Gemeint ist keine Theorie, sondern eine Erscheinung des Lebens.

Seit in der Renaissance sich die Physik von der scholastischen Spekulation weg zur Feststellung der Tatsachen und ihrer funktionalen Zusammenhänge gewandt hat, ist nicht etwa der Rationalismus entstanden – denn die Scholastik war ja auch rationalistisch –, sondern es fand einfach eine restitutio in integrum statt; die spekulativ entartete Rationalität wurde wieder auf den festen Antäusboden der Tatsachen gestellt, wobei sie allerdings eine Richtung erhielt, in der die Probleme für die Philosophie, ja selbst für die Mathematik vorwiegend durch die quantifizierenden Naturwissenschaften angeregt wurden. Gleich zu Beginn tritt die quantitative, die – um heute beliebte Bezeichnungen dafür anzuwenden – unheilige und ungeistige Betrachtungsweise wie ein Feuer auf. »Wahres Erkennen ist nur dort, wo Quanta erkannt werden«, schreibt Kepler. Der Portugiese Sanchez – gestorben im Jahr, wo Locke geboren wurde – fordert den aggressiven Geist der Beobachtung und des Experiments auch für die Philosophie. Der große Galilei – in der Auffassung vielseitiger als Kepler und im Beispiel eine Zeitwende –, selbst ein Künstler wie da Vinci teilen diesen Furor der Abkehr zur Positivität, zur Sachlichkeit, zur Nüchternheit und zum Zeugnis des Verstandes und der Sinne.

Man muß das trennen von der Überspitzung, die es bald erhielt (Descartes), und muß sich heute, wo die Geisteswelt über die Fesseln einer »öden Mechanistik« klagt, mit aller Eindringlichkeit vergegenwärtigen, daß es einst und für große Menschen die Gewalt und das Feuer eines neuen erlösenden Erlebnisses gehabt hat.

13

Die Formel dafür lautet etwa: Mach Dir nichts vor. Verlaß Dich auf Deine eigenen Sinne. Greif immer bis auf den Stein! Es ist eine gewaltige Abstinenzbewegung von der Seele, durch die ein gewaltiger Seelenschwung in neuer Richtung entstand, und man darf sich nicht über das Feuer, die Kraft täuschen, die er noch in sich trägt.

Zwar ging auch hier die Entwicklung mehr in die Breite als in die Tiefe; die Tatsachenwissenschaften teilten sich bis zur Zersplitterung des Spezialistentums, die theoretischen Synthesen, trotzdem sie im einzelnen zu sehr großen Leistungen führten, hielten nicht Schritt, fast könnte man sagen, es etablierten sich alle Nachteile einer Demokratie von Tatsachen; der Berg, der Alpdruck schüttete sich auch hier auf, der schon die menschliche Leistung der Geschichte begrub. Aber es wird das fast immer ganz falsch so dargestellt, als sei es ein bloß negatives Kennzeichen unsrer Zeit, daß sie – abgekürzt zu sprechen – keine Philosophie habe, bloß als ob sie keine hervorzubringen vermöchte; es ist weit mehr ein auch positiv zu wertendes Zeichen, denn der pragmatische Mensch, der Kletterer an den festen Griffen der Tatsachen, verlacht, was ihm von den Kustoden als Philosophie angeboten wird. Diese Zeit hat keine Philosophie, weniger weil sie keine hervorzubringen vermag, als weil sie Angebote ausschlägt, die nicht zu den Tatsachen stimmen. (Wer ein Beispiel haben will, lese das zurückhaltend als naturphilosophischer Versuch bezeichnete Buch Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand des jungen Berliner Philosophen Wolfgang Köhler, und wenn er die Kenntnisse hat, um es zu verstehen, so wird er erleben, wie sich vom Boden der Tatsachenwissenschaften aus die Lösung uralter metaphysischer Schwierigkeiten schon andeutet.)

Darin verwandt trotz allem Trennenden sind dem führenden geistigen Typus der Zeit die führenden praktischen, der Kaufmann und der Politiker. Auch der Kapitalismus hat als seelische Grundlage das nur mit den Tatsachen Rechnen, das sich nur auf sich selbst Verlassen, den Griff, das Arbeiten in festem Stein, die Selbständigkeit des so dastehenden Menschen; und die Öde außer Dienst. Die Politik gar, wie sie heute verstanden wird, ist die reinste Gegnerschaft gegen den Idealismus, fast seine Perversion. Der mit dem Menschen à la baisse spekulierende Mensch, der sich Realpolitiker nennt, hält für real nur die Niedrigkeiten des Menschen, das heißt, nur sie betrachtet er als verläßlich; er baut nicht auf Überzeugung, sondern stets nur auf Zwang und List. Was davon sich aber während des Kriegs und nachher in der scheußlichsten Fratze gezeigt hat, ist im Grunde kein andrer Geist als der, in welchem auch Ministerien eines und desselben Staats untereinander verkehren, sobald sie in einer Frage nicht die gleichen Interessen haben, und der, in welchem der smarte Kaufmann stets mit seinesgleichen umgeht. Am tiefsten Punkt dieser Hölle liegt – dem einzelnen gar nicht mehr bewußt – wie die Spitze eines Kegels die luziferische Mißachtung der Ohnmacht des Idealismus, die nicht nur den verkommenen, sondern so oft auch den stärksten Menschen unsrer Zeit eigentümlich ist.

Es ist ebensoviel von dem tiefsten Selbstvertrauen der Zeit in ihr wie von der verzweifelten Situation. Es ist ein Unterwasserschwimmen in einem Meer von Realität, ein verbissenes Noch-etwas-länger-den-Atem-Anhalten: freilich mit der Gefahr behaftet, daß der Schwimmer nie wieder auftaucht.

14

Das Amt, diesen Menschen zu bändigen und zu Gleichmaß und Stete zu führen, in diesem Chaos Ordnung zu schaffen, das Amt der Sinngebung, der Lebensausdeutung zu übernehmen, war – im Nebenamt! – nichts als die Geschichte da. Sie besaß nicht die Begriffe dafür. Geschichtsphilosophie wird abgelehnt, rein historische Kategorien haben sich noch nicht zur Genüge gebildet: die Ordnungsbegriffe des Lebens fehlen; daher werden hinten herum und unkontrolliert subjektive, gemutmaßte Bestandstücke der Geschichtsphilosophie wieder eingeführt. Begriffe wie Vernunft, Fortschritt, Humanität, Notwendigkeit beherrschten spukend das Lebensbild, gemeinsam mit ungeeichten oder höchstens von der opinio communis geeichten ethischen Wertschätzungen; Ordnungsschein über einem Chaos. So konnte anfangs die bekannte Wendung zur historischen Immanenz wie eine Erlösung wirken. Es erschien anfangs wie ein Fortschritt, was die Geschichte jetzt lehrte, den »Zeiten« überhaupt keine bestimmte Denkweise entgegenzubringen, sondern »Urteil und Maß lediglich aus ihnen selbst zu gewinnen«. Versenken, einleben, Erscheinungen aus ihrer eigenen Sphäre heraus verstehn, keine Synthese von außen aufdrängen: Nie war eine Zeit so bereit und geschickt, das zu tun, wie unsre. Die Folge war – mit Eucken zu sprechen – Abschwächung des eignen Wollens und Wesens durch Beflissenheit, sich fremder Art anzuschmiegen. Just das Rechte in einem Entwicklungsabschnitt, der drängend voll eigner Probleme ist!

15

Wir haben den laufenden Tag eingeholt. Das Leben, das uns umfängt, ist ohne Ordnungsbegriffe. Die Tatsachen der Vergangenheit, die Tatsachen der Einzelwissenschaften, die Tatsachen des Lebens überdecken uns ungeordnet. Die Populärphilosophie und die Tagesdiskussion begnügten sich entweder mit den liberalen Fetzen eines ungegründeten Vernunft- und Fortschrittsglaubens oder sie erfanden die bekannten Fetische der Epoche, der Nation, der Rasse, des Katholizismus, des Intuitionsmenschen, welchen allen negativ gemeinsam ist eine sentimentale Nörgelei am Verstand und positiv das Bedürfnis nach einem Halt, nach gigantischen Knochengespenstern, an die man die Impressionen hängen kann, aus denen man nur noch bestand. (Dies ist, nebenbei gesagt, der Kern des literarischen Streits über Kultur oder Zivilisation; und ein Hauptgrund, weshalb der Expressionismus nicht viel mehr als eine Clownerie wurde; er konnte auf einem wesentlich impressionistisch gebliebenen Boden nicht weiterführen.) Man ist dabei so mutlos im direkten Beurteilen und Gestalten geworden, daß man die Gewohnheit annahm, selbst die Gegenwart historisch zu sehn; sobald ein neuer Ismus auftritt, glaubt man, ein neuer Mensch sei da, und mit Schluß jedes Schuljahrs hebt eine neue Epoche an! Alles, was zum Geist gehört, befindet sich daher heute in größter Unordnung. Der Geist der Tatsachen und der Zahlen wird bekämpft – traditionell und kaum mehr der Gründe bewußt –, ohne daß man ihm mehr als die Negation entgegensetzt. Denn wenn man verkündet – und wer verkündete nicht etwas davon?! –, unsrer Zeit fehle die Synthese oder die Kultur oder die Religiosität oder die Gemeinschaft, so ist das kaum mehr als ein Lob der »guten alten Zeit«, da niemand zu sagen vermöchte, wie eine Kultur oder eine Religion oder eine Gemeinschaft heute aussehen müßten, falls sie die Laboratorien und Flugmaschinen und den Mammutgesellschaftskörper wirklich in ihre Synthese aufnehmen und nicht bloß als überwunden voraussetzen wollten. Man verlangt damit bloß, daß sich die Gegenwart selbst aufgeben soll. Unsicherheit, Energielosigkeit, pessimistische Farbe zeichnet alles aus, was heute Seele ist.

Naturgemäß spiegelt sich das in einer unerhörten geistigen Einzelkrämerei. Unsre Zeit beherbergt nebeneinander und völlig unausgeglichen die Gegensätze von Individualismus und Gemeinschaftssinn, von Aristokratismus und Sozialismus, von Pazifismus und Martialismus, von Kulturschwärmerei und Zivilisationsbetrieb, von Nationalismus und Internationalismus, von Religion und Naturwissenschaft, von Intuition und Rationalismus und ungezählt viele mehr. Man verzeihe das Gleichnis, aber der Zeitmagen ist verdorben und stößt in tausend Mischungen immer wieder Brocken der gleichen Speisen auf, ohne sie zu verdauen. Schon äußerlich betrachtet, läßt solche Antitypik – solches Entfalten der Probleme in Paare von Gegensätzen, solche Vielheit von Entweder-Oder-Fragestellungen – erkennen, daß hier nicht genug geistige Arbeit geleistet wird; es liegt in jedem Entweder-Oder eine gewisse Naivität, wie sie wohl dem wertenden Menschen ansteht, aber nicht dem denkenden, dem sich die Gegensätze in Reihen von Übergängen auflösen. Und in der Tat entspricht diesen Fragestellungen praktisch ein aufs äußerste getriebener Grüppchenkollektivismus in unsrem geistigen Bild. Jede Lesegemeinschaft hat ihren Dichter; die politischen Parteien der Landwirte und der Handarbeiter haben verschiedene Philosophien; es gibt vielleicht hundert Verlage in Deutschland mit einem gefühlhaft mehr oder weniger fest organisierten Leserkreis; der Klerus hat sein Netz, aber auch die Steinerianer haben ihre Millionen, und die Universitäten ihre Geltung: ich habe in der Tat einmal in einem Gewerkschaftsblatt der Kellner etwas von der Weltanschauung der Gasthausgehilfen gelesen, die immer hochgehalten werden müsse.

Es ist ein babylonisches Narrenhaus; aus tausend Fenstern schreien tausend verschiedene Stimmen, Gedanken, Musiken gleichzeitig auf den Wanderer ein, und es ist klar, daß das Individuum dabei der Tummelplatz anarchischer Motive wird, und die Moral mit dem Geist sich zersetzt.

Im Keller dieses Narrenhauses aber hämmert der hephaistische Schaffenswille, Urträume der Menschheit werden verwirklicht wie der Flug, der Siebenmeilenstiefel, das Hindurchblicken durch feste Körper und unerhört viele solcher Phantasien, die in früheren Jahrhunderten seligste Traummagie waren; unsere Zeit schafft diese Wunder, aber sie fühlt sie nicht mehr.

Sie ist eine Zeit der Erfüllung, und Erfüllungen sind immer Enttäuschungen; es fehlt ihr an Sehnsucht, an etwas, das sie noch nicht kann, während es ihr am Herzen nagt.

16

Ich glaube, daß der Krieg ausbrach wie eine Krankheit an diesem Gesellschaftskörper; eine ungeheure, ohne Zugang zur Seele arbeitende Energie brach sich diesen brandigen Fistelgang zu ihr hin. Ich habe allerdings eine Warnung vor solcher Auffassung des Kriegs als einer europäischen Kulturkrisis gelesen, was eine spezifisch deutsche Anschauung sein soll ([Ernst] Robert Curtius unter Berufung auf andre in dem sehr lesenswerten Heft: Der Syndikalismus der geistigen Arbeiter in Frankreich), aber es kommt doch wohl darauf an, welchen Inhalt man dieser Vorstellung gibt. Der Krieg mag tausend verschiedene Ursachen gehabt haben, aber es ist gewiß nicht zu leugnen, daß jede von ihnen – Nationalismus, Patriotismus, wirtschaftlicher Imperialismus, Mentalität der Generale und Diplomaten wie auch alle andren – an bestimmte geistige Voraussetzungen geknüpft ist, die doch eine gemeinsame und dann eben mitentscheidende Situation kennzeichnen.

Vor allem war ein sehr bezeichnendes Symptom der Katastrophe zugleich Ausdruck einer bestimmten ideologischen Lage: das völlige Gewährenlassen gegenüber den an der Staatsmaschine stehenden Gruppen von Spezialisten, so daß man wie im Schlafwagen fuhr und erst durch den Zusammenstoß erwachte. An dieses Gewährenlassen sind nicht nur die »denkenden Bürger« gegenüber den »handelnden Organen« des Staats gewöhnt, sondern auch die nebeneinander dahinlebenden Ideologien, welche sich gegenseitig anbellen, aber nicht beißen. Es ist die Kehrseite der Einordnung des einzelnen in die Gesellschaft, und man würde ein Narr vor Überbürdung, wenn man jede Gewissensfrage selbst lösen wollte; aber andrerseits gibt es deren welche, die man so wenig dem »Fachmann« überläßt wie das Heiraten oder die Ewigkeit, und solche Fälle müssen sich durch ein deutlich wahrnehmbares Signal auszeichnen. So lag auch in der Art, wie die Welt auf den Krieg zutrieb, vor allem ein Mangel an geistiger Organisation; das Nichternstnehmen der Anzeichen und hintreibenden Kräfte, ebenso wie auch der gegenwirkenden Kräfte ging aus einer Situation hervor, wo ideologische Fragen in ihrer Unordnung und Windigkeit für »schöngeistig« galten, während die realpolitischen Mächte wenigstens eine gewisse bürgerliche Rechtsfähigkeit vor ihnen voraus hatten.

Ein andres Kennzeichen war der Umfang, den die Katastrophe sofort annahm. Dieses plötzliche, ungeheure Umsichfressen des Feuers erscheint nur möglich, wo alles vorbereitet war und sich nach Erdbeben, Feuersbrunst und Gefühlsstürmen sehnte; wer den Ausbruch des Kriegs in voller Stärke erlebt hat, versteht ihn als die Flucht vor dem Frieden.

17

Es wäre natürlich unsinnig, eine so umfassende Katastrophe auf eine individuelle Formel zurückführen zu wollen. Wir wissen überhaupt noch wenig von der Soziologie des Kriegs, es hat Kriege in allen Kulturen gegeben, und schon deshalb ist es schwer, einen bestimmten Krieg als die Katastrophe einer bestimmten kulturellen Situation anzusehn; zweifellos wird Krieg als etwas Traditionelles, man kann fast sagen als eine periodische Institution hingenommen. Anders steht es jedoch um die Frage, wie ein Krieg in einer Zeit ausbrechen kann, deren Geist – ausgenommen die Knockabouts – entschieden pazifistisch war. Ferner gibt es unter den Kriegen viele, die sozusagen nur geduldet waren, und von ihnen sozial verschieden sind jene, die wie Brände um sich fraßen. Heute sind schlichtende Kräfte aus dem Bereich des common sense am Werk, um den Krieg als nutzlos und unvernünftig zu entwerten, und das sind gewiß schwere Argumente in einer auf Nutzen und Vernunft gerichteten Zeit; aber ich glaube, diese Art Pazifisten unterschätzt das explosiv-seelische Moment, das zu Kriegen jener zweiten Art gehört, das offenbar menschliche Bedürfnis, von Zeit zu Zeit das Dasein zu zerreißen und in die Luft zu schleudern, sehend, wo es bleibe. Dieses Bedürfnis nach »metaphysischem Krach«, wenn der Ausdruck erlaubt ist, häuft sich in Friedenszeiten als unbefriedigter Rest an. Ich vermag darin in Fällen, wo weit und breit keine Unterdrückung, keine wirtschaftliche Verzweiflung, sondern rings nur Gedeihen vorhanden war, nichts zu sehen, als eine Revolution der Seele gegen die Ordnung; in manchen Zeiten führt sie zu religiösen Erhebungen, in andren zu kriegerischen.

Sieht man die Erscheinung von dieser Seite an, so muß man hinzufügen, daß es sich nicht (nämlich nur scheinbar) um den Zusammenbruch einer bestimmten Ideologie und Mentalität handelt – etwa der bürgerlichen jetzt oder 1618 der katholischen –, um den Inhalt einer Ideologie also, sondern um das periodische Zusammenbrechen aller Ideologien. Sie befinden sich stets in einem Mißverhältnis zum Leben, und dieses befreit sich in wiederkehrenden Krisen von ihnen wie wachsende Weichtiere von ihren zu eng gewordenen Panzern.

Das ist heute, trotz der Müdigkeit nach dem kaum überwundenen Krieg, schon wieder nahen zu sehn. Nicht nur der französische Geist zeigt seinen Machthabern gegenüber ein schlimmeres »Gewährenlassen« als je einer vor dem Krieg, auch bei uns haben sich durch die neuen Erlebnisse nur die Inhalte geändert, die verworrene unsichere Art der Reaktion und Aktion ist die gleiche geblieben.

18

Keine Werte standen fest, in nichts lag Verantwortung, das Leben wurde mit Wollust in die Flammen geworfen: es scheint dennoch falsch zu sein, daß man mit einer Wiedergutmachung, einer restitutio in integrum, mit der Forderung von mehr Verantwortung, Güte, Christentum, Menschlichkeit, kurz mit irgendeinem Mehr von dem, was vorher zu wenig war, die Situation bessern könne; denn es fehlte nicht an der Idealität, sondern schon an den Vorbedingungen für sie. Dies ist nach meinem Glauben die Erkenntnis, welche sich unsre Zeit einbrennen müßte! Die Lösung liegt weder im Warten auf eine neue Ideologie, noch im Kampf der einander heute bestreitenden, sondern in der Schaffung gesellschaftlicher Bedingungen, unter denen ideologische Bemühungen überhaupt Stabilität und Tiefgang haben. Es fehlt uns an der Funktion, nicht an Inhalten!

Niemals wieder wird eine einheitliche Ideologie, eine »Kultur« in unsrer weißen Gesellschaft von selbst kommen; mag sie in Frühzeiten dagewesen sein (obgleich man sich das wahrscheinlich zu schön vorstellt): das Wasser fließt den Berg hinab, aber nicht hinauf. Eine gedeihende Gesellschaft befindet sich geistig in einem fortschreitenden Selbstzersetzungsprozeß. Immer mehr Menschen und Meinungen beteiligen sich an der allgemeinen Ideenbildung, und immer neue Ideenquellen werden durch Eindringen in frühere Zeiten und Verbindung zwischen entlegenen Ursprungsörtern aufgeschlossen. Was man Zivilisation im üblichen Sinn nennt, ist ja hauptsächlich nichts als die Belastung des einzelnen mit Fragen, von denen er kaum die Worte kennt (man denke an die politische Demokratie oder an die Zeitung), weshalb es ganz natürlich ist, daß er in einer vollkommen pathologischen Weise darauf reagiert; wir muten heute einem beliebigen Kaufmann geistige Entscheidungen zu, deren gewissenhafte Wahl einem Leibniz nicht möglich wäre! Da aber kaum bestritten werden kann, daß jeder der von da und dort sich kreuzenden Ideen ein gewisser Lebenswert einwohnt, Unterdrückung Verlust, und nur Aufnahme Gewinn ist, so liegt ein ungeheures Organisationsproblem darin beschlossen, daß man die Auseinandersetzung und Verknüpfung ideologischer Elemente nicht dem Zufall überlasse, sondern fördere. Diese notwendige Funktion der Gesellschaft existiert heute nur auf wissenschaftlichem, also reinem Verstandesgebiet; auf geistigem Gebiet ist sie nicht einmal von den Schaffenden als nötig erkannt.

Im Gegenteil, es ist gerade in geistigen Kreisen (wie hier abgekürzt im Gegensatz zur eindeutigen Verstandesarbeit gesagt werden möge) kein Vorurteil so hartnäckig wie dieses, daß an aller Mißentwicklung der Zivilisation und vor allem an der seelischen Zersetzung der Verstand schuld sei, dem sie fröne. Nun mag man dem Verstand alle möglichen Einseitigkeiten und schlimmen Nebenwirkungen nachsagen, wenn man aber behauptet, daß er zersetzend wirke, so meint man damit nie etwas andres, als daß er Werte, die ehedem ohne Riß und gefühlssicher galten, allmählich auflöst: aber das kann er nur dort, wo sie in ihren Gefühlsvoraussetzungen ohnedies schon gespalten sind; es ist nichts, was in seiner Natur läge, sondern es liegt in ihrer! Er selbst ist seinem Wesen nach ebenso bindend wie zerlegend, ja er ist wohl die stärkste bindende Kraft in den menschlichen Beziehungen, was merkwürdig oft von schöngeistigen Anklägern übersehen wird. Es kann sich also gar nicht um anderes handeln, als um ein Mißverhältnis, ein Aneinandervorbeileben von Verstand und Seele. Wir haben nicht zuviel Verstand und zuwenig Seele, sondern wir haben zuwenig Verstand in den Fragen der Seele. Der Mißstand, dessen er geziehen wird, heißt in Wahrheit: es geht der Gewohnheitsweg unsrer Gedanken unter Ausschaltung des Ich von Gedanke zu Gedanke und Tatsache zu Tatsache, wir denken und handeln nicht über unser Ich. Darin liegt ja das Wesen unserer Objektivität, sie verbindet die Dinge untereinander, und selbst wo sie uns zu ihnen in Beziehung setzt oder – wie in der Psychologie – uns selbst zum Gegenstand hat, tut sie es unter Ausschluß der Persönlichkeit. Es gibt die Objektivität gewissermaßen das Innerliche an den Dingen preis, das Allgemeingültige ist unpersönlich oder – nach einer sehr glücklichen indirekten Kennzeichnung von Walter Strich [s. S. 228: Der Fluch des objektiven Geistes, 1919] –: für eine Wahrheit kann man nicht mit der Person einstehn. Objektivität stiftet daher keine menschliche Ordnung, sondern nur eine sachliche.

In der Tat tritt schon in jener früher erwähnten breiten Übergangszone zur Neuzeit, während deren das Tatsachendenken seinen Aufschwung nahm, dieser Protest dagegen mit aller Heftigkeit auf; Religion sei nicht Theologie, sagen ungefähr Schwenckfeld, Sebastian Franck und Valentin Weigel gemeinsam gegen den abgeirrten Mystiker Luther, sondern sie sei »Erneuerung des ganzen Menschen«. Es ist das der Protest des Gefühls, Willens, Lebenden, Wechselbaren, insgesamt der Menschlichkeit, was sich da gegen die Theologie, das Wissen, als den festen und erstarrten Niederschlag abgrenzt. Und dieses ist auch immer – wenn man sie aller theologischen Verbindungen und mit ihnen angenommenen Spezialitäten entkleidet – die Triebfeder aller Mystik gewesen; alle jene Worte wie Liebe, Schau, Erweckung und ihresgleichen in ihrer tiefen Unbestimmtheit und zarten Fülle bezeichnen nichts als eine tiefere Einbettung des Denkens in die Gefühlssphäre, eine persönlichere Beziehung zum Erlebenden.

Einen verwandten Erlebensgehalt und ein ähnliches Verhältnis zum Verstand hat aber auch das ganze Schrifttum unmystischer Lebensweisheit von Kungfutse bis Emerson und weiter, ja man kann behaupten, daß an dieser Linie auch eine Grenze zwischen Moral und Ethik läuft. Moral ist ihrem Wesen als Vorschrift nach an wiederholbare Erlebnisse gebunden, und ebensolche sind es, welche die Rationalität kennzeichnen, denn der Begriff kann sich nur an der Eindeutigkeit und – in übertragenem Sinn – Wiederholbarkeit ansetzen; so besteht ein tiefer Zusammenhang zwischen dem zivilisatorischen Charakter der Moral und des Verstandes, während das eigentlich ethische Erlebnis wie das der Liebe oder der Einkehr oder der Demut selbst dort, wo es sozial ist, etwas sehr schwer zu Übertragendes, ganz Persönliches und fast Unsoziales ist. »Auch in Christus war ein äußerer und ein innerer Mensch, und alles, was er in bezug auf äußere Dinge tat, tat er vom äußeren Menschen aus, und stand dabei der innere Mensch in unbeweglicher Abgeschiedenheit«, sagt Eckehart. Was man in unsrer heutigen Literatur Ethik nennt, ist gewöhnlich ein schmales Fundament von Ethik und ein hohes Haus von Moral darüber.

Was es tatsächlich heute an Ethik gibt, lebt sehr unzulänglich in der Kunst, in der Essayistik und im Chaos privater Beziehungen. Die Musik wälzt Gefühle hin und her, in denen die Gedanken von Welt und Seele wurzeln, die Malerei sucht vom »Objekt« – dem Bazillenträger der Rationalität – sich loszuheben, die Dichtung bietet das Bild eines stagnierenden, in immer wiederholten Ansätzen fortschrittslosen Zustands der Seele, alles in allem ist es eine dumpfe, sich zu unbeständigen Erscheinungen überspitzende Unzufriedenheit, eine gärende Masse, in der immer wieder die gleichen Brocken an die Oberfläche stoßen, ohne daß der Chemiker käme und die Mischung klärte.

Unsre Geistesart ist vorläufig noch gar nicht darauf eingestellt, diesen Zustand zu ändern. Die Geschichte – wie gesagt, selbst der Hilfe durch Ordnungsbegriffe bedürftig – ist nur mißbrauchtes Hilfsmittel, sie zu schaffen, und der Humanismus, den wir treiben, ist ebenso höchstens im Nebenamt vergleichend, Lebenselemente herauslösend, ethisch, sucht vielmehr möglichst das Ganze von Persönlichkeiten, Zeiten und Kulturen zu verstehn und als Muster aufzustellen. Wenn man Goethe oder Lessing kennen lehrt als die in sich geschlossenen einmaligen Totalitäten, so hat das Exemplarische dieser großen Existenzen gewiß »Bildungswert«, aber allein vermittelt ist es im Grunde doch nichts andres, als wenn man in der Physik nur die Biographien Keplers oder Newtons vorbrächte. Der wesentliche Sachwert wird vernachlässigt, neben dem Biographischen fehlt das bewußt Ideographische und wird mehr oder weniger wie im Leben so in der Schule der persönlichen Willkür und Neigung überlassen. Wenn Goethe aber gedichtet hat: »Ist auf deinem Psalter / Vater der Liebe ein Ton / Seinem Ohr vernehmlich, / So erquicke sein Herz!« so steht das doch nicht nur allein da, und nicht nur im Zusammenhang mit dem jungen, etwas lästigen Herrn Plessing und der sonstigen Goethebiographie, und nicht nur in der Klassik und der literarischen Tradition, sondern es bildet auch eine Masche in der Reihe der Menschenliebe oder der Güte, welche Reihen durch die Vorstellungswelt von Anbeginn bis heute laufen, und durch den Platz in dieser Reihe wird es erst wesentlich bestimmt.

Solche Ordnung der Kunst, Ethik und Mystik, das ist der Gefühls- und Ideenwelt, vergleicht allerdings und analysiert und faßt zusammen und ist insoweit rational und den stärksten Instinkten unsrer Zeit wesensverwandt, aber sie ist kein Widerspruch gegen die Seele; sie hat ihr eigenes Ziel, und dieses ist nicht jene Eindeutigkeit, bei der sich etwa Ethos zur Moral verdichtet oder Gefühl zur kausalen Psychologie, sondern eine Übersicht der Gründe, der Verknüpfungen, der Einschränkungen, der fließenden Bedeutungen menschlicher Motive und Handlungen – eine Auslegung des Lebens.

Es mag dieser Ausklang einer Betrachtung unserer Situation in die Forderung einer Disziplin sonderbar sein: aber eine Zeit, die solche Arbeit nicht geleistet und solche Disziplin nicht erworben hat, wird nie zur Lösung großer Ordnungsaufgaben fähig werden.

Europäertum, Krieg, Deutschtum
[1914]

Der Krieg, in andren Zeiten ein Problem, ist heute Tatsache. Viele der Arbeiter am Geiste haben ihn bekämpft, solange er nicht da war. Viele ihn belächelt. Die meisten bei Nennung seines Namens die Achseln gezuckt, wie zu Gespenstergeschichten. Es galt stillschweigend für unmöglich, daß die durch eine europäische Kultur sich immer enger verbindenden großen Völker heute noch zu einem Krieg gegeneinander sich hinreißen lassen könnten. Das dem widersprechende Spiel des Allianzensystems erschien bloß wie eine diplomatisch sportliche Veranstaltung.

Tagelang, da der phantastische Ausbruch des Hasses wider uns und Neides ohne unsre Schuld Wirklichkeit geworden war, lag es über vielen Geistern noch wie ein Traum. Kaum einer, der sein Weltbild, sein inneres Gleichgewicht, seine Vorstellung von menschlichen Dingen nicht irgendwo entwertet fühlte. Man darf vielleicht gerade diese Erschütterung, die sich jedem so deutlich einprägte, nicht überschätzen; denn fühlt einer sein letztes Stündlein in der Nähe, denkt er anders über seine Pläne und faßt Vorsätze, die auszuführen später keinen Sinn hat, weil man wieder für das Leben lebt und nicht für den Tod. Trotzdem bleibt ungeheuer, wie die plötzlich erwiesene Möglichkeit eines Krieges in unser moralisches Leben von allen Seiten umändernd eingreift, und wenn heute auch nicht der Zeitpunkt ist, über diese Fragen nachzudenken, wollen wir, vielleicht auf lange hinaus letzten Europäer, in ernster Stunde doch auch nicht auf Wahrheiten baun, die für uns keine mehr waren, und haben, bevor wir hinausziehn, unser geistiges Testament in Ordnung zu bringen.

Treue, Mut, Unterordnung, Pflichterfüllung, Schlichtheit, – Tugenden dieses Umkreises sind es, die uns heute stark, weil auf den ersten Anruf bereit machen zu kämpfen. Wir wollen nicht leugnen, daß diese Tugenden einen Begriff von Heldenhaftigkeit umschreiben, der in unsrer Kunst und unsren Wünschen eine geringe Rolle gespielt hat. Teils ohne unsre Schuld, denn wir haben nicht gewußt, wie schön und brüderlich der Krieg ist, teils mit unsrer Absicht, denn es schwebte uns ein Ideal des europäischen Menschen vor, das über Staat und Volk hinausging und sich durch die gegenwärtigen Lebensformen wenig gebunden fühlte, die ihm nicht genügten. Ein kleines äußerliches, aber in seiner Gefühlswirkung nicht unbeträchtliches Zeichen dafür war, daß die wertvollsten Geister jeder Nation meist schon in die Sprache anderer Völker übersetzt wurden, bevor sie in ihrem eigenen eine breite Wirkung erlangten. Geist war die Angelegenheit einer oppositionellen europäischen Minderheit und nicht das von dem Willen der Nachfolgenden getragene und mit Dankbarkeit ermunterte Vorausgehn eines Führers vor seinem eigenen Volke.

Daß die, welche eine neue Ordnung schauten, wenig Liebe für die bestehende hatten, lag in der Linie ihrer Aufgaben und Pflichten. Die wertvollen der seelischen Leistungen aus den letzten dreißig Jahren sind fast alle gegen die herrschende gesellschaftliche Ordnung und die Gefühle gerichtet, auf die sie sich stützt; selten als Anklage, sehr oft aber als gleichgültiges Darüberwegschauen zu den Problemen für vorausgeartete Menschen, als Enthaltung vom Gefühlsurteil und desillusionierende Konstatierung dessen, was ist. Das Wenden, Durchblicken und zu diesem Zweck Durchlöchern überkommener, eingesessener und verläßlicher seelischer Haltungen: es besteht kein Grund zu verschweigen, daß dies eine der Haupterscheinungen unserer Dichtung war. Dichtung ist im Innersten der Kampf um eine höhere menschliche Artung; sie ist zu diesem Zweck Untersuchung des Bestehenden und keine Untersuchung ist etwas wert ohne die Tugend des kühnen Zweifels. Unsere Dichtung war eine Kehrseitendichtung, eine Dichtung der Ausnahmen von der Regel und oft schon der Ausnahmen von den Ausnahmen. In ihren stärksten Vertretern. Und sie war gerade dadurch in ihrer Art von dem gleichen kriegerischen und erobernden Geist belebt, den wir heute in seiner Urart verwundert und beglückt in uns und um uns fühlen.

Als gieriger mit jeder neuen Stunde Todesfinsternis um unser Land aufzog und wir, das Volk im Herzen Europas und mit dem Herzen Europas, erkennen mußten, daß von allen Rändern dieses Weltteils eine Verschwörung herbrach, in der unsre Ausrottung beschlossen worden war, wurde ein neues Gefühl geboren: – die Grundlagen, die gemeinsamen, über denen wir uns schieden, die wir sonst im Leben nicht eigens empfanden, waren bedroht, die Welt klaffte in Deutsch und Widerdeutsch, und eine betäubende Zugehörigkeit riß uns das Herz aus den Händen, die es vielleicht noch für einen Augenblick des Nachdenkens festhalten wollten. Gewiß, wir wollen nicht vergessen, daß stets auch die andern das gleiche erleben; wahrscheinlich sind die, welche drüben unsre Freunde waren, genau so in ihr Volk hineingerissen, vielleicht vermögen sie sogar das Unrecht ihres Volkes zu durchschaun und es zieht sie doch mit. Unsre Skepsis verlangt diese Vorstellungen. Wir wissen nicht, was es ist, das uns in diesen Augenblicken von ihnen trennt und das wir trotzdem lieben; und doch fühlen wir gerade darin, wie wir von einer unnennbaren Demut geballt und eingeschmolzen werden, in der der einzelne plötzlich wieder nichts ist außerhalb seiner elementaren Leistung, den Stamm zu schützen. Dieses Gefühl muß immer dagewesen sein und wurde bloß wach; jeder Versuch, es zu begründen, wäre matt und würde aussehn, als müßte man sich überreden, während es sich doch um ein Glück handelt, über allem Ernst um eine ungeheure Sicherheit und Freude. Der Tod hat keine Schrecken mehr, die Lebensziele keine Lockung. Die, welche sterben müssen oder ihren Besitz opfern, haben das Leben und sind reich: das ist heute keine Übertreibung, sondern ein Erlebnis, unüberblickbar aber so fest zu fühlen wie ein Ding, eine Urmacht, von der höchstens Liebe ein kleines Splitterchen war.