Anders Günther: Die Antiquiertheit des Menschen

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Einer der Pioniere im Kampf gegen die Atombombe und gegen Atomkraftwerke ist der Philosoph Günther Anders (1902-1992). Die Atombombe ist das zentrale Thema seines Buches "Die Antiquiertheit des Menschen". Der erste Teil, erschienen 1956, handelt "Über die Seele im Zeitalter der Zweiten Industriellen Revolution". Der zweite Teil besteht aus Essays, Analysen, Diagnosen und Prognosen, die Anders nach dem II. Weltkrieg sukzessive bis zum Erscheinungsdatum 1979 geschrieben hat. Hier einige Zitate aus dem Teil II mit dem Titel: "Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der Dritten Industriellen Revolution", eine "Anthropologie im Zeitalter der Technokratie".

Anders G Vita

Vita (c) Internationale Günther Anders Gesellschaft, Nationalbibliothek Wien

Siehe auch: Der Begriff der Geschichte bei Günther Anders
Diplomarbeit von Philippe Armand Rene Mosshammer, Download als pdf auf dem Server der UNI Wien

Atombombe

Friedliche Kernkraft ist nicht möglich

"Unter 'Technokratie' verstehe ich nicht die Herrschaft von Technokraten (...), sondern die Tatsache, daß die Welt, in der wir heute leben und die über uns befindet, eine technische ist - was so weit geht, daß wir nicht mehr sagen dürfen, in unserer geschichtlichen Situation gebe es u.a. auch Technik, vielmehr sagen müssen: in dem 'Technik' genannten Weltzustand spiele sich nun die Geschichte ab, bzw. die Technik ist nun zum Subjekt der Geschichte geworden, mit der wir nur noch 'mitgeschichtlich' sind." (317)

"Nun gilt aber nicht nur, daß alles Machbare gesollt ist, sondern auch, daß jede dem Gemachten zugedachte Verwendung auch wirklich durchgeführt werden soll; nicht nur, daß keine Waffe je erfunden worden ist, die nicht auch effektiv hergestellt worden wäre; sondern daß auch keine je hergestellt worden ist, die nicht auch effektiv eingesetzt worden wäre. Nicht nur ist das Gekonnte das Gesollte, sondern auch das Gesollte das Unvermeidliche." (325)

"'Verwendet' sind auch diejenigen von A produzierten Waffen, deren Einsatz in Bedrohung bzw Erpressung besteht, die aber den virtuellen Gegner zur Waffenverbesserung seinerseits zwingt, auf die A nun wiederum mit der Herstellung 'noch besserer' Waffen reagieren muß. Seit 1945 haben die Vereinigten Staaten die Sowjetunion benötigt, um diese Lizitierung durchzuführen und dadurch die Steigerung der eigenen Waffenproduktion aufrechtzuerhalten. Wenn es die Sowjetunion nicht gegeben hätte, die Vereinigten Staaten hätten sie erfinden müssen." (326)

"Nicht also, weil sie physikalisches Novum ist - das ist sie auch - ist die Kernkraft das Symbol der dritten industriellen Revolution, sondern deshalb, weil ihr möglicher oder wahrscheinlicher Effekt - was von keinem früheren menschlichen Effekt je hatte behauptet werden können - metaphysischer Natur ist. 'Metaphysisch' nenne ich den Kernkraft-Effekt deshalb, weil das Beiwort 'epochal' noch das Weitergehen der Geschichte und die Nachfolge weiterer Epochen als Selbstverständlichkeit unterstellt - eine Unterstellung, die uns Heutigen nicht mehr erlaubt ist. ... Diese dritte Revolution ist die letzte." (328) Innerhalb dieser endgültigen industriellen Revolution gibt es allerdings noch eine Reihe von "Binnenrevolutionen", wie Günther Anders weiter ausführt.

"Das Wesen der Konsumwaren besteht darin, daß sie da sind, um nicht dazusein. Sie werden hergestellt, um im Gebrauch so rasch wie möglich verbraucht zu werden. ... Auch die Waffen gehören in diese Klasse der idealen Gegenstände, der Gegenstände, die durch (den ersten) Gebrauch verbraucht werden sollen. Eine Napalm-Bombe kann man so wenig zweimal werfen, wie man eine Semmel zweimal essen kann." (355)

"Wer einmal eine Atombombenexplosion als ins Haus geliefertes Bild, also in Form einer tanzenden Postkarte, in seinem wohlgeheizten Zimmer konsumiert hat, der wird nunmehr alles, was er sonst über die Atomsituation hören mag, mit diesem einmal gesehenen nippes-artigen Heimereignis assoziieren und damit der Fähigkeit beraubt sein, die Sache selbst aufzufassen und zu dieser eine angemessene Stellung zu beziehen. Was geliefert wird, und zwar in flüssigem Zustand, das heißt: so, daß es unmittelbar geschluckt werden kann, macht Auseinandersetzungen unmöglich, weil überflüssig." (553)

"Unvergeßlich für mich, daß in New York bereits eine Woche nach der Verwüstung von Hiroshima ein Burlesque Theatre mit den Worten: 'Sensational An-atomic Bombs! Step Inside!' die Passanten hereinzulocken versuchte. Duch diese fünf Wörter war nach der Auslöschung der Stadt auch die Tatsache dieser Auslöschung ausgelöscht." (610)

"Carter erklärte laut Herald Tribune, die nuklearen Aufbereitungsanlagen könnten in 'falsche Hände', in die von 'Kriminellen' fallen. Welche Naivität! So als wenn es 'richtige Hände', nichtkriminelle Eigentümer des Monströen gäbe! Wird nicht jede Hand, die solche Installationen 'hält', eben durch dieses ihr Halten, bereits zur 'falschen', zur kriminiellen Hand? War etwa Trumans Hand und seine Verwendung der zwei Bomben im Jahre 1945 deshalb weniger 'falsch', weil er erbärmlicherweise Präsident der USA war?" (634)


Technkokratie als Weltherrschaft

Um das Opus Magnum von Günther Anders angemessen zu würdigen, müsste man eine Dissertation verfassen. Doch der Autor der "Antiquiertheit des Menschen", der sich bewusst gegen eine Karriere im akademischen Bereich entschieden hat, würde sich wohl mehr freuen, wenn Interessenten zur Primär- statt zu Sekundärliteratur greifen. So möge es gelingen, ein paar Schlüsselbegriffe seines Werkes zu erörtern und mit einer kleinen Auswahl seiner Gedanken die Leser zur Lektüre des Buches anzuregen.

"Technokratie" ist einer der Schlüsselbegriffe um zu verstehen, was Günter Anders mit "Antiquiertheit des Menschen" meint. War bislang jede Herrschaftsform, egal ob Formen der Diktatur oder Formen der Demokratie, immer noch anthropozentrisch, d.h. Kratos (Herrschaft, Macht) von Menschen über Menschen, so herrscht heute die Technik über den Menschen. Die totale Macht, die die Atombombe über den Menschen ausübt, ist unauslöschlich, endgültig. Selbst wenn sich die Atommächte darauf einigen würden, ihre Arsenale komplett abzurüsten, wäre diese Macht nicht besiegt, weil man die Pläne und das Wissen zur Erzeugung der Atombomben nicht mehr auslöschen kann. Technik, die Menschen in Jahrtausenden entwickelt haben, hat den Menschen (sowohl jedes Individuum, als auch die Menschheit als Ganzes) in nur wenigen Jahrzehnten überrumpelt: die Technik hat die Herrschaft über den Menschen übernommen. Es liegt nicht mehr in der Freiheit des Menschen, die Technik zu nutzen oder nicht, sie friedlich oder kriegerisch einzusetzen, denn: "Nicht nur ist das Gekonnte das Gesollte, sondern auch das Gesollte das Unvermeidliche."

Maria Wölflingseder kommentiert: "Gesellschaftskritik, insbesondere Technikkritik, ist heute auf geradezu gespenstische Weise mit einem Tabu belegt. Selbst der Begriff „Technokratie“ ist verschwunden. Das bedeutet wohl nicht, dass es diese nicht gibt, sondern dass sie eine selbstverständliche, unhinterfragbare Gegebenheit geworden ist. Trotzdem hat ein mediales Gezeter angehoben über die angebliche Wissenschaftsfeindlichkeit der Bevölkerung. Dieser Vorwurf richtet sich jedoch auch gegen Kritik-Übende. Diese werden sogleich als Feinde identifiziert und an den Pranger gestellt." (Streifzüge 2022-85)

"Kernkraft ist das Symbol der dritten industriellen Revolution", doch die Technokratie reicht viel weiter. Alles was Anders darüber geschrieben hat - Jahrzehnte vor Anbruch (oder Ausbruch?) der Digitalisierung - ist auch im Internet-Zeitalter gültig geblieben. Auch wenn die Kernkraft in Österreich und Deutschland politisch abgeschrieben wurde, wird diese weltweit herrschende Technik darauf wenig Rücksicht nehmen. In der EU wird die "neue Atomkraft" als "sauber" und "ökologisch" gepriesen und zwängt sich durch das Internet geradezu auf; denn das Internet ist bereits für große Teile des Stromverbrauchs "verantwortlich". (JRC, das Joint Research Center das offizielle Forschungscenter der EU vereint Forschung und Entwicklung von EU-Empfehlungen in den Bereichen der erneuerbaren Energie sowie der Atom-Energie.)

Anders schreibt über die Atomkraft, sie sei omnipotent und damit Gott gleich. Dies gilt umso mehr für das Internet, es ist gleichzeitig physisch (Hardware) und metaphysisch (Software, die Kernkraft des Internet im doppelten Sinne), es ist nicht nur omnipotent, sondern auch omniscient und omnipräsent. Dazu kommt, das Internet ist so wie Gott nicht greifbar, es hat keinen Anfang und kein Ende.

Seit etwa zwei Jahrzehnten spricht man von der vierten industriellen Revolution, Industrie 4.0 und Internet 4.0. Im Kapitel "Die drei industriellen Revolutionen" verlegt Anders die erste industrielle Revolution (1.IR) auf den Augenblick, "in dem man damit begann, das Prinzip des Maschinellen zu iterieren, das heißt: Maschinen oder mindestens Maschinenteile, maschinell herzustellen." (323) Damit weicht er von der seit Karl Marx üblichen Einteilung ab, der die 1.IR mit dem Wechsel von der Manufaktur zur Industriellen Fertigung ansetzt. Mächtiger Repräsentant dieser Wende ist die Dampfmaschine, essenzieller Bestandteil des Systemwechsels ist die Entfremdung der Arbeiter von den Produkten, die sie herstellten. Ob Herstellung von Maschinen zur Erzeugung von Produkten, oder zur Erzeugung weiterer Maschinen - industrielle Fertigung von Produkten, die gebraucht und verbraucht werden, kennzeichnen die 1.IR. Darauf folgt das "Stadium, in dem Bedürfnisse produziert werden müssen", dies ist der Beginn der zweiten industriellen Revolution (2. IR) Möglich wird die flächendeckende Erzeugung von Bedürfnissen durch die Telekommunikation, durch Telefon, Rundfunk und Fernsehn. Die 2.IR kennt noch Grenzen, die industrielle Erzeugung von Bedürfnissen war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA deutlich erfolgreicher als in Europa und Asien. Erst die dritte Industrielle Revolution war weltumspannend und zwar schlagartig, während sich die 1.IR noch über rund ein Jahrhundert und die 2.IR über etwa 50 Jahre hinzogen. "Diese dritte Revolution ist also die letzte". (328) Anders gesagt: "Die Epoche der Epochenwechsel ist seit 1945 vorüber. Nunmehr leben wir in .... einer 'Frist', während derer unser Sein pausenlos nichts anders mehr ist als ein 'Gerade noch sein'". (328)

So gesehen konnte und kann Industrie 4.0 - die Vernetzung aller Befehlszentren (die den betrügerischen Namen "Server" tragen) mit allen Dingen (IoT Internet of Things) - wie andere Revolutionen davor, "wie spektakulär sie auch sein mögen, doch nur innerhalb des dritten Stadiums stattfinden". (329) Eine Revolution dieser Art ist die Erfindung des Elements 94 (Plutonium), "das es bis vor kurzem 'nicht gegeben' hat, und das erst durch den Eingriff des wahrhaft 'gottgleichen' Menschen, nämlich durch die Bearbeitung von U 238, im Umkreis des Seienden, im Umkreis der Natur aufgetaucht ist. (Und zwar als das fürchterlichste Gift, das es nun in der Natur gibt.)" (330) Eine weitere Revolution: künstliche Inseminierung, die "ja heute nicht nur in der Viehhaltung, sondern auch schon bei Menschen ausgeübt" wird. Das ist jedoch erst der Beginn einer Entwicklung, die vor 40 Jahren noch in den Kinderschuhe steckte: Cloning, Gen-Manipulierung, die "Möglichkeit, neuartige 'unerhörte' und nicht vorgesehene Arte von Spezies, oder sogar Duplikate von bestehenden Individuen, herzustellen." (332) Eine weitere "Binnenrevolution" sei der Trend, den Menschen überflüssig zu machen. "Worauf heutige Unternehmer aus sind, und das nicht nur in der kapitalistischen Welt, ist nicht Arbeitslosigkeit des Arbeiters, sondern Arbeitslosigkeit ihrer Betriebe. Laut 'Spiegel' (17.4.78) prahlt heute bereits der japanische Konzern Kawasaki mit einer 'unmanned factory'. Nicht zufällig erinnert dieser Ausdruck an militärische Anlagen". (334)

Anders prognostiziert, dass die Rationalisierung "einen Zustand herbeiführt, in dem Arbeit von Tag zu Tag rarer und unüblicher wird; in dem diese, weit entfernt davon, als Fluch zu gelten - darin hat die Bibel heute total unrecht - , als Anrecht beansprucht und als Privileg einer von Tag zu Tag schmaler werdenden Elite reserviert werden wird. Was den meisten von uns ins Haus steht, ist also eine Existenz ohne Arbeit - womit ich (unterstellt selbst, unsere Lebensqualität würde dadurch nicht tangiert) ein höllisches Dasein meine". Die Menschen in einer "Existenz ohne Arbeit" werden "um eine der stärksten und wichtigsten und beliebtesten Lüste, nämlich um die 'voluptas laborandi' betrogen"; so bleibt der Mehrheit der Menschen nur (in Abwandlung von Genesis 3, 14): "Auf deinem Hintern sollst du sitzen und TV anglotzen dein Leben lang!"


Die Produktion der Phantome

Günther Anders flüchtete 1933 aus Deutschland nach Paris und  lebte ab 1936 in den USA, bis er 1950 nach Wien übersiedelte. Er hat in den USA die Entwicklung des Fernsehens hautnah miterlebt. 1951 gab es (laut wikipedia) in den USA bereits 10 Millionen, ein Jahr später 15 Millionen Fernsehteilnehmer, während diese Entwicklung in Deutschland (BRD) gerade mal startete und Ende 1952 insgesamt nur 300 Fernsehteilnehmer zu verzeichnen hatte. Es dauerte fünf Jahre, bis eine Million Fernsehgeräte in den Haushalten der BRD standen. (Quelle wikipedia)

Schon in der Einleitung der "Antiquiertheit" kritisiert Anders den "post-literarischen Analphabetismus", die "globale Bilderflut", die über Illustrierte, Filme und Fernsehen "zum Angaffen von Weltbildern, also zur scheinbaren Teilnahme an der Ganzen Welt einladen". (15) Im zweiten Kapitel des 1. Teils, "philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen", geht Anders in die Tiefe. Der Titel dieses Kapitels bringt seine Überlegungen auf den Punkt: "Die Welt als Phantom und Matrize". Anders hat sich mit diesem Essay als erster "Medientheoretiker" positioniert. In insgesamt 28 Paragrafen begründet er seine "These, daß Bildsein heute als 'seiender' gelte als Sein". (204) Hier einige der Paragrafen bzw Thesen von Anders:

§ 4 Da die TV-Geräte uns das Sprechen abnehmen, verwandeln sie uns in Unmündige und Hörige.

§ 12 Bild und Abgebildetes im TV sind synchron. Synchronie ist die Verkümmerungsform der Gegenwart.

§ 14 Alles Wirkliche wird phantomhaft, alles Fiktive wirklich.

§ 18 Sendungen löschen den Unterschied zwischen Sache und Nachricht aus. Sie sind verbrämte Urteile.

§ 21 Die Prägung der Bedürfnisse. Angebote - die Gebote von heute.

§ 24 Die Phantome sind nicht nur Matrizen der Welterfahrung, sondern der Welt selbst.

"Die Absicht der Bildlieferung, ja der Lieferung des ganzen Weltbildes, besteht eben [...] darin, das Wirkliche abzudecken, und zwar mit Hilfe des angeblichen Wirklichen selbst; also die Welt unter ihrem Bilde zu Verschwinden zu bringen." (154)

"Das eigentümlich Zweideutige an Rundfunk- und Bildfunksendungen besteht darin, daß sie den Empfänger von vornherein und prinzipiell in einen Zustand versetzen, in dem der Unterschied zwischen Erleben und Benachrichtigtsein, zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung ausgelöscht ist; in dem es unklar ist, ob er vor einer Sache stehe oder vor einer Tatsache, vor einem Gegenstand oder vor einem Faktum." (159)

"Was uns von der Nachricht gilt: daß sie uns unfrei mache, weil sie uns das Abwesende nur in seiner vorgegebenen, präparierten, prädizierten Fertigwaren-Version zeigt oder gar nicht, das gilt um so mehr von der Sendung: Des eigenen Urteils sind wir enthoben; und um so gründlicher, als wir uns nicht dagegen wehren können, das gelieferte Urteil als die Wirklichkeit selbst entgegenzunehmen." (163)

"Nicht im Zeitalter des Surrealismus leben wir, sondern in dem des Pseudo-Realismus; im Zeitalter der Verbrämungen, das sich als Zeitalter der Enthüllungen verbrämt. Wo man lügt - und wo täte man das nicht? - lügt man nicht mehr wie gedruckt, sondern wie photographiert, nein, nicht wie photographiert, sondern effektiv photographiert." (166)

"Je unbemerkter der Prägungsdruck sich vollzieht, desto gesicherter sein Erfolg. Am günstigsten wird es daher sein, wenn die prägende Matrize als gewünschte Matrize empfunden wird. Soll dieses Ziel erreicht werden, dann ist es also nötig, zuvor die Wünsche selbst zu prägen. Zu den Standardisierungs-, ja zu den Produktionsaufgaben von heute gehört demnach nicht nur die Standardisierung der Produkte, sondern auch die der Bedürfnisse. [...] Die Maxime .. lautet: 'Lerne dasjenige zu bedürfen, was dir angeboten wird! Denn die Angebote sind die Gebote von heute.'" (171)

"Die Tatsache, daß nicht nur unsere Erfahrungen modelliert werden, sondern sogar unsere Bedürfnisse, stellt die Maximalleistung der Matrize dar." (178)

 


 

Apokalypse / Apokalypse-Blindheit / Endzeit / Prometheische Scham / Moral

Am Anfang und am Ende der "Antiquiertheit" steht die Apokalypse. Biblisch gesprochen: schon am Anfang war "Schluss mit Lustig": die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Am Ende die Apokalypse als "Jüngstes Gericht" mit "Heulen und Zähneknirschen" als Erlösung der Menschheit. Anders bzw mit Anders gesprochen: am Anfang steht die Pometheische Scham und am Ende die Apokalypse-Blindheit, d.h. die Auslöschung des Menschen durch die Atombombe, deren Bedrohung wir aber nicht wahr haben wollen, deren Endgültigkeit unvorstellbar ist.

Der biblische Schöpfungsakt, nachdem Gott aus Erde Adam und aus einer Rippe Adams Eva geschaffen hatte, endet mit der Feststellung: "Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht." (1 Gen 2, 25) Erst als sie gegessen hatten vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse erkannten sie, dass sie nackt waren und bedeckten ihre Scham. Das Schamgefühl folgt unmittelbar auf die Fähigkeit der Erkenntnis, und Erkenntnis selbst ist die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden.

In der griechischen Mythologie ist Prometheus der Lehrmeister des Menschen und der Überbringer des Feuers. Anders bzw mit Anders betrachtet ist Prometheus der Schöpfer des Menschen, wenn man den homo faber, den Menschen, der imstande ist Werkzeuge zu produzieren, als eigentlichen Menschen betrachtet. Denn erst mit dem Feuer des Prometheus konnte der Mensch jene Werkzeuge schaffen, die in der Neuzeit zu den industriellen Revolutionen geführt haben.

Die Menschen haben in der dritten industriellen Revolution die Beherrschung der Technik so weit perfektioniert, dass sie die Technik aus der Hand geben konnten. Seither beherrscht die Technik den Menschen (Technokratie); so sind die Menschen heute "Prometheiden". Anders erläutert: "Zerfleischung erleiden auch sie - nur eben nicht deshalb, weil ein Zeus ihre zu hochfliegenden Ambitionen bestrafte, sondern weil sie sich selbst züchtigen für die Tatasche, ihrer 'Zurückgebliebenheit', für die 'Schande ihrer Geburt'." (57) Die "prometheische Scham" bedeutet: "Ich schäme mich vor dem, was mir überlegen ist, ergo sieht es mich." (86)

Nachdem nun (24.2.23) seit einem Jahr wieder Krieg in Europa ist, und sich zwei Atommächte (USA und Russland) direkt und indirekt gegenüber stehen, drohen Imperatoren (Biden ebenso wie Putin) erstmals seit vielen Jahrzehnten wieder mit dem Atomkrieg. Wie Günther Anders richtig vorhergesehen hat, konnten die Abrüstungsmaßnahmen nach dem Ende des Kalten Krieges die real existierende Gefahr des Atomkriegs nicht aus der Welt schaffen. So wie wir seit über zwei Jahrzehnten geblendet waren von der schönen neuen digitalen Welt, in der auch der Krieg scheinbar ins Cybernet abgewandert ist, so sehen wir heute: der Krieg war immer da, allerdings nicht immer in Europa und nicht immer mit Panzern, Raketen und MPs. Immer noch blind sind wir gegenüber der potenziellen Auslöschung der Menschheit durch die Atombombe, denn unsere Vorstellungskraft reicht nicht aus, um die totale Zerstörung nachzuvollziehen, genauer gesagt: der Mensch ist unfähig, die atomare Zerstörung rational und emotional vorwegzunehmen und zu erfassen.

Wir sind Titanen (so wie Prometheus). "Mindestens für die mehr oder minder kurze Frist, in der wir omnipotent sind, ohne von dieser unserer Omnipotenz endgültig Gebrauch gemacht zu haben." (233). "Und wenn sich etwas verändert hat, dann nur zum Böseren, weil es ja die Menschheit als ganze ist, was heute tötbar ist, und nicht nur 'alle Menschen'." (237) "Die Herstellung und dem Einsatz des Dings [Anm: der Atombombe] steht nichts im Wege: Denn es ist gerade die große Zahl der Mitbeteiligten und die Kompliziertheit des Apparates, was die Verhinderung verhindert." (240) "Klassifizieren kann man die Bombe nicht. Sie ist ontologisch eine Unikum. Und das macht ihren anarchischen Charakter aus. Wesen, die man nicht klassifizieren konnte, nannte man früher 'monströs'; das heißt: als 'monstra' hatten Wesen gegolten, die, obwohl sie kein 'Wesen' hatten, doch da-waren und, der Frage, was sie seien, ins Gesicht lachend, ihr Unwesen trieben. Ein solches Wesen ist die Bombe. Sie ist da, obwohl wesenlos. Und ihr Unwesen hält uns in Atem." (247)

Günther Anders kritisiert im Kapitel "über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit" auch das systemische Versagen der akademischen Philosophie, die sich "ja gewöhnlich erst dann bequemt, die Schläge, die die Wirklichkeit auf uns niederfallen läßt, in 'Probleme' zu verwandeln, wenn die Opfer dieser Schläge nicht nur schon tot, sondern auch schon vergessen sind." (231) Der Philosoph verweist darüber hinaus auf historische Zusammenhänge, die heute wohl alle Vertreter der "political correctness", und damit auch die Mehrheit der Philosophie-Professoren, zensurieren würden: "Wenn man ihre Konstruktion während des Krieges mit solchem Eifer vorwärtstrieb, so zum großen Teil deshalb, weil man der Verwendung der Waffe durch Hitler, der schließlich Massenliquidierungen zum Prinzip gemacht hatte, zuvorkommen mußte. Es ist entsetzlich, daß das Vorbeugungsmittel sich 'am Feind infiziert' hat; und daß die Massenmorde von Nagasaki und Hiroschima, aber auch die heutigen sogenannetn 'Experimente', zu Zwillingsereignissen der organisierten Liquidierungen Hitlers geworden sind." (747)

Wenn sich die Menschen, anstatt sich reflexartig über Günther Anders zu entrüsten, mit ihm entsetzen würden, dann könnte es passieren, dass ihnen ihre Apokalypse-Blindheit wie Schuppen von den Augen fällt, so wie geschrieben steht: "Und alsobald fiel es von seinen Augen wie Schuppen, und er ward wieder sehend." (Apostelgeschichte 9,18) Doch kann man der Logik der Zerstörung durch ein Wunder entkommen?

In den "methodologischen Nachgedanken" können wir keine eindeutige Antwort, aber Spuren einer Antwort auf diese Frage finden. "Das Ssytem als Philosophie-Typ stirbt aus oder ist bereits ausgestorben," erklärt Anders und geht so weit, zu behaupten: "Meine Überlegungen waren unphilosophisch - was freilich nicht nur von meinen Reflexionen gilt". (714) Er geht noch einen Schritt weiter: "Daß diese Reflexionen, obwohl in ihnen kein Gott figuriert, nicht anders denn als 'theologisch' bezeichnet werden können, das läßt sich wohl nicht bestreiten." (704). Natürlich will Anders mit dieser Aussage sowohl Berufsphilosophen als auch Berufstheologen provozieren, denn er will kein rationales, metaphysisches System zur Welterklärung zu errichten. Statt dessen konzentriert sich Anders auf die "Möglichkeit von Deutung" und die "Dialektik der Deutung", eine Methode, die Wittgenstein als Sprachspiel bezeichnet hat.

"Gedeutet werden und sich deutlich machen kann allein Lebendiges. Und zwar deshalb, weil allein Lebendiges sich äußert. Nur Äußerungen lassen sich deuten. Der Mond nicht. Wohl aber ein Menschenbild." (717) Auch Apparate, Geräte, Werkzeuge lassen sich nicht deuten. Die Technik ist so kompliziert geworden, "daß ihr die Sinnlichkeit nicht mehr gewachsen ist (in der Tat ist Technik heute 'übersinnlich')". (720) "So sehen z.B. die Kernkraftwerke 'nach nichts' aus, etwa wie Moscheen mit Schornsteinen; und zeigen nicht im mindesten, was sie ausrichten sollen und ausrichten können, welche enorme Leistung sie bergen und welche enorme Drohung sie verbergen." (721)

Der Mensch ist antiquiert, weil er die Technik nicht mehr durchschaut, nicht mehr als Ganzes verstehen kann, als Spezialist bestenfalls Details des Ganzen. "Jeder von uns ist heute 'von gestern'. In diesem 'gap' besteht der ideologische Zustand unseres Zeitalters, das Gefälle, das ich im ersten Bande das 'prometheische' genannt hatte. Und unser Verhängnis". (724) Um dem Verhängnis, Zugzwang, Schicksal oder auch nur dem Konsumterror nicht tatenlos ausgeliefert zu sein, kann "prognostisches Verstehen" (so würde Anders das Deuten nennen, wenn er einen "akademischen Text" geschrieben hätte) Abhilfe schaffen. "Deuten ist heute nicht das Spezialgeschäft von 'Geisteswissenschaftlern', vielmehr ist es zur moralischen Aufgabe von uns allen geworden."

Zur Deutung gehören auch Diagnose und Prognose. Diagnose war Kernkompetenz der Ärzte, die ihren Beruf noch als Heilkunst verstanden haben, während die Apparatemediziner von heute nur mehr gemäß Testergebnis streng nach Protokoll Reparaturen mit Maschinen und Medikamenten vornehmen. Prognose war seit jeher das "Spezialgebiet" der Mystiker und Propheten, während in unserer profanen Zeit "Zukunftsforscher" und "Meinungsforscher" mit vorgeblich wissenschaftlichen Methoden den Anspruch erheben, heute schon zu wissen, was morgen passieren wird. Die Fähigkeit zu Deuten ist weitgehend verloren gegangen.

Gleichsam als Hausaufgabe zur Einübung und Stärkung unserer Deutungskraft kann der Schlusssatz aus dem Kapitel "Die Antiquiertheit der Bosheit" dienen: "Der Teufel hat eine neue Wohnung bezogen. Und wenn wir auch unfähig sind, ihn über Nacht auszuräuchern - wenn wir ihn überhaupt ausräuchern wollen - dann müssen wir mindestens wissen, wo er sich verbirgt, und wo wir ihn auffinden können. Damit wir ihn nicht in einem Winkel bekämpfen, in dem er schon längst nicht mehr hockt; und damit wir nicht aus dem Nebenzimmer von ihm gefoppt werden." (708)

Resümee: Nicht nur um das Monströse zu beschreiben und zu deuten, auch um aufzurütteln und die schlafende Masse aufzuwecken, schlüpft Günther Anders in die Rolle des Untergangs-Propheten, der uns eindringlich vor Augen führt, dass uns Rundfunk, Fernsehen und heute umso mehr das Internet eine Welt vorspiegeln, die nur deshalb so ist, wie sie ist, weil wir offenbar gerne in den Spiegel schauen, weil wir lieber Bilder anschauen, als uns selbst der Wirklichkeit auszusetzen.

Der TV-Bildschirm hat zu Günther Anders' Zeiten den privaten Raum okkupiert, hat uns die Phantome der Sender live ins Wohnzimmer gebracht. Der Bildschirm der allgegenwärtigen Smartphones liefert heute buchstäblich Tag und Nacht Bilder aus und in die Phantomwelt - heute nennen wir sie virtual Reality, die als Cloud immer und überall über uns schwebt.

Während wir uns kaum noch bewegen, bewegen uns die Bilder. Selbst als Touristen sammeln die Menschen keine Erlebnisse in fremden Welten, sondern nur Bilder, die sie bereits aus dem Internet kennen. Auch die ärgsten Gräuel unserer Zeit lassen wir ganz nah an uns heran, denn wir haben einen Schutzschirm, der immer wirkt: den Bildschirm. Der Verlust von Realitätsgefühl hängt damit zusammen, dass wir für alle Probleme dieser Welt - egal ob Bombenabwürfe in Kriegsgebieten oder Bettler auf der Straße - diesen einen Schutzschirm haben.

Das Smartphone bringt uns die Welt näher, egal wo wir sind, und uns zur Welt, egal wo diese ist. Das ist unser Verhängnis, unser Schicksal, an dem wir hängen. Aber wir können den Kopf aus der Schlinge ziehen! Immer noch, und bis zur letzten Minute bevor ein Imperator dieser Welt auf den roten Knopf drückt, können wir die Verantwortung für unser Handeln und einen Teil unserer Welt übernehmen. Mit Kant könnte man sagen: sapere aude! Und mit Günhter Anders wollen wir schließen - klassisch philosophisch mit einer Frage: "Vor 180 Jahren hat Friedrich Schlegel die Historiker 'rückwärts gekehrte Propheten' genannt. Hätten wir nicht heute das Recht, Prognostiker als 'vowärts gekehrte Historiker' zu bezeichnen?" (727)

Alle Zitate aus:

Günther Anders

Die Antiquiertheit des Menschen, München 1980