Technkokratie als Weltherrschaft
Um das Opus Magnum von Günther Anders angemessen zu würdigen, müsste man eine Dissertation verfassen. Doch der Autor der "Antiquiertheit des Menschen", der sich bewusst gegen eine Karriere im akademischen Bereich entschieden hat, würde sich wohl mehr freuen, wenn Interessenten zur Primär- statt zu Sekundärliteratur greifen. So möge es gelingen, ein paar Schlüsselbegriffe seines Werkes zu erörtern und mit einer kleinen Auswahl seiner Gedanken die Leser zur Lektüre des Buches anzuregen.
"Technokratie" ist einer der Schlüsselbegriffe um zu verstehen, was Günter Anders mit "Antiquiertheit des Menschen" meint. War bislang jede Herrschaftsform, egal ob Formen der Diktatur oder Formen der Demokratie, immer noch anthropozentrisch, d.h. Kratos (Herrschaft, Macht) von Menschen über Menschen, so herrscht heute die Technik über den Menschen. Die totale Macht, die die Atombombe über den Menschen ausübt, ist unauslöschlich, endgültig. Selbst wenn sich die Atommächte darauf einigen würden, ihre Arsenale komplett abzurüsten, wäre diese Macht nicht besiegt, weil man die Pläne und das Wissen zur Erzeugung der Atombomben nicht mehr auslöschen kann. Technik, die Menschen in Jahrtausenden entwickelt haben, hat den Menschen (sowohl jedes Individuum, als auch die Menschheit als Ganzes) in nur wenigen Jahrzehnten überrumpelt: die Technik hat die Herrschaft über den Menschen übernommen. Es liegt nicht mehr in der Freiheit des Menschen, die Technik zu nutzen oder nicht, sie friedlich oder kriegerisch einzusetzen, denn: "Nicht nur ist das Gekonnte das Gesollte, sondern auch das Gesollte das Unvermeidliche."
Maria Wölflingseder kommentiert: "Gesellschaftskritik, insbesondere Technikkritik, ist heute auf geradezu gespenstische Weise mit einem Tabu belegt. Selbst der Begriff „Technokratie“ ist verschwunden. Das bedeutet wohl nicht, dass es diese nicht gibt, sondern dass sie eine selbstverständliche, unhinterfragbare Gegebenheit geworden ist. Trotzdem hat ein mediales Gezeter angehoben über die angebliche Wissenschaftsfeindlichkeit der Bevölkerung. Dieser Vorwurf richtet sich jedoch auch gegen Kritik-Übende. Diese werden sogleich als Feinde identifiziert und an den Pranger gestellt." (Streifzüge 2022-85)
"Kernkraft ist das Symbol der dritten industriellen Revolution", doch die Technokratie reicht viel weiter. Alles was Anders darüber geschrieben hat - Jahrzehnte vor Anbruch (oder Ausbruch?) der Digitalisierung - ist auch im Internet-Zeitalter gültig geblieben. Auch wenn die Kernkraft in Österreich und Deutschland politisch abgeschrieben wurde, wird diese weltweit herrschende Technik darauf wenig Rücksicht nehmen. In der EU wird die "neue Atomkraft" als "sauber" und "ökologisch" gepriesen und zwängt sich durch das Internet geradezu auf; denn das Internet ist bereits für große Teile des Stromverbrauchs "verantwortlich". (JRC, das Joint Research Center das offizielle Forschungscenter der EU vereint Forschung und Entwicklung von EU-Empfehlungen in den Bereichen der erneuerbaren Energie sowie der Atom-Energie.)
Anders schreibt über die Atomkraft, sie sei omnipotent und damit Gott gleich. Dies gilt umso mehr für das Internet, es ist gleichzeitig physisch (Hardware) und metaphysisch (Software, die Kernkraft des Internet im doppelten Sinne), es ist nicht nur omnipotent, sondern auch omniscient und omnipräsent. Dazu kommt, das Internet ist so wie Gott nicht greifbar, es hat keinen Anfang und kein Ende.
Seit etwa zwei Jahrzehnten spricht man von der vierten industriellen Revolution, Industrie 4.0 und Internet 4.0. Im Kapitel "Die drei industriellen Revolutionen" verlegt Anders die erste industrielle Revolution (1.IR) auf den Augenblick, "in dem man damit begann, das Prinzip des Maschinellen zu iterieren, das heißt: Maschinen oder mindestens Maschinenteile, maschinell herzustellen." (323) Damit weicht er von der seit Karl Marx üblichen Einteilung ab, der die 1.IR mit dem Wechsel von der Manufaktur zur Industriellen Fertigung ansetzt. Mächtiger Repräsentant dieser Wende ist die Dampfmaschine, essenzieller Bestandteil des Systemwechsels ist die Entfremdung der Arbeiter von den Produkten, die sie herstellten. Ob Herstellung von Maschinen zur Erzeugung von Produkten, oder zur Erzeugung weiterer Maschinen - industrielle Fertigung von Produkten, die gebraucht und verbraucht werden, kennzeichnen die 1.IR. Darauf folgt das "Stadium, in dem Bedürfnisse produziert werden müssen", dies ist der Beginn der zweiten industriellen Revolution (2. IR) Möglich wird die flächendeckende Erzeugung von Bedürfnissen durch die Telekommunikation, durch Telefon, Rundfunk und Fernsehn. Die 2.IR kennt noch Grenzen, die industrielle Erzeugung von Bedürfnissen war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA deutlich erfolgreicher als in Europa und Asien. Erst die dritte Industrielle Revolution war weltumspannend und zwar schlagartig, während sich die 1.IR noch über rund ein Jahrhundert und die 2.IR über etwa 50 Jahre hinzogen. "Diese dritte Revolution ist also die letzte". (328) Anders gesagt: "Die Epoche der Epochenwechsel ist seit 1945 vorüber. Nunmehr leben wir in .... einer 'Frist', während derer unser Sein pausenlos nichts anders mehr ist als ein 'Gerade noch sein'". (328)
So gesehen konnte und kann Industrie 4.0 - die Vernetzung aller Befehlszentren (die den betrügerischen Namen "Server" tragen) mit allen Dingen (IoT Internet of Things) - wie andere Revolutionen davor, "wie spektakulär sie auch sein mögen, doch nur innerhalb des dritten Stadiums stattfinden". (329) Eine Revolution dieser Art ist die Erfindung des Elements 94 (Plutonium), "das es bis vor kurzem 'nicht gegeben' hat, und das erst durch den Eingriff des wahrhaft 'gottgleichen' Menschen, nämlich durch die Bearbeitung von U 238, im Umkreis des Seienden, im Umkreis der Natur aufgetaucht ist. (Und zwar als das fürchterlichste Gift, das es nun in der Natur gibt.)" (330) Eine weitere Revolution: künstliche Inseminierung, die "ja heute nicht nur in der Viehhaltung, sondern auch schon bei Menschen ausgeübt" wird. Das ist jedoch erst der Beginn einer Entwicklung, die vor 40 Jahren noch in den Kinderschuhe steckte: Cloning, Gen-Manipulierung, die "Möglichkeit, neuartige 'unerhörte' und nicht vorgesehene Arte von Spezies, oder sogar Duplikate von bestehenden Individuen, herzustellen." (332) Eine weitere "Binnenrevolution" sei der Trend, den Menschen überflüssig zu machen. "Worauf heutige Unternehmer aus sind, und das nicht nur in der kapitalistischen Welt, ist nicht Arbeitslosigkeit des Arbeiters, sondern Arbeitslosigkeit ihrer Betriebe. Laut 'Spiegel' (17.4.78) prahlt heute bereits der japanische Konzern Kawasaki mit einer 'unmanned factory'. Nicht zufällig erinnert dieser Ausdruck an militärische Anlagen". (334)
Anders prognostiziert, dass die Rationalisierung "einen Zustand herbeiführt, in dem Arbeit von Tag zu Tag rarer und unüblicher wird; in dem diese, weit entfernt davon, als Fluch zu gelten - darin hat die Bibel heute total unrecht - , als Anrecht beansprucht und als Privileg einer von Tag zu Tag schmaler werdenden Elite reserviert werden wird. Was den meisten von uns ins Haus steht, ist also eine Existenz ohne Arbeit - womit ich (unterstellt selbst, unsere Lebensqualität würde dadurch nicht tangiert) ein höllisches Dasein meine". Die Menschen in einer "Existenz ohne Arbeit" werden "um eine der stärksten und wichtigsten und beliebtesten Lüste, nämlich um die 'voluptas laborandi' betrogen"; so bleibt der Mehrheit der Menschen nur (in Abwandlung von Genesis 3, 14): "Auf deinem Hintern sollst du sitzen und TV anglotzen dein Leben lang!"