Burow Patrick: Inside Strafjustiz

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Ein Richter packt aus

Erschienen bei ecoWing, 2023

Patrick Burow, langjähriger Richter am Amtsgericht Dessau-Roßlau (Sachsen Anhalt), hat in seinem Buch zahlreiche Vorurteile über das Rechtssystem und die Praxis der Rechtsprechung unter die Lupe genommen. Bei genauer Betrachtung gelangt er zu dem Urteil: so gut wie alle Vorurteile entsprechen den Tatsachen. Im Schlusskapitel bringt er sie auf den Punkt: "Die geheimen Regeln des Strafprozesses". Hier die Top Ten von 25:

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Regel Nr. 2: Richter sollen schnell und oberflächlich und nicht langsam und gründlich arbeiten.

Regel Nr. 7: Jeder Mensch ist ein potenzieller Straftäter.

Regel Nr. 10: Schlechtes Benehmen wird strafschärfend berücksichtigt.

Regel Nr. 11: Die Unschuldsvermutung kann man vergessen.

Regel Nr. 13: Richter sind praktisch immer befangen.

Regel Nr. 14: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht mehr.

Regel Nr. 15: Der Richter steuert das Gutachtenergebnis durch Auswahl des Sachverständigen.

Regel Nr. 21: Die Armen hängt man, die Reichen lässt man laufen.

Regel Nr. 22: Innerhalb des Strafrahmens kann der Richter die Strafe nach eigenem Gutdünken bestimmen.

Regeln Nr. 24: Strafen müssen oft nicht abgesessen werden.

Burows Urteile sind manchmal ironisch formuliert, aber immer wohl begründet und gewürzt mit vielen Beispielen aus der Praxis. Er bemängelt fehlende Unterstützung durch das Verwaltungspersonal sowie die technische Infrastruktur: "Die Justizverwaltung teilt das Schicksal aller Verwaltungen überall auf der Welt. Sie ist im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt und vollkommen nutzlos." (62) Und: "Bis die elektronische Akte kommt, bin ich längst im Ruhestand." (61) . Der Autor sieht aber auch systemische Mängel, insbesondere bei Regel 11 und 13.

ad Regel 11: Gemäß Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gilt die Unschuldsvermutung: "Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig." In der Praxis ist jedoch bereits die Einleitung einer Hauptverhandlung eine Vorverurteilung, denn wenn der Staatsanwalt eine Anklage an das Gericht weiter leitet, dann muss der zuständige Strafrichter prüfen, ob die Anklage so stichhaltig ist, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Verurteilung kommt. Falls dies nicht der Fall ist, müsste der Richter die Anklage zurückweisen. Damit ist der Angeklagte de facto bereits zu Prozessbeginn (vor)verurteilt. Das Ergebnis dieser Rechtspraxis: "Die Freispruchquote beträgt durchschnittlich magere drei Prozent. Der Freispruch ist die absolute Ausnahme, [...] Er erfolgt mangels Beweises, das heißt, die Straftat konnte nicht nachgewiesen werden. So gut wie nie erfolgt ein Freispruch wegen erwiesener Unschuld." (156)

Die statistische Betrachtung relativiert diesen inneren Widerspruch. In Deutschland erledigen die Amtsgerichte über 600.000 Strafverfahren pro Jahr, davon muss ein Strafrichter 600 bis 800 bearbeiten. Allerdings enden nur 7 Prozent der Ermittlungsverfahren in einer Anklage und somit in einem Hauptverfahren, "in weiteren 10,7 Prozent wird ein Strafbefehl beantragt. Das heißt, die Strafrichter werden von der Masse der Verfahren verschont." Daraus folgt: "Die Staatsanwaltschaft übt eine enorm wichtige Filterfunktion für die Gerichte aus, weil sie nur diejenigen Fälle beim Gericht vorlegt, in denen eine Verurteilung zu erwarten ist." (70)

An der Spitze aller Straftaten steht der Diebstahl, davon jährlich 260.000 Ladendiebstähle (alle Angaben betreffen Deutschland), und 233.000 Fahrraddiebstähle (bei hoher Dunkelziffer*, weil nur der Diebstahl eines versicherten Fahrrads angezeigt wird). Platz 2: Verkehrsdelikte, Platz 3: Betrug, 4: Sachbeschädigung, 5: Körperverletzung ("Allein im Jahr 2020 gab es an die 20.000 Messerattacken mit fast 100 Todesopfern." 212), 6: Rauschgiftdelikte, 7: Beförderungsdelikte (Schwarzfahren), 8: Ausländerrechtliche Verstöße, 9: Wirtschafts- und Steuerstraftaten.

*Update 3.10.2023: Laut einem Bericht der FAZ.de dürfte die Dunkelziffer bei 270.000 liegen: "Eine halbe Million Räder werden in unserem Land jedes Jahr gestohlen. Wieso verhindert das niemand? Und wer sind eigentlich die Täter? Eine beschwerliche, aber doch erfolgreiche Spurensuche."

Und 10: Sexualdelikte. 2020 wurden 14.594 Kinder sexuell missbraucht. In 82 Prozent der Fälle wurden Bewährungsstrafen von nicht mehr als zwei Jahren verhängt. (213 f) Beim "kleinen" Kindesmissbrauch, der Kinderpornografie, wurden 2019 nur in 58 Prozent der Fälle überhaupt Freiheitsstrafen verhängt, "die aber in mehr als 90 Prozent der Fälle zur Bewährung ausgesetzt wurden". (215) Ähnlich "nachsichtig" ist die Justiz auch bei Vergewaltigungen: "Wie schwierig der Tatnachweis bei Vergewaltigungen ist, zeigt auch die Freispruchquote von 25 Prozent, die damit fast zehnmal höher als die durchschnittliche Freispruchquote von 3 Prozent ist." (132)

ad Regel 13: Dass Richter "praktisch immer befangen" sind, liegt nicht daran, dass Richter wie alle Menschen zu subjektiven Einschätzungen neigen, sondern am System. Dazu gehört § 244 Strafprozessordnung, wonach der Strafrichter nicht nur die Akten der Staatsanwaltschaft auswerten, sondern "selbst aktiv nach Beweisen suchen" muss. "Der Amtsermittlungsgrundsatz ist ein Überbleibsel des Inquisitionsprozesses. Wie unvoreingenommen kann ein Richter sein, dem die Strafprozessordnung aufgibt, selbst gegen den Angeklagten zu ermitteln?" (153). Weiters schreibt das Gesetz vor, "dass der Richter sich bereits vor der Verhandlung eine Meinung bildet. [...] Bejaht er den hinreichenden Tatverdacht, beschließt er die Eröffnung des Hauptverfahrens. Mit dem Eröffnungsbeschluss hat sich das Gericht ebenfalls dahingehend festgelegt, dass es angesichts der Aktenlage eine Verurteilung für wahrscheinlich hält." (155)

In aller Deutlichkeit kritisiert der Richter Patrick Burow: "Die Strafprozessordnung kennt die Unschuldsvermutung nicht. Dies zeigt sich zum Beispiel an der Untersuchungshaft, die aufgrund dringenden Tatverdachts auch ohne den endgültigen Beweis der Schuld des Beschuldigten möglich ist." (155)