Burow Patrick: Inside Strafjustiz

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Ein Richter packt aus

Erschienen bei ecoWing, 2023

Patrick Burow, langjähriger Richter am Amtsgericht Dessau-Roßlau (Sachsen Anhalt), hat in seinem Buch zahlreiche Vorurteile über das Rechtssystem und die Praxis der Rechtsprechung unter die Lupe genommen. Bei genauer Betrachtung gelangt er zu dem Urteil: so gut wie alle Vorurteile entsprechen den Tatsachen. Im Schlusskapitel bringt er sie auf den Punkt: "Die geheimen Regeln des Strafprozesses". Hier die Top Ten von 25:

Burow Patrick Strafjustiz

Regel Nr. 2: Richter sollen schnell und oberflächlich und nicht langsam und gründlich arbeiten.

Regel Nr. 7: Jeder Mensch ist ein potenzieller Straftäter.

Regel Nr. 10: Schlechtes Benehmen wird strafschärfend berücksichtigt.

Regel Nr. 11: Die Unschuldsvermutung kann man vergessen.

Regel Nr. 13: Richter sind praktisch immer befangen.

Regel Nr. 14: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht mehr.

Regel Nr. 15: Der Richter steuert das Gutachtenergebnis durch Auswahl des Sachverständigen.

Regel Nr. 21: Die Armen hängt man, die Reichen lässt man laufen.

Regel Nr. 22: Innerhalb des Strafrahmens kann der Richter die Strafe nach eigenem Gutdünken bestimmen.

Regeln Nr. 24: Strafen müssen oft nicht abgesessen werden.

Burows Urteile sind manchmal ironisch formuliert, aber immer wohl begründet und gewürzt mit vielen Beispielen aus der Praxis. Er bemängelt fehlende Unterstützung durch das Verwaltungspersonal sowie die technische Infrastruktur: "Die Justizverwaltung teilt das Schicksal aller Verwaltungen überall auf der Welt. Sie ist im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt und vollkommen nutzlos." (62) Und: "Bis die elektronische Akte kommt, bin ich längst im Ruhestand." (61) . Der Autor sieht aber auch systemische Mängel, insbesondere bei Regel 11 und 13.

ad Regel 11: Gemäß Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gilt die Unschuldsvermutung: "Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig." In der Praxis ist jedoch bereits die Einleitung einer Hauptverhandlung eine Vorverurteilung, denn wenn der Staatsanwalt eine Anklage an das Gericht weiter leitet, dann muss der zuständige Strafrichter prüfen, ob die Anklage so stichhaltig ist, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Verurteilung kommt. Falls dies nicht der Fall ist, müsste der Richter die Anklage zurückweisen. Damit ist der Angeklagte de facto bereits zu Prozessbeginn (vor)verurteilt. Das Ergebnis dieser Rechtspraxis: "Die Freispruchquote beträgt durchschnittlich magere drei Prozent. Der Freispruch ist die absolute Ausnahme, [...] Er erfolgt mangels Beweises, das heißt, die Straftat konnte nicht nachgewiesen werden. So gut wie nie erfolgt ein Freispruch wegen erwiesener Unschuld." (156)

Die statistische Betrachtung relativiert diesen inneren Widerspruch. In Deutschland erledigen die Amtsgerichte über 600.000 Strafverfahren pro Jahr, davon muss ein Strafrichter 600 bis 800 bearbeiten. Allerdings enden nur 7 Prozent der Ermittlungsverfahren in einer Anklage und somit in einem Hauptverfahren, "in weiteren 10,7 Prozent wird ein Strafbefehl beantragt. Das heißt, die Strafrichter werden von der Masse der Verfahren verschont." Daraus folgt: "Die Staatsanwaltschaft übt eine enorm wichtige Filterfunktion für die Gerichte aus, weil sie nur diejenigen Fälle beim Gericht vorlegt, in denen eine Verurteilung zu erwarten ist." (70)

An der Spitze aller Straftaten steht der Diebstahl, davon jährlich 260.000 Ladendiebstähle (alle Angaben betreffen Deutschland), und 233.000 Fahrraddiebstähle (bei hoher Dunkelziffer*, weil nur der Diebstahl eines versicherten Fahrrads angezeigt wird). Platz 2: Verkehrsdelikte, Platz 3: Betrug, 4: Sachbeschädigung, 5: Körperverletzung ("Allein im Jahr 2020 gab es an die 20.000 Messerattacken mit fast 100 Todesopfern." 212), 6: Rauschgiftdelikte, 7: Beförderungsdelikte (Schwarzfahren), 8: Ausländerrechtliche Verstöße, 9: Wirtschafts- und Steuerstraftaten.

*Update 3.10.2023: Laut einem Bericht der FAZ.de dürfte die Dunkelziffer bei 270.000 liegen: "Eine halbe Million Räder werden in unserem Land jedes Jahr gestohlen. Wieso verhindert das niemand? Und wer sind eigentlich die Täter? Eine beschwerliche, aber doch erfolgreiche Spurensuche."

Und 10: Sexualdelikte. 2020 wurden 14.594 Kinder sexuell missbraucht. In 82 Prozent der Fälle wurden Bewährungsstrafen von nicht mehr als zwei Jahren verhängt. (213 f) Beim "kleinen" Kindesmissbrauch, der Kinderpornografie, wurden 2019 nur in 58 Prozent der Fälle überhaupt Freiheitsstrafen verhängt, "die aber in mehr als 90 Prozent der Fälle zur Bewährung ausgesetzt wurden". (215) Ähnlich "nachsichtig" ist die Justiz auch bei Vergewaltigungen: "Wie schwierig der Tatnachweis bei Vergewaltigungen ist, zeigt auch die Freispruchquote von 25 Prozent, die damit fast zehnmal höher als die durchschnittliche Freispruchquote von 3 Prozent ist." (132)

ad Regel 13: Dass Richter "praktisch immer befangen" sind, liegt nicht daran, dass Richter wie alle Menschen zu subjektiven Einschätzungen neigen, sondern am System. Dazu gehört § 244 Strafprozessordnung, wonach der Strafrichter nicht nur die Akten der Staatsanwaltschaft auswerten, sondern "selbst aktiv nach Beweisen suchen" muss. "Der Amtsermittlungsgrundsatz ist ein Überbleibsel des Inquisitionsprozesses. Wie unvoreingenommen kann ein Richter sein, dem die Strafprozessordnung aufgibt, selbst gegen den Angeklagten zu ermitteln?" (153). Weiters schreibt das Gesetz vor, "dass der Richter sich bereits vor der Verhandlung eine Meinung bildet. [...] Bejaht er den hinreichenden Tatverdacht, beschließt er die Eröffnung des Hauptverfahrens. Mit dem Eröffnungsbeschluss hat sich das Gericht ebenfalls dahingehend festgelegt, dass es angesichts der Aktenlage eine Verurteilung für wahrscheinlich hält." (155)

In aller Deutlichkeit kritisiert der Richter Patrick Burow: "Die Strafprozessordnung kennt die Unschuldsvermutung nicht. Dies zeigt sich zum Beispiel an der Untersuchungshaft, die aufgrund dringenden Tatverdachts auch ohne den endgültigen Beweis der Schuld des Beschuldigten möglich ist." (155)


Drei Fallbeispiele

Fall 1: "Der 16-Jährige Syrer Mohammad A. und der 17-jährige Sebastian M. gerieten wegen eines Mädchens in Streit. Mohammad A. drohte dem Nebenbuhler an, ihn abzustechen. Wenige Tage später trafen die Kontrahenten auf dem Bahnhof Beucha aufeinander. Wieder kam es zum Streit. In dessen Verlauf zog der syrische Flüchtling ein Messer und stach mehrfach zu, unter anderem in den Hals. [...] Der Verletzte wurde sofort vor Ort notärztlich behandelt und dann in ein Krankenhaus gebracht. Sein Leben konnte gerettet werden. Die Staatsanwaltschaft sah keinen Tötungsvorsatz und klagte die Tat vor dem Amtsgericht Leipzig an. Dieses Verhängte gegen Mohammad A. eine Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung. Trotz fast tödlicher Messerattacke muss Mohammad A. nicht hinter Gitter. Die Verneinung des Tötungsvorsatzes erscheint nicht nachvollziehbar." (212 f) (Siehe auch Bericht der lvz.de 14.62019)

Fall 2: "Als das Urteil fiel, zeigten die Angeklagten mit dem Daumen nach oben, und ihre Verwandten und Bekannten jubelten laut. Waren sie freigesprochen worden? Ein 14-jähriges Mädchen war im Februar 2016 in Hamburg Opfer einer Gruppenvergewaltigung geworden. Sie war von vier jungen Männern betrunken gemacht und vergewaltigt worden. [...] Schließlich warfen die Täter das verletzte Mädchen weg wie Müll. Sie ließen das nur leicht bekleidete Opfer bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in einem Hinterhof zum Sterben liegen. Ein aufmerksamer Nachbar entdeckte sie und rief die Polizei, worauf das Mädchen in die Intensivstation gebracht wurde. Drei der angeklagten waren minderjährig, der vierte 21 Jahre alt. Das Landgericht Hamburg verurteilte drei der Vergewaltiger zu Bewährungsstrafen. Nur der 21-Jährige wurde zu einer Haftstrafe verurteilt. Der Jubel kam auf, weil drei der vier Vergewaltiger nicht ins Gefängnis mussten. Bewährung ist wie Freispruch." (227 f)

Fall 3 wurde dem Autor und Richter bald selbst zum Verhängnis. Am 15.10.2019 wurde aus einem Supermarkt eine Tüte Haribo-Milchbären im Wert von unter einem Euro gestohlen. "Bei der Tat führte der Beschuldigte in seiner rechten Hosentasche griffbereit ein Küchenmesser mit einer 9,5 cm langen stehenden Klinge sowie ein Teppichmesser, Klingenlänge 1 cm, mit. Die beiden Messer machten aus dem einfachen Ladendiebstahl einen Diebstahl mit Waffen mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten Freiheitsstrafe." Der Fruchtgummidieb kam in Untersuchungshaft, die Staatsanwaltschaft erhob Anklage zum Schöffengericht. Die Hauptverhandlung sollte am 19.5.2020 sein, doch da regierte bereits Corona. Richter Burow konnte eine den Corona-Verordnungen entsprechende Verhandlung (fehlende Infektionsschutzmaßnahmen im Amtsgericht Dessau-Roßlau) nicht gewährleisten und setzte den Haftbefehl, nachdem der Beschuldigte fast ein halbes Jahr im Gefängnis war, außer Vollzug. "Viel länger wäre seine Strafe auch im Falle einer Verurteilung nicht ausgefallen. [...] Ein vom Jagdtrieb zerfressener Staatsanwalt bekam fast einen Herzinfarkt, als er von der Terminsaufhebung erfuhr. [...] Er leitete ein Ermittlungsverfahren wegen Rechtsbeugung gegen mich ein. Das ist ein Verbrechen mit einem Strafrahmen von ein bis fünf Jahren. [...] Ich musste mir selber einen Strafverteidiger nehmen. [..] Schließlich stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 2 Strafprozessordnung ein. Das Schreiben enthielt keine Begründung. Ich blieb auf den Anwaltskosten sitzen." (263 f)


Ethisches Urteil

Den eigenen Arbeitsplatz, das Amtsgericht Dessau-Roßlau, beschreibt Richter Burow als "schlecht geführte Ruine" (78) ja sogar als "Gruselbude des Rechts" (272) - was man durchaus pars pro toto für den gesamten Justizapparat nehmen könnte. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich. Trotzdem versucht der Autor Optimismus zu verbreiten und verspricht den Leserinnen und Lesern in der Einleitung, dass sie "neuen Glauben in die Gerechtigkeit schöpfen" werden. Dieses Versprechen konnte er leider nicht einlösen. Bestenfalls konnte er unseren "Glauben in die Neue Gerechtigkeit" bestärken.

Die "Neue Gerechtigkeit" ist nach bisherigem Verständnis die "alte Ungerechtigkeit" umgedeutet zur Gerechtigkeit. Das betrifft sowohl die systemischen Mängel (Regel 11, 13), als auch die Praxis, die Patrick Burow natürlich nur auszugsweise aufzeigen konnte.

Zur "Neuen Gerechtigkeit" zählt die Tatsache, dass Urteile - mangels Personal und Platz in den Gefängnissen - nicht vollzogen werden können. "Inzwischen wundert es mich nicht mehr, regelmäßig Verurteilten auf der Straße zu begegnen, die eigentlich im Gefängnis sein müssten", schreibt Richter Bülow. (252) Zur "Neuen Gerechtigkeit" zählt, dass ein Großteil der Strafen in das untere Drittel des jeweiligen Strafrahmens fällt und dass Strafen unter zwei Jahren zu 69 Prozent auf Bewährung ausgesetzt werden, was die Verurteilten wie Freispruch empfinden und sich auch dem entsprechend benehmen. Nicht zuletzt gehört zur "Neuen Gerechtigkeit", dass man sich das Urteil kaufen kann. Das nennt man Deal, offiziell Verständigung. "Früher wurden Deals, also Absprachen über die Strafhöhe, nur heimlich in Hinterzimmern gemacht. Inzwischen hat der Gesetzgeber sie als Verständigung in § 257 c Strafprozessordnung legalisiert." (233)

Der Autor bringt einige Beispiele (über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt: der Fall des Fußballmanagers Uli Hoeneß) mit denen er die schiefe Optik von Deals ganz und gar nicht "ins rechte Licht" rücken will. Im Gegenteil!

Über die Gerechtigkeit schreibt Burow: "Der Begriff der Gerechtigkeit ist gleichzeitig von überragender Bedeutung und völlig unscharf. Gerechtigkeit wird als Grundnorm menschlichen Zusammenlebens betrachtet. Ich habe meinen Richtereid darauf geschworen, 'nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen'. Für sie zu sorgen ist die vornehmste Aufgabe der Justiz. [...] Doch im Gesetz wird die Gerechtigkeit nirgends definiert. [...] Es gibt keine allumfassende gesetzliche Definition der Gerechtigkeit. Der Gesetzgeber verwendet den unscharfen Begriff der Gerechtigkeit auch in den einzelnen Gesetzen nicht. Und doch gibt es Paragrafen, die ausdrücken, was der Gesetzgeber sich unter Gerechtigkeit vorstellt. So wird in Artikel 3 Grundgesetz postuliert: 'Alle Mensch sind vor dem Gesetz gleich.' Der Gleichheitsgrundsatz ist eine der tragenden Säulen der Gerechtigkeit". (44 f)

Deals verletzen den Gleichheitsgrundsatz, Deals festigen die undemokratische Regel 21 ("Die Armen hängt man, die Reichen lässt man laufen"), Deals hebeln den Gleichheitsgrundsatz aus und erschüttern den Glauben der Menschen an die Gerechtigkeit. Durch Deals hält die Verfilzung von Wirtschaft und Politik, von Geld und Macht, Einzug in das Rechtssystem. Dies erschüttert Staat und Gesellschaft in ihren Grundfesten.

Der einzige "Grund", den man für Deals ins Treffen führen könnte, ist ein ökonomischer: ein schneller Abschluss ist effizienter als eine langwierige Verhandlung, spart Zeit und Geld. Damit sind Deals ökonomisch im Trend, sie bringen eine Win-Win-Situation. Ein Deal entspricht dem Zeitgeist, dass wir alles nach ökonomischen Maßstäben bemessen. Aber diese Praxis in den Hinterzimmern der Gerichte entspricht nicht dem Gemeinwohl, entspricht nicht dem Interesse und dem Willen des Volkes. Das ist keine antiquierte Floskel basierend auf völkischen Gedankengut, denn immerhin fällen Gerichte bis heute Urteile "im Namen des Volkes"; deshalb sollten Urteile den Willen des Volkes berücksichtigen.

Wie soll das gehen? Soll der "Wille des Volkes" von Meinungsforschern erhoben oder gar von den Meinungsmachern der Medien festgeschrieben werden? Früher konnte man bei massenmedial aufgebauschten Verfahren beobachten, dass die Richter meist gegen die in den Medien hoch gepuschten Meinungen entschieden haben. Doch die "Neue Gerechtigkeit" gewährleistet grundsätzlich eine Entscheidung im Sinne der herrschenden Meinung. Diese aber ist nicht die Meinung der Mehrheit des Volkes, sondern die Meinung der Mächtigen, die über das Volk herrschen. Die "Neue Gerechtigkeit" garantiert, dass ein Urteil heute dem herrschenden Zeitgeist entspricht, d.h. es ist gendergerecht, klimagerecht, migrantenfreundlich, kurz: es wird der Meinung der Herrschenden gerecht, nicht der Meinung des beherrschten Volkes. Zur Erinnerung die Regel 13: Die Befangenheit der Richter kann sich auch den herrschenden, alle beherrschenden Meinungen nicht entziehen.

Das Volk kann - genauso wenig wie Juristen - definieren, was Gerechtigkeit ist. Aber es erkennt sehr schnell, wann und wo Ungerechtigkeiten auftreten. Vergewaltiger, Kinderschänder, Messerstecher bedingt zu verurteilen ist eine Ungerechtigkeit und ein Etikettenschwindel: sie werden nicht frei gesprochen aber de facto frei gelassen. Ein anderer Name für Etikettenschwindel ist Betrug.

Der Betrug folgte auf den Trugschluss, dass Gerechtigkeit nicht definiert werden könne. Es stimmt, wenn Burow schreibt: "Es gibt keine allumfassende gesetzliche Definition der Gerechtigkeit." Doch es ist ein Trugschluss, daraus abzuleiten: es gibt überhaupt keine Definition von Gerechtigkeit. Auf den Trugschluss folgt ein Kurzschluss. Der Trugschluss, dass Gerechtigkeit nicht definiert werden könne, verleitet zum Kurzschluss, dass es Gerechtigkeit überhaupt nicht gibt (nach dem Motto, was wir nicht wissenschaftlich definieren können, das existiert nicht).

Moralphilosophisch betrachtet ist die Gerechtigkeit (so wie die Freiheit) ein Grundwert. Der Begriff "Grundwert" ist weitgehend deckungsgleich mit "Grundnorm", wie ihn die Juristen verwenden. In der Geschichte aller Kulturen und Zivilisationen waren diese beiden Grundwerte tragende Säulen der jeweiligen Gesellschaftssysteme und ihrer Rechtssysteme. Flächendeckende Fundamente sind die Grundwerte Freiheit und Gerechtigkeit aber in jeder Demokratie.

Burow hat mit Bezug auf die Vergeltungstheorie Immanuel Kant zwar mit einer Fußnote gewürdigt, er hat sich aber offensichtlich nicht weiter in Kants Schriften vertieft. Kants "Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können" folgend, ist der Begriff "Gerechtigkeit" (ebenso wie "Freiheit") eine Idee, genauer gesagt "eine reine transcendentale Idee", bzw. ein "reiner Begriff a priori". Das ist eine metaphysische (ontologische) Definition. Auch wenn die Juristen (so wie Gesetzgeber, also die obersten Vertreter unserer repräsentativen Demokratien) damit nichts anfangen können, ist die Aussage, es gebe keine Definition von Gerechtigkeit, damit widerlegt.

Rein ist ein Begriff - salopp formuliert - dann, wenn er noch nicht durch empirische Erfahrungen "verschmutzt" wurde. "Reine Begriffe" (also alle Ideen a priori) sind uns vor der Erfahrung gegeben. Das bedeutet: der Begriff der Freiheit ist nicht in die Welt gekommen, weil Sklaven für ihre Befreiung gekämpft haben, oder weil Revolutionäre die "Freiheit" (genauer: Befreiung) auf ihre Banner geschrieben haben. Der Begriff der Freiheit kann aus der historischen Entwicklung der Menschheit, aus den bestehenden Gesellschaftssystemen (also empirisch) prinzipiell nicht hergeleitet werden. Ganz im Gegenteil: noch nie gab es irgendwo auf dieser Welt eine freie und gerechte Gesellschaft. Und trotzdem kann sich keine Gesellschaft, kein Staat, keine Kultur ohne diese beiden Begriffe konstituieren.

Diese kurze historische Abschweifung ist keine Begründung dafür, dass die Begriffe "Freiheit" und "Gerechtigkeit" Begriffe a priori sind, und auch kein Beweis, dass die ontologische Definition eine zureichende ist, sondern lediglich ein Versuch der Erklärung, wie Begriffe a priori einzuordnen sind. Das Einordnen (Ordnen) ist die Methode jeder Definition, definieren bedeutet abgrenzen und impliziert einerseits eingrenzen, anderseits ausgrenzen. Es entspricht dem relativistischen Zeitgeist unseres Jahrhunderts, dass nicht mehr um Definitionen gerungen wird, sondern dass Begriffe vorschnell als "undefinierbar" abgestempelt werden.

Dies freilich ist ein Trick, den wir von Nietzsche als "Umwertung der Werte" kennen. Die Undefinierbarkeit eines Begriffes ist selbst eine Definition, die meist den Anspruch der Endgültigkeit erhebt und damit jede offene Diskussion beendet. Wie tief unsere Gesellschaft bereits gesunken ist, zeigt ein Buchtitel des in Österreich populären Mathematikers Rudolf Taschner: "Gerechtigkeit siegt - aber nur im Film". (Treffende Kritik dieser Position siehe: Wiener Zeitung, 7.9.2011)

Die ontologische Definition im Sinne Kants bedarf natürlich tiefer gehender Erklärungen, doch hier ist lediglich Platz darauf hinzuweisen, dass die Suche nach Problemlösungen nicht immer dort Enden sollte, wo eine Branche sich ihre Grenzen gesetzt hat. "Eine funktionierende Justiz trägt zur Sicherheit in unserem Land bei", ist Burow überzeugt. Eine funktionierende Justiz braucht eine funktionierende Legislative und Exekutive. Eine funktionierende Legislative braucht eine offene Diskussion über unsere Grundwerte, Grundnormen und Definitionen von Freiheit und Gerechtigkeit, die als Fundament unserer Demokratie geeignet sind.

Letztlich bestätigt Richter Burow aus seiner langjährigen Praxis die Diagnose von Moral 4.0 (erschienen 2017):

- Jeder Mensch hat das Recht recht zu haben.

- Nicht jeder Mensch hat die Chance Recht zu bekommen.

- Es gibt kein Recht auf Gerechtigkeit.

Dies ist, wie gesagt, eine Diagnose, eine Beschreibung der Gesellschaft wie sie ist, aber keine Definition unserer Demokratie. "Demokratie" selbst ist eine Idee (allerdings eine Idee a posteriori). Nur wenn wir, das Volk, uns wieder mit den grundlegenden Fragen beschäftigen, grundlegende Fragen stellen, und Antworten nicht nur im Mainstream suchen und den "Experten" überlassen, nur wenn wir wieder zu einem offenen Diskurs finden, zu einem "Schwingen der kollektiven Meinungsbildung, ... Pendeln der Meinungen zwischen Für und Wider" (Konrad Lorenz), können wir den Karren (unsere Demokratie) wieder aus dem Dreck ziehen. Eine funktionierende Justiz alleine wird dazu leider nicht ausreichen.

P.S. Kleine Kritik am Rande: es wäre hilfreich - gerade für Nichtjuristen, an die sich das Sachbuch von Patrick Burow vorwiegend richtet - wenn der Autor die Paragrafen, auf die er verweist, in einer Fußnote auch im Wortlaut bringen würde.


Medienberichte,

die die Frage aufwerfen, wann und wo Justicia ihre Grenzen überschreitet. Und: Sind Recht und Gerechtigkeit prinzipiell noch vereinbar? Gibt es noch Bereitschaft zur Hilfe, oder nur noch Bereitschaft zur Gewalt? Ist die Hemmschwelle der Gesellschaft gesunken?

+  "Verfahren Ballweg: Landgericht attestiert Staatsanwaltschaft 'willkürliche Unterstellungen' Das Landgericht Stuttgart wird keine Hauptverhandlung gegen Querdenken-Gründer Michael Ballweg eröffnen. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat vorgestern eine Pressemitteilung verschickt, in der sie erklärte, eine 'sofortige Beschwerde gegen den Beschluss' einzulegen", berichtet EpochTimes.com am 12.10.23

@Alma_Zadic - Österreichs Justizministerin Alma Zadic twittert am 6.10.23:  Die schreckliche Nachricht von zwei Femiziden an einem Tag macht mich zutiefst betroffen. Das muss aufhören. Jede Gewalttat ist eine zu viel. Jeder #Femizid ist einer zu viel. In Gedanken bin ich heute bei den Angehörigen und Freund:innen der Opfer. (1/6)

Wir wissen, dass sich die meisten Frauen zuvor nicht an die Behörden gewandt haben, obwohl es bereits Gewalt in ihrer Beziehung gegeben hat. Das muss sich ändern. Genau an diesem Punkt möchte ich deshalb mit den #Gewaltambulanzen ansetzen. (2/6)

Wir wollen niederschwellige Möglichkeiten schaffen, wo sich Opfer von Gewalt kostenfrei untersuchen lassen können, vorhandene Spuren gesichert und Verletzungen dokumentiert werden. Damit diese für ein mögliches späteres Gerichtsverfahren zur Verfügung stehen. (3/6)

Und das noch bevor eine Betroffene die schwierige Entscheidung getroffen hat, ob sie Anzeige erstatten will. Wir arbeiten derzeit auf Hochtouren, um diese komplett neuen Untersuchungsstellen für Gewaltbetroffene einzurichten. (4/6)

Mein Ziel ist eine Gesellschaft, in der Mädchen und Frauen sicher sind und frei von Angst vor Gewalt leben können. Das ist jede Anstrengung wert. (5/6)

Es braucht außerdem eine bundesweite Gesamtstrategie, die im Kindesalter beginnt, alle Lebensbereiche abdeckt und Gleichstellung fördert. Denn echte Gleichstellungspolitik ist die beste Prävention gegen Gewalt an Frauen. (6/6)

+ Kinder werden gehandelt wie eine Ware. - "Der Begründer und langjährige Chef des LKA Thüringen, Uwe Kranz, gibt Einblick in jahrelange Ermittlungen gegen Kinderschänder-Ringe. Besonders kritisch sieht er aktuelle Entwicklungen zur Frühsexualisierung von Kindern. Der Staat habe in Kinderbetten und bei kindlicher Sexualität nichts verloren. In Deutschland ist die Rate von entsprechenden Missbrauchsdelikten gegenüber dem Jahr 2022 wieder um 7 Prozent angestiegen. Dafür macht Kranz auch die leichte Möglichkeit zur Verbreitung von Kinderpornos über das Internet verantwortlich, die im Vergleich zu früheren Zeiten nur noch Millisekunden in Anspruch nimmt. Heute gäbe es alle Arten von Großkriminalität in diesem Zusammenhang bis hin zu Kinderbordellen und Babyfarmen, mitten in Europa. Kinder werden gehandelt wie eine Ware", berichtet report24.news (30.9.23)

"Es gibt Fälle, in denen österreichische Gerichte ausländisches Recht anwenden müssen. Etwa, wenn Migranten, die in ihrem Herkunftsland eine Ehe geschlossen haben, sich scheiden lassen", schreibt Philipp Aichingr auf blogasyl.at  (18. September 2023) und schildert das Begehren eines afghanischen Vaters von vier Kindern nach Scheidung einer Ehe, die nur vor einem Mullah geschlossen wurde.

+ 14-jähriges Mädchen tot aufgefunden - "Am Donnerstagabend wurde in einem Waldstück bei Bad Emstal eine Leiche aufgefunden. Es handelte sich um den Körper eines 14-jährigen Mädchens aus der nordhessischen Gemeinde. Bis zum frühen Nachmittag dauerte die Obduktion. Dann stand das Ergebnis fest", berichtet EpochTimes.de (30.9.23)

+ "Deutsche Staatsanwaltschaft jagt Blogger. Der Vorwurf: Er habe Ricarda Lang, Chefin der deutschen Grünen, als 'dick' bezeichnet. Nun wurde ihm auch das Bankkonto gesperrt", berichtet weltwoche.de (13.7.23)

+ "Blutiger Messerangriff in Lahr – Täter auf freiem Fuß. Ein Lahrer ist in der Nacht zu Sonntag in einem Restaurant in der Stadtmitte niedergestochen worden. Der mutmaßliche Täter ist frei. Nicht nur deshalb erhebt das Opfer schwere Vorwürfe gegen die Polizei", berichtet schwarzwaelder-bote.de (28.9.23)