Burow Patrick: Inside Strafjustiz - Ethisches Urteil

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Ethisches Urteil

Den eigenen Arbeitsplatz, das Amtsgericht Dessau-Roßlau, beschreibt Richter Burow als "schlecht geführte Ruine" (78) ja sogar als "Gruselbude des Rechts" (272) - was man durchaus pars pro toto für den gesamten Justizapparat nehmen könnte. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich. Trotzdem versucht der Autor Optimismus zu verbreiten und verspricht den Leserinnen und Lesern in der Einleitung, dass sie "neuen Glauben in die Gerechtigkeit schöpfen" werden. Dieses Versprechen konnte er leider nicht einlösen. Bestenfalls konnte er unseren "Glauben in die Neue Gerechtigkeit" bestärken.

Die "Neue Gerechtigkeit" ist nach bisherigem Verständnis die "alte Ungerechtigkeit" umgedeutet zur Gerechtigkeit. Das betrifft sowohl die systemischen Mängel (Regel 11, 13), als auch die Praxis, die Patrick Burow natürlich nur auszugsweise aufzeigen konnte.

Zur "Neuen Gerechtigkeit" zählt die Tatsache, dass Urteile - mangels Personal und Platz in den Gefängnissen - nicht vollzogen werden können. "Inzwischen wundert es mich nicht mehr, regelmäßig Verurteilten auf der Straße zu begegnen, die eigentlich im Gefängnis sein müssten", schreibt Richter Bülow. (252) Zur "Neuen Gerechtigkeit" zählt, dass ein Großteil der Strafen in das untere Drittel des jeweiligen Strafrahmens fällt und dass Strafen unter zwei Jahren zu 69 Prozent auf Bewährung ausgesetzt werden, was die Verurteilten wie Freispruch empfinden und sich auch dem entsprechend benehmen. Nicht zuletzt gehört zur "Neuen Gerechtigkeit", dass man sich das Urteil kaufen kann. Das nennt man Deal, offiziell Verständigung. "Früher wurden Deals, also Absprachen über die Strafhöhe, nur heimlich in Hinterzimmern gemacht. Inzwischen hat der Gesetzgeber sie als Verständigung in § 257 c Strafprozessordnung legalisiert." (233)

Der Autor bringt einige Beispiele (über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt: der Fall des Fußballmanagers Uli Hoeneß) mit denen er die schiefe Optik von Deals ganz und gar nicht "ins rechte Licht" rücken will. Im Gegenteil!

Über die Gerechtigkeit schreibt Burow: "Der Begriff der Gerechtigkeit ist gleichzeitig von überragender Bedeutung und völlig unscharf. Gerechtigkeit wird als Grundnorm menschlichen Zusammenlebens betrachtet. Ich habe meinen Richtereid darauf geschworen, 'nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen'. Für sie zu sorgen ist die vornehmste Aufgabe der Justiz. [...] Doch im Gesetz wird die Gerechtigkeit nirgends definiert. [...] Es gibt keine allumfassende gesetzliche Definition der Gerechtigkeit. Der Gesetzgeber verwendet den unscharfen Begriff der Gerechtigkeit auch in den einzelnen Gesetzen nicht. Und doch gibt es Paragrafen, die ausdrücken, was der Gesetzgeber sich unter Gerechtigkeit vorstellt. So wird in Artikel 3 Grundgesetz postuliert: 'Alle Mensch sind vor dem Gesetz gleich.' Der Gleichheitsgrundsatz ist eine der tragenden Säulen der Gerechtigkeit". (44 f)

Deals verletzen den Gleichheitsgrundsatz, Deals festigen die undemokratische Regel 21 ("Die Armen hängt man, die Reichen lässt man laufen"), Deals hebeln den Gleichheitsgrundsatz aus und erschüttern den Glauben der Menschen an die Gerechtigkeit. Durch Deals hält die Verfilzung von Wirtschaft und Politik, von Geld und Macht, Einzug in das Rechtssystem. Dies erschüttert Staat und Gesellschaft in ihren Grundfesten.

Der einzige "Grund", den man für Deals ins Treffen führen könnte, ist ein ökonomischer: ein schneller Abschluss ist effizienter als eine langwierige Verhandlung, spart Zeit und Geld. Damit sind Deals ökonomisch im Trend, sie bringen eine Win-Win-Situation. Ein Deal entspricht dem Zeitgeist, dass wir alles nach ökonomischen Maßstäben bemessen. Aber diese Praxis in den Hinterzimmern der Gerichte entspricht nicht dem Gemeinwohl, entspricht nicht dem Interesse und dem Willen des Volkes. Das ist keine antiquierte Floskel basierend auf völkischen Gedankengut, denn immerhin fällen Gerichte bis heute Urteile "im Namen des Volkes"; deshalb sollten Urteile den Willen des Volkes berücksichtigen.

Wie soll das gehen? Soll der "Wille des Volkes" von Meinungsforschern erhoben oder gar von den Meinungsmachern der Medien festgeschrieben werden? Früher konnte man bei massenmedial aufgebauschten Verfahren beobachten, dass die Richter meist gegen die in den Medien hoch gepuschten Meinungen entschieden haben. Doch die "Neue Gerechtigkeit" gewährleistet grundsätzlich eine Entscheidung im Sinne der herrschenden Meinung. Diese aber ist nicht die Meinung der Mehrheit des Volkes, sondern die Meinung der Mächtigen, die über das Volk herrschen. Die "Neue Gerechtigkeit" garantiert, dass ein Urteil heute dem herrschenden Zeitgeist entspricht, d.h. es ist gendergerecht, klimagerecht, migrantenfreundlich, kurz: es wird der Meinung der Herrschenden gerecht, nicht der Meinung des beherrschten Volkes. Zur Erinnerung die Regel 13: Die Befangenheit der Richter kann sich auch den herrschenden, alle beherrschenden Meinungen nicht entziehen.

Das Volk kann - genauso wenig wie Juristen - definieren, was Gerechtigkeit ist. Aber es erkennt sehr schnell, wann und wo Ungerechtigkeiten auftreten. Vergewaltiger, Kinderschänder, Messerstecher bedingt zu verurteilen ist eine Ungerechtigkeit und ein Etikettenschwindel: sie werden nicht frei gesprochen aber de facto frei gelassen. Ein anderer Name für Etikettenschwindel ist Betrug.

Der Betrug folgte auf den Trugschluss, dass Gerechtigkeit nicht definiert werden könne. Es stimmt, wenn Burow schreibt: "Es gibt keine allumfassende gesetzliche Definition der Gerechtigkeit." Doch es ist ein Trugschluss, daraus abzuleiten: es gibt überhaupt keine Definition von Gerechtigkeit. Auf den Trugschluss folgt ein Kurzschluss. Der Trugschluss, dass Gerechtigkeit nicht definiert werden könne, verleitet zum Kurzschluss, dass es Gerechtigkeit überhaupt nicht gibt (nach dem Motto, was wir nicht wissenschaftlich definieren können, das existiert nicht).

Moralphilosophisch betrachtet ist die Gerechtigkeit (so wie die Freiheit) ein Grundwert. Der Begriff "Grundwert" ist weitgehend deckungsgleich mit "Grundnorm", wie ihn die Juristen verwenden. In der Geschichte aller Kulturen und Zivilisationen waren diese beiden Grundwerte tragende Säulen der jeweiligen Gesellschaftssysteme und ihrer Rechtssysteme. Flächendeckende Fundamente sind die Grundwerte Freiheit und Gerechtigkeit aber in jeder Demokratie.

Burow hat mit Bezug auf die Vergeltungstheorie Immanuel Kant zwar mit einer Fußnote gewürdigt, er hat sich aber offensichtlich nicht weiter in Kants Schriften vertieft. Kants "Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können" folgend, ist der Begriff "Gerechtigkeit" (ebenso wie "Freiheit") eine Idee, genauer gesagt "eine reine transcendentale Idee", bzw. ein "reiner Begriff a priori". Das ist eine metaphysische (ontologische) Definition. Auch wenn die Juristen (so wie Gesetzgeber, also die obersten Vertreter unserer repräsentativen Demokratien) damit nichts anfangen können, ist die Aussage, es gebe keine Definition von Gerechtigkeit, damit widerlegt.

Rein ist ein Begriff - salopp formuliert - dann, wenn er noch nicht durch empirische Erfahrungen "verschmutzt" wurde. "Reine Begriffe" (also alle Ideen a priori) sind uns vor der Erfahrung gegeben. Das bedeutet: der Begriff der Freiheit ist nicht in die Welt gekommen, weil Sklaven für ihre Befreiung gekämpft haben, oder weil Revolutionäre die "Freiheit" (genauer: Befreiung) auf ihre Banner geschrieben haben. Der Begriff der Freiheit kann aus der historischen Entwicklung der Menschheit, aus den bestehenden Gesellschaftssystemen (also empirisch) prinzipiell nicht hergeleitet werden. Ganz im Gegenteil: noch nie gab es irgendwo auf dieser Welt eine freie und gerechte Gesellschaft. Und trotzdem kann sich keine Gesellschaft, kein Staat, keine Kultur ohne diese beiden Begriffe konstituieren.

Diese kurze historische Abschweifung ist keine Begründung dafür, dass die Begriffe "Freiheit" und "Gerechtigkeit" Begriffe a priori sind, und auch kein Beweis, dass die ontologische Definition eine zureichende ist, sondern lediglich ein Versuch der Erklärung, wie Begriffe a priori einzuordnen sind. Das Einordnen (Ordnen) ist die Methode jeder Definition, definieren bedeutet abgrenzen und impliziert einerseits eingrenzen, anderseits ausgrenzen. Es entspricht dem relativistischen Zeitgeist unseres Jahrhunderts, dass nicht mehr um Definitionen gerungen wird, sondern dass Begriffe vorschnell als "undefinierbar" abgestempelt werden.

Dies freilich ist ein Trick, den wir von Nietzsche als "Umwertung der Werte" kennen. Die Undefinierbarkeit eines Begriffes ist selbst eine Definition, die meist den Anspruch der Endgültigkeit erhebt und damit jede offene Diskussion beendet. Wie tief unsere Gesellschaft bereits gesunken ist, zeigt ein Buchtitel des in Österreich populären Mathematikers Rudolf Taschner: "Gerechtigkeit siegt - aber nur im Film". (Treffende Kritik dieser Position siehe: Wiener Zeitung, 7.9.2011)

Die ontologische Definition im Sinne Kants bedarf natürlich tiefer gehender Erklärungen, doch hier ist lediglich Platz darauf hinzuweisen, dass die Suche nach Problemlösungen nicht immer dort Enden sollte, wo eine Branche sich ihre Grenzen gesetzt hat. "Eine funktionierende Justiz trägt zur Sicherheit in unserem Land bei", ist Burow überzeugt. Eine funktionierende Justiz braucht eine funktionierende Legislative und Exekutive. Eine funktionierende Legislative braucht eine offene Diskussion über unsere Grundwerte, Grundnormen und Definitionen von Freiheit und Gerechtigkeit, die als Fundament unserer Demokratie geeignet sind.

Letztlich bestätigt Richter Burow aus seiner langjährigen Praxis die Diagnose von Moral 4.0 (erschienen 2017):

- Jeder Mensch hat das Recht recht zu haben.

- Nicht jeder Mensch hat die Chance Recht zu bekommen.

- Es gibt kein Recht auf Gerechtigkeit.

Dies ist, wie gesagt, eine Diagnose, eine Beschreibung der Gesellschaft wie sie ist, aber keine Definition unserer Demokratie. "Demokratie" selbst ist eine Idee (allerdings eine Idee a posteriori). Nur wenn wir, das Volk, uns wieder mit den grundlegenden Fragen beschäftigen, grundlegende Fragen stellen, und Antworten nicht nur im Mainstream suchen und den "Experten" überlassen, nur wenn wir wieder zu einem offenen Diskurs finden, zu einem "Schwingen der kollektiven Meinungsbildung, ... Pendeln der Meinungen zwischen Für und Wider" (Konrad Lorenz), können wir den Karren (unsere Demokratie) wieder aus dem Dreck ziehen. Eine funktionierende Justiz alleine wird dazu leider nicht ausreichen.

P.S. Kleine Kritik am Rande: es wäre hilfreich - gerade für Nichtjuristen, an die sich das Sachbuch von Patrick Burow vorwiegend richtet - wenn der Autor die Paragrafen, auf die er verweist, in einer Fußnote auch im Wortlaut bringen würde.