Küng Hans: Projekt Weltethos

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6. April 2024 (dritter Todestag von Hans Küng) - Getragen vom Geist der Ökumene und der inneren Reform der Katholischen Kirche (deren Priester Hans Küng bis zu seinem Tod 2021 war, obwohl ihm 1979 aufgrund kritischer Schriften die Lehrbefugnis an der katholischen Fakultät entzogen wurde) schrieb der Theologe 1990 das Buch „Projekt Weltethos“. Zusätzlich zu den Mitteln seines Lehrstuhls in Tübingen, den er als fakultätsunabhängiger Professor weiterführen konnte, unterstützte die Robert-Bosch Jubiläumsstiftung das Projekt fünf Jahre lang. Danach wurde die Stiftung Weltethos gegründet, die der Unternehmer Karl Konrad von der Groeben mit fünf Millionen DM dotierte. Die Schweizer Millionenerbin Martita Jöhr-Rohr finanzierte eine weitere Stiftung Weltethos in der Schweiz. Auch in Österreich gibt es einen eigene Initiative Weltethos.

WeltethosAT

Heute, drei Jahre nach dem Tod von Hans Küng stellt sich die Frage, ob das Projekt Weltethos noch lebt. Die Antwort ist ernüchternd: Küngs Ethos hat „die Welt“ nie erreicht. Das liegt daran, dass Küng von Anfang an ein Forschungsprojekt geplant hat. Von der Forschung zur Umsetzung ist ein weiter Weg. Vielleicht müsste man genauer sagen: Forschung und Umsetzung sind zwei unterschiedliche Wege. Hier geht es um den Weg der Erkenntnis auf akademischer Ebene, dort geht es um den Weg des Konzipierens, Entscheidens, Handelns, Umsetzens, Improvisierens, Revidierens und Verbesserns auf politischer Ebene. Und auf religiöser Ebene, sofern die Religionen das soziale Leben mitbestimmen und mitgestalten.

Das „Projekt“ Weltethos ist – das zeigen auch die Zielsetzungen der Stiftungen – kein politisches Projekt. Insofern ist es zum Scheitern verurteilt. Aufgaben der Stiftung (laut wikipedia):

- Durchführung und Förderung interkultureller und interreligiöser Forschung

- Anregung und Durchführung interkultureller und interreligiöser Bildungsarbeit

- Ermöglichung und Unterstützung der zur Forschungs- und Bildungsarbeit notwendigen interkulturellen und interreligiösen Begegnung

Weltethos = Religionsfriede + Religionsdialog

Das Buch besteht aus drei Teilen, die mit apodiktischen Aussagen überschrieben sind:

A. Kein Überleben ohne ein Weltethos

B. Kein Weltfriede ohne Religionsfriede

C. Kein Religionsfriede ohne Religionsdialog

Apodiktische Aussagen treten als Prämissen auf, sind aber gleichzeitig Prognosen und Postulate (Forderungen nach Weltethos, Religionsfrieden und -dialog). Von unten gelesen, aus der Sicht des Jahres 2024, muss man feststellen:

C. Der Religionsdialog ist gescheitert: Islam als Islamismus schließt andere Religionen und Weltanschauungen, ebenso wie demokratisch-republikanische Grundsätze (insbesondere Trennung von Staat und Religion) kategorisch aus. Judentum ist in sich stärker denn je zwischen liberal-säkularen und orthodox-gläubigen Gruppen gespalten. Die Dominanz der katholischen Kirche ist nur noch eine Illusion der katholischen Amtsinhaber. Und selbst die Vereinigungskirche, gegründet vom Koreaner Sun Myung Moon, der von seinen Anhängern als neuer Messias verehrt wird, hat sich nach dem Tod ihres Gründers gespalten. Diese Bewegung findet sich bei Hans Küng nicht einmal in einer Fußnote, da sein Interesse nur den „Weltreligionen“ gilt.

B. Der Religionsfriede ist nie eingetreten. Der Krieg zwischen Russland und Ukraine ist vielleicht nicht im Kern, aber am Rande auch ein Religionskrieg: Kiew macht Moskau den Anspruch streitig, das wahre Russland und das wahre Christentum zu vertreten. Aus Sicht vieler Ukrainer ist die Kiewer Rus der wahre Ursprung des russischen Imperiums, aus Sicht vieler Russen ist Moskau bis heute das Dritte Rom. Während die Ukraine heute vom „Westen“ vereinnahmt wird (zögerlich in die EU, aggressiv in die NATO eingebunden), wird Russland mehr und mehr in den Osten abgeschoben. „Der Westen“ ist bereits meilenweit entfernt vom einstigen christlichen Abendland. Geblieben ist der missionarische Eifer der USA , der sich im militärischen Eifer der NATO und in internationalen Machenschaften zahlreicher US-Geheimdienste manifestiert. (Siehe: Henry Kissinger, Weltordnung und Barak Obama,A Promised Land.)

Der Russland-Ukraine-Krieg ist im Kern ein Stellvertreterkrieg zwischen dem „Verteidigungsbündnis“ NATO und dem „Aggressor“ Russland; die Auferstehung des kalten Kriegs zwischen USA und Sowjetunion wird verharmlost unter dem Titel „West-Ost-Konflikt“. Wenn dieser am Rande ein Religionskrieg ist, so ist er dem Wesen nach ein Glaubenskrieg zwischen „Gut“ und „Böse“. Gut und Böse sind keine politischen, sondern religiöse Werte. Politische Konfliktparteien, die „das Gute“ und „das Böse“ zum Mittel ihrer Propaganda machen, transformieren den Konflikt zu einem quasi religiösen Krieg. (Zum Verständnis der Abgrenzungsfrage Europa und Asien leistet der Historiker John M. Roberts in seinem Buch „Der Triumph des Abendlandes, erschienen 1985, wichtige Beiträge.)

A: Weltethos ist zum Überleben nicht erforderlich. Zynisch betrachtet ist Weltethos ein Luxus, mit dem sich die Menschheit schmücken darf, nachdem die Vertreter einer „Neuen Weltordnung“, die sich in den Leitmedien gern als Philanthropen feiern lassen, ihre Interessen durchgesetzt haben. Zynisch betrachtet wäre es ein Glück für die Menschheit, wenn Zahl und Einfluss der Weltreligionen zurück gehen würden, denn Küng präzisiert am Ende des Buches: „kein Frieden unter Nationen ohne Frieden unter den Religionen“. Ein zynischer Umkehrschluss lautet: Frieden unter Nationen nur ohne Religionen!

Die Trennung von Staat und Religion ist ein Aspekt der demokratisch-republikanischen Gewaltenteilung. Ein Weltethos auf Basis der Religionen steht dazu im Widerspruch. Anderseits erscheint ein Weltethos als gemeinsame Basis der Religionen am Höhepunkt der ökumenischen Bewegung als plausible Idee. Aber wie will der Theologe Küng das Weltethos über den Umweg des Religionsfriedens erreichen?

Ströme zur Ökumene

Die Weltreligionen gliedert Küng in drei Ströme: prophetisch, mystisch und weisheitlich.

„- die Religionen semitschen Ursprungs: Sie haben einen prophetischen Charakter, gehen stets von einem Gegenüber von Gott und Mensch aus und stehen vorwiegend im Zeichen religiöser Konfrontation: Judentum, Christentum und Islam.

- die Religionen indischer Herkunft: Sie sind primär von einer mystischen, auf Einheit hin tendierenden Grundstimmung getragen und stehen mehr im Zeichen religiöser Inneneinkehr: frühe indische Religion der Upanishaden, Buddhismus und Hinduismus.

- die Religionen chinesischer Tradition: Sie zeigen eine weisheitliche Ausprägung und stehen grundsätzlich im Zeichen der Harmonie: Konfuzianismus und Taoismus.“ (160)

Küng will diese Hauptströme zusammenführen, ohne die Identität der einzelnen Religionen zu verwässern. Sein Postulat „Kein Religionsfriede ohne Religionsdialog“ bleibt in der Theorie stecken: „Kein Religionsdialog ohne Grundlagenforschung.“ Hier gilt: der Weg ist das Ziel. Küng definiert seine Ziele meist über Negationen: Ökumene ist keine Einheitsreligion, Dialog bedeutet nicht die Aufgabe des eigenen Standpunktes, Religionen sind keine statischen Größen. Er vergleicht Religionen mit Strömen:

„Die großen Religionen der Welt durchdringen die Kulturen und Kulturkreise und gehen nicht einfach in diesen auf. Sie sind so etwas wie große Flußsysteme, die sich durch sehr verschiedene kulturelle Landschaften hindurchschlängeln können. Innerhalb eines solchen religiösen Flußsystems ist jede Religion als eine ganz und gar eigenständige Größe in ihrem spezifischen Profil trotz aller Verwandtschaften untereinander ernst zu nehmen.“ (157)

Um im Bild zu bleiben: diese Ströme haben nicht nur die Menschen genährt und ihnen Wege in neue Welten eröffnet, sondern im Lauf der Geschichte zu zahlreichen Überschwemmungen geführt und viele Leben (Menschen, Tiere und Pflanzen) vernichtet. Küng bestätigt, dass die Religionen Kriege und Gewalttaten nicht nur abgesegnet, sondern auch verursacht haben („… wenn alle Vertreter der großen Religionen aufhörten, Kriege zu schüren,…“ 86, „Ein durch die Religionen gespeister Fanatismus der Gewalt, des Mordens und der Zerstörung…“ 99, „So viel Streit, blutige Konflikte, ja ‚Religionskriege‘ gehen auf ihre Konten… 100, „Das Christentum hat eine schreckliche Geschichte der Verfolgung von Ketzern… 109). Deshalb fordert er:

„Wir brauchen Religionen, die nach all den heißen und kalten Kriegen nach all der mehr schiedlichen als friedlichen Koexistenz sich in konstruktiver Proexistenz und friedensstiftender Kooperation bei lokalen und regionalen Konflikten üben. Ein eng geflochtenes Netzwerk interreligiöser Information, Kommunikation und Kooperation ist notwendig. Praktisch brauchen alle Religionen als gleichberechtigte Weggefährten:

- mehr gegenseitige Information;

- mehr wechselseitige Herausforderung;

- mehr allseitige Transformation in der gemeinsamen Suche nach der größeren Wahrheit, nach dem Geheimnis des einen wahren Gottes, das sich erst am Ende der Geschichte, wenn Gott selbst es will, voll offenbaren wird.“ (169)

Kritisch betrachtet ist das ein erbaulicher Beitrag für jede Sonntagspredigt, mit einer Einleitung, die jeder befürworten kann: von der Koexistenz zur friedensstiftenden Kooperation. Doch am Ende streut Küng selbst den Samen für die Fortsetzung des ewigen Religionskonfliktes, wenn er die „Suche nach der größeren Wahrheit“ nicht nur fordert, sondern als conditio sine qua non des Dialogs voraussetzt.

Den Begriff der Wahrheit hat der Theologe Küng wahrscheinlich in vielen Werken vertieft. Im vorliegenden Buch verwendet er den Begriff allerdings oberflächlich, missverständlich und deshalb konfliktbehaftet. In einem eigenen Kapitel beschäftigt er sich mit der „wohl am meisten umstrittenen religiösen Frage: die Frage nach der Wahrheit“. (103 ff)

Zunächst kritisiert Küng blinden Wahrheitsfanatismus, denn der „hat noch zu allen Zeiten und in allen Kirchen und Religionen hemmungslos verletzt und gemordet. Umgekehrt freilich haben müde Wahrheitsvergessenheit Orientierungslosigkeit und Normenlosigkeit zur Folge, dass viele an überhaupt nichts mehr glauben.“ (105) Daraus folgt die Grundfrage: „Ist ein Weg theologisch verantwortbar, der es Christen wie Andersgläubigen gestattet, die Wahrheit der eigenen Religion und damit die eigene Identität preiszugeben?“ (105)

Es gibt laut Küng drei Strategien, dieses Problem zu lösen, doch schon vorweg gesteht er ein, dass „alle drei kein Beitrag zur politisch relevanten Lösung der Friedensfrage sind“. Die „Festungsstrategie“ hält nur die eigene Religion für wahr, so dass nur diese als Weltreligion den Weltfrieden garantieren kann. Die „Verharmlosungsstrategie“ konstatiert, dass jede Religion gleich wahr und gleich gültig, letztlich gleichgültig sei. Der religiöse Friede kann demnach erreicht werden, indem man Unterscheide nicht überbewertet, sondern diese ignoriert. Die „Umarmungsstrategie“ hält nur eine Religion für die wahre, aber alle anderen Religionen haben Anteil an der Wahrheit und könnten so leicht in die eine, wahre Religion integriert werden. (105 ff)

Alle großen Religionen fordern bestimmte ‚non-negotiable standards‘: ethische Grundnormen und handlungsleitende Maximen, die von einem Unbedingten, einem Absoluten her begründet und deshalb für Hunderte von Millionen Menschen auch unbedingt gelten sollen.“ (82) Um die Fluss-Metapher nochmals zu bemühen, könnte man sagen: Alle Welt-Religionen sind Ströme, die von der Quelle bis zur Mündung mehr oder weniger verschmutztes Wasser führen, immer aber dieselbe reine chemische Substanz: H2O. Frieden finden die Weltreligionen nur dann, wenn sie sich so wie Mississipi, Amazonas, Nil, Ganges, Donau, Dnjepr und Wolga niemals in die Quere kommen. (Zynische Randbemerkung: also nie!) Am Ende münden alle Ströme in das eine große Weltmeer – in eine große Einheit, die lediglich die Menschen aufgrund begrenzter Erkenntnisvermögen schon vor Jahrhunderten in unterschiedliche Ozeane und Meere unterteilt haben. Eine Einheit, die nur am Rande, an den Ufern, von einzelnen Staaten in Besitz genommen werden kann. Noch nie hat ein Staat und auch noch keine Religion (was für ein Wunder!) dieses große Ganze für sich in Anspruch genommen. Warum aber versuchen die Weltreligionen ununterbrochen Gott zu vereinnahmen? Warum erheben alle Religionen dem Anspruch, sie würden alleine Gott besitzen, und das impliziert: die Wahrheit über Gott kennen bzw. erkennen können?

Anders gesagt: die Religionskriege entstehen durch den fatalen Irrtum, die Wahrheit über Gott könne erkannt werden. Diesem Irrtum unterliegt auch Küng, wenn er schreibt: „Echte Religion, die sich auf das eine Absolute (Gott) bezieht, unterscheidet sich wesentlich von jeder Quasi- oder Pseudoreligion, die etwas Relatives verabsolutiert, vergöttlicht: sei es die atheistische ‚Göttin Vernunft‘ der den ‚Gott Fortschritt‘ mit all seinen (lange Zeit ebenfalls nicht hinterfragten) ‚Untergöttern‘ im Panteheon der Moderne: Wissenschaft (Naturwissenschaft), Technologie (‚High Tech‘) und Industrie (‚Kapital‘). Wir sollten sie in dieser neuen Weltkonstellation auch nicht durch einen neuen Götzen, etwa den ‚Weltmarkt‘, dem alle Werte unterzuordnen wären, ersetzen, sondern durch den erneuerten Glauben an den einen wahren Gott. Echte Religion, die sich so auf das eine und einzige Absolute bezieht, hat in der Postmoderne wieder eine neue Chance – nicht mehr und nicht weniger.“ (78f)

Die Beispiele „unechter Religionen“ beziehen sich zwar auf Götzenverehrung und Anbetung des schnöden Mammons, nicht auf andere „Weltreligionen“. Es dürften aber auch so genannte Sekten gemeint sein. Jedenfalls fordert Küng „den erneuerten Glauben an den einen wahren Gott“, also nicht an Jahwe und Allah. Heute wissen wir: wo Allah regiert, hat der (christliche) Gott keinen Platz, wo der katholische Gott noch die Mehrheit hat, ist oft kein Platz für den Gott der Babtisten, Adventisten und Zeugen Jehovas. Und der Gott der orthodoxen Juden hat bis heute nicht das geringst Verständnis für Trinität oder Transsubstanziation.

SIEHE AUCH: Festrede des neuen Stiftungspräsidenten, Univ. Prof. Dr. Bernd Engler, die er anläßlich unserer Jubiläumsfeier "30 Jahre Erklärung zum Weltethos" am 11. Oktober 2023 mit freundlicher Genehmigung von Edith Riether, Initiative Weltethos Österreich.


Was ist Wahrheit?

Wenn Küng in „Projekt Weltethos“ über Wahrheit schreibt, dann meint er in Wahrheit die Glaubenswahrheit. Diese unterscheidet sich von „der“ Wahrheit dadurch, dass sie nicht gefunden werden kann wie ein Naturgesetz und nicht erfunden wie eine künstlerische Kreation. Die Glaubenswahrheit wird offenbart und in weiterer Folge überliefert; daraus bilden sich Legenden und Mythen. Im Mysterium kann eine Glaubenswahrheit unmittelbar erlebt werden. Die Glaubenswahrheit ist das „Geheimnis des einen wahren Gottes“. Das Wesen des Geheimnisses besteht darin, dass es nicht enthüllt werden kann. Würde es enthüllt, wäre es kein Geheimnis mehr.

Niemals kann ein Geheimnis bewiesen (verifziert) oder widerlegt (falsifiziert) werden. Die subjektive Interpretation, das subjektive Erleben dieses Geheimnisses ist die Glaubenswahrheit. Diese steht weder über der Wahrheit, die Atheisten mit ihrer Sicht der Wirklichkeit verwechseln, noch steht sie unter der Wahrheit, die Naturwissenschafter oft mit verifizierten Thesen verwechseln. Aus philosophischer Sicht bleibt es ein ewiges Rätsel, warum Heerscharen von Theologen ihr Leben der „Erforschung“ und „Erkenntnis“ dieses Geheimnisses widmen. Auch Küng, der seinem Wesen nach immer Theologe geblieben ist.

Der Glaube ist jener Bereich, wo der Mensch die Grenzen der Erkenntnis erreicht hat. Die volkstümliche Wahrheit „Glauben heißt nichts wissen“, ist ebenso richtig wie falsch. Volkstümlich wird diese Aussage so interpretiert, dass man glauben müsse, wann immer man nicht „genug wisse“. Daraus folgt: wer glaubt ist dumm, wer etwas weiß ist gescheit. Immanuel Kant hat dagegen in der Kritik der reinen Vernunft die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis ergründet, um an den Grenzen der Erkenntnis Platz für den Glauben zu schaffen. "Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen", lautet Kants legendäre Formulierung. Den Glauben an eine „atheistische Göttin Vernunft“ hat Kant weder begründet, noch gepredigt. Im Gegenteil! Glaube bedeutet nicht nur „nicht wissen“, sondern auch: hoffen. Ganz im Sinne von Kants drei Grundfragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Letztere ist die genuine Frage aller Religionen. Erstere die Frage aller Wissenschaften. Und dazwischen steht die Moral – hier müsste auch das Weltethos seine Begründung und seinen Wirkungsbereich finden.

Was ist der Unterschied zwischen Glaubenswahrheit und Wahrheit? Was ist „die Wahrheit“? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm – im wörtlichen und im metaphorischen Sinn unzweifelhaft eine Wahrheit. Es gab immer Kriege in der Geschichte der Menschheit – eine erschütternde und frustrierende historische Wahrheit. In beiden Fällen kann man aber auch eine subjektive innere Wahrheit vertreten, das bedeutet: etwas anderes glauben (und hoffen!). Ich persönlich glaube, dass das Kind von Eltern, die schwere Alkoholiker waren, zu einem Asketen werden kann. Ich glaube, dass sich die Geschichte ändern kann und eine Zukunft ohne Kriege möglich ist.

Was ist „die Wahrheit“? Diese Frage wurde im vorigen Absatz nicht beantwortet, sondern elegant mit Beispielen umschrieben, genauer gesagt: umgangen. Die Offenlegung dieser Tatsache (umgangssprachlich könnte man durchaus sagen: die Offenlegung dieser Wahrheit) entspricht der Forderung von Küng, Selbstkritik zu üben. Nun aber die definitive Antwort. Vorweg: jede Definition besteht aus Eingrenzung und Ausgrenzung.

Innerhalb der Eingrenzung findet sich der Begriff „Idee“, konkret die Aussage: Die Wahrheit ist eine Idee. Hier ist es nicht notwendig, den Begriff der Idee von Platon bis Kant bis auf seine tiefsten Schichten zu entfalten. Es reicht, den Begriff „Idee“ abzugrenzen von „Illusion“, „Halluzination“, „Phantasie“, „Einbildung“, „Vorstellung“, „Anschauung“ „Wahrnehmung“ und allen anderen „Gedanken“ die Teile von „Tagträumen“, „Überlegungen“ oder „Spekulationen“ sind, oder in solche übergehen können. All diese Phänomene sind keine Ideen und werden daher ausgegrenzt. Die Eingrenzung soll hier ergänzt werden durch die Aussage: Die Wahrheit ist eine Idee, so wie Freiheit und Gerechtigkeit Ideen sind.

Wer immer nach ethischen Grundwerten sucht, wird die Begriffe Freiheit und Gerechtigkeit finden. In allen Religionen und in allen Weltanschauungen aller Zeiten. Wer den Begriff der Idee nicht verstanden hat, kann leicht empirisch beweisen, dass Freiheit und Gerechtigkeit nicht existieren. Es ist eine Tatsache, also eine historische Wahrheit: noch nie in der Geschichte der Menschheit gab es eine Periode, in der Freiheit und Gerechtigkeit verwirklicht wurden. Doch darf man deshalb behaupten, es sei eine „Wahrheit“, dass es Freiheit und Gerechtigkeit „nicht existieren“ und nie existieren werden, weil sie nie existiert haben? Darf man deshalb nicht die Glaubenswahrheit verbreiten, dass Freiheit und Gerechtigkeit grundsätzlich möglich und somit realisierbar sind?

Wenn in dieser kurzen Kritik des Projektes Weltethik die großartigen Leistungen und Visionen von Hans Küng, ebenso wie seine Analyse des „Zeitgeistes 1990“ zu wenig gewürdigt wurden, so soll folgendes Zitat ein versöhnender Abschluss sein: „Warum sollte die Menschheit, die in ihrer langen Geschichte bestimmte Bräuche wie Inzest, Kannibalismus und Sklaverei abgeschafft hat, in einer völlig neuen weltgeschichtlichen Konstellation etwa nicht auch die Kriege aufgeben können?“ (117)


Im berühmten Aufsatz Was ist Aufklärung, den Immanuel Kant 1784 veröffentlichte, nimmt der Königsberger Philosoph das Dilemma von Hans Küng vorweg:

„Ebenso ist ein Geistlicher verbunden, seinen Katechismusschülern und seiner Gemeinde nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen Vortrag zu tun; denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden. Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in jenem Symbol und Vorschläge wegen besserer Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens dem Publikum mitzuteilen. Es ist hiebei auch nichts, was dem Gewissen zur Last gelegt werden könnte. Denn was er infolge seines Amts als Geschäftträger der Kirche lehrt, das stellt er als etwas vor, in Ansehung dessen er nicht freie Gewalt hat nach eigenem Gutdünken zu lehren, sondern das er nach Vorschrift und im Namen eines anderen vorzutragen angestellt ist. Er wird sagen: unsere Kirche lehrt dieses oder jenes; das sind die Beweisgründe, deren sie sich bedient. Er zieht alsdann allen praktischen Nutzen für seine Gemeinde aus Satzungen, die er selbst nicht mit voller Überzeugung unterschreiben würde, zu deren Vortrag er sich gleichwohl anheischig machen kann, weil es doch nicht ganz unmöglich ist, daß darin Wahrheit verborgen läge, auf alle Fälle aber wenigstens doch nichts der inneren Religion Widersprechendes darin angetroffen wird. Denn glaubte er das letztere darin zu finden, so würde er sein Amt mit Gewissen nicht verwalten können; er müßte es niederlegen. Der Gebrauch also, den ein angestellter Lehrer von seiner Vernunft vor seiner Gemeinde macht, ist bloß ein Privatgebrauch: weil diese immer nur eine häusliche, obwohl noch so große Versammlung ist; und in Ansehung dessen ist er als Priester nicht frei und darf es auch nicht sein, weil er einen fremden Auftrag ausrichtet. Dagegen als Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt, spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft genießt einer uneingeschränkte Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen. Denn daß die Vormünder des Volks (in geistlichen Dingen) selbst wieder unmündig sein sollen, ist eine Ungereimtheit, die auf Verewigung der Ungereimtheiten hinausläuft."

...

„Der Probierstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage: ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte. Nun wäre dieses wohl gleichsam in der Erwartung eines besseren auf eine bestimmte kurze Zeit möglich, um eine gewisse Ordnung einzuführen: indem man es zugleich jedem der Bürger, vornehmlich dem Geistlichen frei ließe, in der Qualität eines Gelehrten öffentlich, d.i.durch Schriften, über das Fehlerhafte der dermaligen Einrichtung seine Anmerkungen zu machen, indessen die eingeführte Ordnung noch immer fortdauerte, bis die Einsicht in die Beschaffenheit dieser Sachen öffentlich so weit gekommen und bewährt worden, daß sie durch Vereínigung ihrer Stimmen (wenngleich nicht aller) einen Vorschlag vor den Thron bringen könnte, um diejenigen Gemeinden in Schutz zu nehmen, die sich etwa nach ihren Begriffen der besseren Einsicht zu einer veränderten Religionseinrichtung geeinigt hätten, ohne doch diejenigen zu hindern, die es beim Alten wollten bewenden lassen. Aber auf eine beharrliche, von Niemanden öffentlich zu bezweifelnde Religionsverfassung auch nur binnen der Lebensdauer eines Menschen sich zu einigen und dadurch einen Zeitraum in dem Fortgange der Menschheit zur Verbesserung gleichsam zu vernichten und fruchtlos, dadurch aber wohl gar der Nachkommenschaft nachteilig zu machen, ist schlechterdings unerlaubt.“

Folgt man Kants Ausführungen, so hat die Kirche im Falle Küngs die Prinzipien Kants umgekehrt. Kant hätte wohl dafür plädiert, Küng die Befugnisse des Priesters (Seelsorger, Prediger) zu entziehen, ihn aber in der Stellung als Gelehrter zu belassen.

Ganz nebenbei klassifiziert Kant in dem Absatz die Angelegenheiten der Kirche (bzw der Religionen) prinzipiell als Privatsache. Auch wenn ein Gottesdienst – heute via Internet und TV leicht möglich – gleichzeitig Millionen Menschen erreicht, ist dieser privat. Der Gegensatz privat-öffentlich ist dabei missverständlich und wäre nach heutigen Begriffen besser mit geschlossener und offener Veranstaltung zu charakterisieren. Im Sinne von Karl Popper sind die Religionsgemeinschaften „geschlossene Gesellschaften“, während die freien Wissenschaften „offene Gesellschaften“ sind. Auch wenn die Wissenschaften davon heute weit entfernt sind, so sind sie dem Wesen nach Wissenschaft nur dann, wenn sie offen, frei und unabhängig sind!