Roberts John Morris: Der Triumph des Abendlandes - Exkurs: Russland

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Exkurs: Russland

Im Kapitel "Abgrenzung einer Welt" beschäftigt sich Roberts mit der Frage, ob Russland dem europäischen oder dem asiatischen Kulturkreis zugerechnet werden sollte. Er erinnert daran, dass Justinian in Konstantinopel einführte, "was man etwas schwerfällig 'cäsaropapistische Autokratie' genannt hat", womit die Einheit von weltlicher und geistlicher Gewalt gemeint ist. "Diese Theorie hat sich durch die orthodoxen Kirchen bis auf unsere Tage bewahrt" (S 150). Die Christianisierung der slawischen Völker erfolgte nicht über Europa, sondern ging von Byzanz aus.

"Die barbarischen Könige im Abendland [...] waren in den Augen der Kirche nur treuhänderische Verwalter des geistigen Wohlergehens ihrer Völker [...] Östliche orthodoxe Kaiser kannten keinen solchen irdischen Vorgesetzten. Die folgenreichsten Bekehrungen durch die Ostkirche fanden gegen Ende des 10. Jahrhunderts - wohl 986 - in einem Fürstentum statt, dessen Mittelpunkt eine Handelsstadt am Dnjepr war, in Kiew Rus. Zu diesem Zeitpunkt taucht in der Geschichte erstmals der Begriff 'Rußland' auf. Westeuropäer sind niemals wirklich imstande gewesen, sich klar darüber zu werden, wo sie Rußland auf ihrer geistigen Landkarte einzeichnen sollten." (S 156)

"Erst im 18. Jahrhundert wurde Rußlands regierendes Herrscherhaus in Westeuropa als Mitglied jenes hehren Kreises der Europa regierenden Dynastien anerkannt, und selbst damals verstand niemand so recht, was in Moskau eigentlich vor sich ging. [...] War das Russische Reich orientalisch, war es arabisch? Zweifel blieben. (S 156)

"Es war schließlich Wladimir, der die weitere Entwicklung entscheidend beeinflussen sollte, ein Fürst, der nach wilden dynastischen Kämpfen um 980 als Sieger in Kiew Rus erschien. [...] Wladimir scheint einige Zeit gezögert zu haben, das orthodoxe Christentum für sich und sein Volk anzunehmen, mußte er doch auch politische und diplomatische Erwägungen anstellen. Am Ende jedoch entschloß er sich dazu, und um seine Haltung auch nach außen hin zu zeigen, heiratete er eine byzantinische Prinzessin, die Schwester des Kaisers. [...] Er hatte beschlossen, daß Rußland christlich sein sollte, und dadurch, daß er es nicht katholisch werden ließ, trug er zu jenem russischen Rätsel bei, das in der Frage liegt: Ist Rußland Teil des Abendlandes?" (S 157 f) Eine Antwort darauf gab später Dostojewski: "In Europa sind wir Asiaten, während in Asien auch wir Europäer sind." (S 170)

"Kreuzritter betrachteten die Russen als Feinde und Eindringlinge. Es spielte keine Rolle, daß sie Christen waren und behaupteten, den Glauben zu verbreiten. Die orthodoxen Slawen waren auch Christen, doch ziemlich sicher, daß ihre katholischen Angreifer sie nicht als solche betrachteten. [...] Von Anfang an trieb der feindliche Druck Rußland zur Zentralisierung und dazu, die Staatsgewalt voll zur Geltung zu bringen." [...] Ein tiefsitzender psychologisch bedingter Argwohn gegen das Abendland griff Platz, der immer und immer wieder neu belebt wurde und den Austausch von Ideen zwischen West und Ost verhinderte." (S 159) Im 19. Jahrhundert gab es zwischen europhilen und slawophilen Intellektuellen häufig Auseinandersetzungen.

"1936 brach in der Mongolei ein Krieg zwischen Rußland und Japan aus. Die russischen Machthaber sahen eine alte Gefahr, sahen eine Allianz zwischen Westeuropa und Asien gegen Rußland. Das ist der Hintergrund, den man im Auge behalten muß, wenn man sich über die uns oft völlig unangemessen erscheinende sowjetische Furcht vor einem von Deutschland angeführten Europa auf der einen und einem aufsteigenden China auf der anderen Seite wundert. Die Geschichte ist stärker als die marxistische Ideologie." (S 160, Anm. TH: geschrieben 1985!)

"Moderne Historie scheint kein so großes Interesse an Daten zu haben, mit denen Epochen 'anfangen' und 'enden', aber solche Daten sind immer noch recht nützlich, wenn man die historischen Landkarten abstecken will. 1453 ist ein sehr gut geeignetes Datum, weil es in diesem Jahr feststand, daß Rußland der große Bruder der orthodoxen Familie sein würde. Neunhundert Jahre nach Justinian unterlag Konstantinopel, das zweite Rom, einem Heer der Ungläubigen." (S 161)

"Schon 1448 hat Moskau die kirchliche Autorität des Patriarchen von Konstantinopel abgeschüttelt. 'Zwei Rom sind gefallen", schrieb ein Mönch dem moskowitischen Herrscher im frühen 16. Jahrhundert, 'das dritte steht aufrecht, und ein viertes wird es nicht geben. ... Ihr seid der einzige christliche Zar in der Welt. (Anm. TH: das russische Wort "Zar" leitet sich direkt von "Caesar" ab.) [...] Um 1600 erstreckte sich Rußland schon über ein Gebiet von ungefähr zwei Millionen Quadratmeilen - und vor ihm lag Asien." (S 166)

"1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, bedeckte das Russische Reich ein Sechstel der Landoberfläche der Erde. Das war zwar nicht ganz so viel wie der britische Besitz (der ein Fünftel ausmachte), aber das russische Territorium befand sich in einer zusammenhängenden Masse unter einer Zentralregierung." (170=

"Im Guten wie im Bösen 'schleppte' Rußland während seiner Expansionsepoche nichts mit von der abendländischen und 'feudalen' Betonung des Individualstatus und des Individualrechtes, nichts von der Spannung zwischen Religion und weltlicher Macht, nichts von den 'Freiheiten' der abendländischen Städte, nichts vom Gewicht der Gruppen und Standesrechte, die im Westen zur Repräsentation von 'Reichsständen' in parlamentarischen oder quasiparlamentarischen Institutionen führten." (S 172)

"Es ist immer noch schwer zu sagen, wo Europa im Osten 'endet'". (S 174)