Kafka Franz: Amerika

geschrieben 1912/13

herausgegeben von Max Brod 1927

Zitiert nach Fischer Taschenbuch, 1983

Auf der Seite fanzkafka.de, die der Verlag des Autors betreibt, findet sich die Belehrung „Kafka kennt sich in Amerika nicht aus.“ Als Beweis werden vorgebracht, er habe Osten mit Westen verwechselt, „Oklahama“ anstelle von „Oklahoma“ geschrieben und – unfassbar – der Freiheitsstatue ein Schwert in die Hand gedrückt (statt der berühmten Fackel). Es ist dies Teil einer neumodischen Besserwisser-Exegese, wie wir sie auch anlässlich des 300. Geburtstags von Immanuel Kant finden können. Dazu kommt die political-correctniss-Exegese, die unbedingt klären muss, ob die historische Person, die Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Betrachtungen ist, homoxexuell war. Und zur ewigen Wiederkehr der Vergangenheitsbewältigung gehört die Frage, ob die Person Jude war oder Antisemit; oder beides! (So geschehen auch in den Kant-Biografien von Marcus Willaschek und Jürgen Wertheimer).

Amerika älter

"Amerika" ist im Unterschied zu den Romanen „Das Schloss“ und „Der Prozess“ weniger kafkaesk, sondern eher sozialkritisch. („Es war ein Glück für Karl, dass die Verfolgung in einem Arbeiterviertel stattfand. Die Arbeiter halten es nicht mit den Behörden.“) Dazu kommen futuristische Akzente. Typisch kafkaeske Situationen treten auf, wenn „K.“, der hier einen vollen Namen, nämlich „Karl“ erhält, von zufälligen Bekanntschaften auf der Reise nach Amerika und bei zahlreichen „Abenteuern“ in Amerika in die Enge getrieben wird. Es ist weniger das ominöse, übermächtige System, sondern eher der fiese, hinterlistige Charakter der Personen, gegen die Karl zu kämpfen hat, weil sie ihn immer wieder in die Enge treiben und seine Naivität schamlos ausnutzen.

Das System, in dem sich die Unterprivilegierten bewegen, wird in detaillierten Beschreibungen der Lebensumstände spürbar. Es bleibt nicht unfassbar, sondern wird klar skizziert als System mit massiven Klassenunterschieden auf Kosten der Arbeiterklasse. Sogar über Streiks der Metaller und Bauarbeiter berichtet Kafka.

Die Story: Im 1. Kapitel, das schon zu Lebzeiten Kafkas unter dem Titel „Der Heizer“ veröffentlicht wurde, trifft Karl, nachdem das Schiff nach Amerika bereits in NY angelegt hatte, den Heizer des Schiffes, der sich beim Kapitän wegen ungerechter Behandlung im Dienst beschweren will. Karl lässt sich sofort vom Heizer vereinnahmen und vertritt ihn vor dem Kapitän. Diese Szene beobachtet aus dem Hintergrund eine Person, die sich als Senator und außerdem als Onkel von Karl erweist, der diesen aufnimmt und dem verstoßenen Sohn aus Europa einen traumhaften Neustart ermöglicht. Der amerikanische Traum ist jedoch nur von kurzer Dauer, es folgt ein Alptraum, nachdem Karl vom Onkel verstoßen worden war.

Zufällige Reisebegleiter sind zwei Arbeitslose, deren Fängen Karl erst entkommen konnte, nachdem er im Hotel Occidental die Küchenchefin kennengelernt hatte, die ihm eine Stellung als Liftboy im Hotel ermöglichte. Zum zweiten Mal greift der „glückliche Zufall“ ein. Doch auch dieses Glück währt nicht lange. Durch eine Intrige seiner ehemaligen Wegbegleiter („Kameraden“) wird er verleumdet und entlassen und ist danach wieder in den Fängen der beiden, die sich mittlerweile bei der „berühmten Sängerin Brunelda“ eingenistet haben. Karl wehrt sich vergeblich gegen den Versuch, in beengten Verhältnissen, die Kafka detailverliebt beschreibt, zum „Diener“ Bruneldas befördert zu werden, weil er durchschaut, dass er damit de facto zum Sklaven seiner „Kameraden“ degradiert werde.

Karls Ausbruch aus diesem „Asyl“ schildert Kafka nicht. Der Roman wurde unvollendet hinterlassen, so beginnt das letzte Kapitel etwas unvermittelt damit, dass Karl ein Plakat liest, das jedem Interessenten beim „großen Theater von Oklahoma“ Arbeit verspricht. Karl wusste bereits , „Plakaten glaubte niemand mehr“, außerdem war verdächtig: „es stand kein Wörtchen von der Bezahlung darin.“ Trotzdem ließ er sich von dem Versprechen locken, und meldete sich bei einer von rund 200 Aufnahmekanzleien, denn „jeder ist willkommen.“ Das Kapitel endet mit der Anstellung Karls, einem Festmahl aller neu Aufgenommen, sowie der Abreise im Zug nach Oklahoma. Der Aufbruch in das „größte Theater der Welt.“

Futuristische Aspekte des Romans: Mit diesem Superlativ skizziert Kafka das typisch Amerikanische, das aus europäischer Sicht immer futuristisch war, d.h. Europa um einige Jahre oder gar Jahrzehnte voraus. So auch das Geschäft seines Onkels, „eine Art Kommissions- und Speditionsgeschäft, wie sie, soweit sich Karl erinnern konnte, in Europa gar nicht zu finden waren. … ein Geschäft, welches … unaufhörliche telephonische und telegraphische Verbindungen mit den Klienten unterhalten mußte.“ Auch das Hotel Occidental in der Stadt „Ramses“ (die in Wirklichkeit gar nicht existiert – moralinsauer beurteilt ein literarischer Fehlgriff!) ist voller technischer Superlative: „fünftausend Gäste“ mussten von 40 Liften und entsprechend vielen Liftjungen Tag und Nacht befördert werden. Sogar die Körperfülle von Brunelda ist sagenhaft („Das Singen haben ihr die Nachbarn verboten, das Schreien kann ihr niemand verbieten“). 100 Jahre später gehören solche Erscheinungen zum amerikanischen Alltag.

Philosophische Betrachtungen: In„Amerika“ finden sich auch ironische Zwischentöne, die den anderen Romanen Kafkas fehlen. Dass Karl im „größten Theater der Welt“ seine berufliche Zukunft findet, ist nicht nur „typisch amerikanisch“ aufgrund der gigantischen Ausmaße des Projektes, sondern vor allem deshalb, weil mit diesem Theater Amerika selbst gemeint ist, denn: „die ganze Welt ist Bühne“. 2024, im Jahr des zweiten Präsidentschaftswahlkampfes zwischen Biden und Trump, ist diese Interpretation aktueller denn je, in einem Land, in dem die Macht der Medien größer ist als irgendwo anders. In einem Land, in dem die (Talk)Shows wichtiger sind als offene politische und wissenschaftliche Diskurse. In einem Land, das bis heute den messianischen Anspruch erhebt, die Führungsmacht dieser Welt zu sein. Gleichzeitig ist die Anspielung auf Shakespeares Bonmot sehr europäisch und verweist auch auf die Passionsspiele, die in Europa seit dem Mittelalter Tradition haben. So könnte man „Amerika“ als Entwicklungsroman von Karl lesen, der die "Neue Welt" durch die europäische Brille betrachtet.

„Amerika“ lässt sich schematisch als Dreieck darstellen; dessen Eckpunkte sind Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit. Es sind die Ideale des amerikanischen Traums, die Karl wörtlich nimmt, wie in Stein gemeißelt, was dazu führt, dass er überall aneckt. Der Mittelpunkt des Dreiecks ist die (An-)Stellung (der Posten), jedes Individuum (so auch Karl) wird zum Mittelpunkt dieses Dreiecks.

Über die Beschwerden des Heizers beim Kapitän schreibt Kafka: „Immerhin erfuhr man aus den vielen Reden nichts Eigentliches, … ‚Dem Heizer wird geschehen, was er verdient‘, sagte der Senator … ‚Darauf kommt es doch nicht an, bei einer Sache der Gerechtigkeit‘, sagte Karl. Er stand zwischen dem Onkel und dem Kapitän und glaubte, vielleicht durch diese Stellung beeinflußt, die Entscheidung in der Hand zu haben. … ‚Mißverstehe die Sachlage nicht‘, sagte der Senator zu Karl, 'es handelt sich vielleicht um eine Sache der Gerechtigkeit, aber gleichzeitig um eine Sache der Disziplin. Beides und ganz besonders das letztere unterliegt hier der Beurteilung des Herrn Kapitäns.‘“

Die Stellung als Neffe musste Karl, nein, durfte Karl (nach leidvollen Erfahrungen mit seinen „Kameraden“ am Weg nach Ramses) gegen eine Stellung als Liftjunge tauschen: „Es wäre ein großer Unsinn gewesen, gegen die Stelle eines Liftjungen mit Rücksicht auf seine fünf Gymnasialklassen Bedenken zu haben. Eher wäre hier in Amerika Grund gewesen, sich der fünf Gymnasialklassen zu schämen.“

Im Hotel sucht die schüchterne Sekretärin der Küchenchefin sofort Anschluss an Karl, denn „es ist doch ein zu großer Unterschied in unserer Stellung, als dass ich frei mit ihr reden könnte.“ Karl vertraut sie an: „Ich wäre froh, wenn Sie hierblieben, und wir könnten, wenn es Ihnen recht ist, zusammenhalten.“ Und so hilft Karl in seiner Freizeit seiner neuen Bekannten bei Einkäufen, denn „er fühlte sich in einer sicheren Stellung“. Ein Sakrileg in seiner Stellung als Liftjunge ist es jedoch, während dem Dienst seinen Posten zu verlassen. Dazu provozierten ihn seine „Kameraden“ und die Entlassen wegen Dienstversäumnis war die Konsequenz, „denn Gerechtigkeit muß sein“.

Nach der Intrige seiner „Kameraden“ gerät Karl ins Visier der Polizei und wird dabei wieder einmal in die Enge getrieben: „Die ganze Geschichte konnte er hier nicht erzählen, und wenn es auch möglich gewesen wäre, so schien es doch ganz aussichtslos, ein drohendes Unrecht durch Erzählung eines erlittenen Unrechts abzuwehren.“ Nur mit Hilfe seiner alten „Kameraden“ kann sich Karl den Fängen der Polizei entziehen und findet bei ihnen „Asyl“ (so der Titel des vorletzten Kapitels), das vielleicht sogar schlimmer als ein Gefängnis ist.

Vom Balkon aus beobachten Karl, seine Kameraden und Brunelda einen politischen Auflauf auf der Straße. Es geht um die (freie!) Wahl des Bürgermeisters, verbunden mit „einem großen Freitrinken“ und gewaltigem Geschrei: „der Kandidat redete immerfort, aber es war nicht mehr ganz klar, ob er sein Programm auseinanderlegte oder um Hilfe rief; wenn nicht alles täuschte, hatte sich auch ein Gegenkandidat eingefunden oder gar mehrere.“

Kann man Freiheit durch bessere Stellung gewinnen? Der Student Josef Mendel sagt zu Karl: „Ich selbst studiere schon seit Jahren eigentlich nur aus Konsequenz. Befriedigung habe ich wenig davon und Zukunftsaussichten noch weniger. Welche Aussichten wollte ich denn haben! Amerika ist voll von Schwindeldoktoren.“ Nachsatz: „Wenn ich zwischen Studium und meinem Posten zu wählen hätte, würde ich natürlich den Posten wählen. Meine Anstrengung geht nur darauf hin, die Notwendigkeit einer solchen Wahl nicht eintreten zu lassen.“

Immer, selbst bei den klarsten Verhältnissen, fand sich doch irgend jemand, der seinem Mitmenschen Sorgen machen wollte.“ Man kann diese Aussage als Quintessenz des Romans „Amerika“ lesen. Die Legende vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist eng verknüpft mit dem Mythos, die Amerikaner seien erfolgsbewusst und würden im fairen Wettbewerb einander Erfolge gönnen. Da jedoch Amerika von Europäern bevölkert und geprägt wurde, erinnert Kafka daran, dass Amerika gleichzeitig das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten ist. Die Erfolglosen führen einen perfiden Wettbewerb um den größten Misserfolg! Anders gesagt: alle Phänomenen, die Annehmlichkeiten wie die Abscheulichkeiten, die wir aus Europa kennen, finden wir auch in Amerika, allerdings viel größer dimensioniert – im futuristischen Gewande gewissermaßen.

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