Studienkritik aus philosophischer Sicht
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Philosophisch betrachtet kann man nur feststellen: Wer Antisemitismus sucht, wird Antisemitismus finden. Und wer nur Antisemitismus sucht, wird nur Antisemitismus finden. Genau das macht die "Antisemitismus 2022" -Studie, die somit von der Konzeption her unwissenschaftlich ist. Sie ist ein typisches Beispiel für eine "Studie", die im Interesse eines Auftraggebers erstellt wude und exakt die Ergebnisse liefert, die der Auftraggeber erwartet. Warum das Parlament, also unsere Volks-Vertreter als Auftraggeber dieses Interesse haben, wird noch zu klären sein. Im folgenden zwei Zitate aus der Studie, die zeigen, wie die Autoren den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit verloren haben:
"4.2 VERSCHWÖRUNGSANTISEMITISMUS
Alle Items, die dem Verschwörungsantisemitismus zuzurechnen sind, drücken antijüdische Verschwörungsmythen aus, die einen starken, aber nicht greifbaren Einfluss einer jüdischen Oberschicht – hier spielt die Phantasie von den stets reichen Juden und Jüdinnen herein – unterstellen. Diese Verschwörungsmythen werden in der Regel (vor anderen und vor sich selbst) so vorgebracht, als wären sie „vernünftige“ Argumente für das, was im Grunde nichts anderes als eine Abneigung ist. Der Verschwörungsantisemitismus wird also vom Vorschieben von vermeintlichen Argumenten geprägt.
Die folgenden Aussagen aus dem Fragebogen zu Antisemitismuserhebung 2022 sind dem Verschwörungsantisemitismus zuzuordnen:
• Item 1: 'Die Juden beherrschen die internationale Geschäftswelt.'
• Item 2: 'In wachsendem Ausmaß zeigen sich heute wieder Macht und Einfluss der Juden in der internationalen Presse und Politik.'
• Item 3: 'Juden haben in Österreich zu viel Einfluss.'
• Item 4: 'Hinter aktuellen Preissteigerungen stehen oft jüdische Eliten in internationalen Konzernen.' "
All diese Fragen sind suggestiv darauf ausgerichtet, die Antworten zu erhalten, die bestätigen, was eingangs vorausgesetzt wurde: dass es einen "Verschwörungsantisemitismus" gibt. Insbesondere die erste Frage "Die Juden beherrschen die internationale Geschäftswelt" ist - siehe oben - offenbar für die Autoren nicht ohne antisemitschen Kontext denkbar. Die gleiche Frage in Bezug auf Amerikaner, Chinesen oder gar Österreicher zu stellen, kommt ihnen nicht in den Sinn. Aber nur ein Vergleich mit anderen Nationalitäten könnte eine wissenschaftliche Aussage darüber erlauben, ob in Bezug auf Juden eine besonders große Abweichung von den üblichen Einschätzungen besteht.
Aus Sicht der Studien-Autoren besteht die Welt nur aus Antisemiten und "Nicht-Antisemiten", d.h. die Einstelllung der Menschen wird ausschließlich über den Antisemitismus definiert, wie die groteske Wortschöpfgung "Non-Antisemitismus" belegt:
"4.1 NON-ANTISEMITISMUS
Der Non-Antisemitismus bildet eine unbefangene Haltung gegenüber Juden und Jüdinnen ab und vereint die positiv formulierten Items des Fragebogens. Jedes Item kann aber auch – wenn man es ablehnt – für antisemitische Haltungen konstitutiv sein. Deshalb kommen die positiven Items mehrmals vor: einmal (bejaht) hier im Rahmen des Non-Antisemitismus und dann noch einmal bei jenen Erscheinungsformen von Antisemitismus, mit denen ihre Ablehnung statistisch eng korrelieren.
Die folgenden Aussagen aus dem Fragebogen zu Antisemitismuserhebung 2022 sind dem Non-Antisemitismus zuzuordnen:
• Item 1: 'Wegen der Verfolgung der Juden während des Zweiten Weltkrieges haben wir heute eine
moralische Verpflichtung, den Juden in Österreich beizustehen.'
• Item 2: 'Juden haben viel zum kulturellen Leben und zur Wissenschaft in Österreich beigetragen.'
• Item 3: 'Juden werden ungerechtfertigt angefeindet, wenn es Krisen gibt.'"
Auch in diesen Fragen finden sich nicht nur "non-antisemitische" Vor-Urteile, sondern bei genauer Betrachtung subkuntane antisemitische Einstellungen. Wer nicht nur der Gruppe "70 Jahre und älter", sondern auch der dritten und vierten Nachkriegsgeneration suggeriert, sie habe wegen der Judenverfolgungen im Zweiten Weltkrieg eine "moralische Verpflichtung" den Juden heute "in Österreich beizustehen" (was immer das genau bedeuten soll, denn Fälle der moralischen Beistandspflicht werden nicht konkretisiert), der vertritt offenbar die antisemitische Einstellung, die Juden seien ihrerseits bis in die dritte und vierte Nachkriegsgeneration Hilfsempfänger mit einem "ererbten" Anspruch auf Wiedergutmachung. Der selbstbewusste, emanzipierte Jude existiert in den Vorstellungen der Studien-Autoren, die derartige Fragestellungen zusammentragen, offenbar nicht.
Dass die Studie nicht wissenschaftlich ist, sondern manipulativ - nicht nur im Ergebnis, sondern offensichtlich in manipulativer Absicht erstellt wurde- zeigen die Überschriften, die von der Parlamentskorrespondenz (= vom Parlamentspräsidium) formuliert, via APA OTS verschickt und dem entsprechend von den Massenmedien unkritisch übernommen und multipliziert wurden:
- Verschwörungsmythen und Bildungsniveau beeinflussen antisemitische Einstellungen
- Sobotka: Antisemitismus ist eine Gefahr für die Demokratie
- Einflussfaktoren auf Antisemitismus
- Antisemitismus in fünf Erscheinungsformen
- Unter-25-Jährige und Menschen mit Migrationsgeschichte im Fokus
- Über die Antisemitismusstudie 2022
Ein Item der Studie lautetete: "Juden haben viel zum kulturellen Leben und zur Wissenschaft in Österreich beigetragen." Gesamtergebnis: 65 Prozent aller Österreicher und Österreicherinnen sagen: "das trifft zu / das trifft eher zu". Mehr noch: 85 Prozent in der Altersgruppe 70+ kommen zu diesem positiven Ergebnis. Ein Zeugnis von Prosemitismus, das von Politikern, die das Volk, die Menschen lieben, als erstes und wichtigstes Ergebnis der Studie präsentiert worden wäre. Doch der Begriff "Prosemitismus" existiert gar nicht gemäß dieser Studie, sondern lediglich der skurrile Begriff "Non-Antisemitismus". Somit existiert auch das Phänomen gemäß Studie und gemäß Denkungsart der Auftraggeber (unsere Parlamentarier!) nicht, denn: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt" (Ludwig Wittgenstein).
Eine wissenschaftliche Studie müsste zunächst einmal erklären, was sie unter "Antisemitismus" versteht. Die willkürlich vorgegebenen Aussagen (Items) hat in der Form kein normaler Mensch in seinem geistigen Repertoir verinnerlicht. Diese Items als Teil einer "Einstellung" (ein sehr komplexer philosophischer Begriff, der nicht weiter erklärt wird) auszumachen, nachdem man keine intelligenteren Aussagen und keine bessere Methode gefunden hat, die Einstellungen der Menschen zu ergründen, ist unwissenschaftlich.
Eine wissenschaftliche Studie müsste zunächst erklären, ob "Antisemitismus" 1. als Form von Rassismus, 2. als Ablehnung einer Religion oder 3. als Minderheitenproblematik betrachtet wird.
ad 1: Vergleichsthemen wären dann Antiamerikanismus, Antirussismus, Antigermanismus usw
ad 2: Vergleichsgruppen wären dann Christen, Muslime, Atheisten usw.
ad 3: Vergleichsgruppen wären dann Frauen in Führungspositionen, Kinder von Geringverdienern, Wirtschaftsflüchtlinge oder andere.
In jedem einzelnen Fall müsste man die Einstellung zu entsprechenden Vergleichsgruppen abfragen, um daraus eine Schlussfolgerung ziehen zu können, ob die Einstellung zu Juden bzw. Semiten markant von den Vergleichsthemen und Vergleichsgruppen abweicht. Das macht die Antisemitismusstudie nicht! Sie erforscht damit nicht "die Einstellung" der Menschen, sondern sucht lediglich nach Bestätigungen für das in der Studie vorausgesetzte Vor-Urteil, dass und wie stark Antisemitismus die Einstellung der Menschen beherrscht. Die Wiederholung dieses Prozederes alle zwei Jahre macht das Verfahren nicht besser, weil man dadurch "mehr Datenmaterial" erhält, sondern schlechter, weil man lediglich immer mehr vom immer gleichen Fehlern produziert. Das immer Gleiche der Antisemitismusstudien ist vom Ansatz, von der Methode und deshalb auch vom Ergebnis her falsch! Die Antisemitismusstudie 2022 ist unwissenschaftlich und nicht geeignet, tatsächliche Quellen von Rassismus, Gefährdung der Religionsfreiheit, oder Diskriminierung von Minderheiten aufzudecken.
Am 14.2.2023 schreibt die Autoren der Parlamentskorrespondenz: "Zahlreiche Maßnahmen der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus umgesetzt. Bericht des Bundeskanzleramts zeigt Erfolge bei der Bekämpfung von Antisemitismus." Selbst die "Stabstelle Österreichisch-Jüdisches Kulturerbe im BKA" ist unter ferner liefen für " jüdischen Kultur- und Gemeindelebens in Österreich zuständig". Im Mittelpunkt stehen ihrer Tätigkeit stehen "die operative Koordinierung und Evaluierung der Maßnahmen zur Umsetzung der NAS ( Nationale Strategie gegen Antisemitismus", die Verstärkung der Koordination zwischen den einzelnen Akteurinnen und Akteuren in den Bereichen Gedenken, Antisemitismusaufklärung und Antisemitismusprävention."
ethos.at empfiehlt den Studienautoren sowie allen "Volksvertretern" den Essay von Rudolf Burger aus dem Jahr 2001: "Die Irrtümer der Gedenkpolitik" (derStandard, 20.6.2001) (siehe Interview zu dem Thema in der Wiener Zeitung am 25.7.2001 Zitat Rudolf Burger: "Der Holcaust ist zu einem Atout in jeder politischen Auseinandersetzung geworden. Ich halte das für eine schamlose moralische Sekundärausbeutung der Opfer.")
Nachsatz: Die erste Ausstellung "100 Missverständnisse über und unter Juden" der neuen Direktorin des Jüdischen Museum, Wien, habe "Missverständnisse um den Begriff Missverständnis" ausgelöst, erklärt Barbara Staudinger (Interview mit derStandard.at 1.2.23). Siehe auch Ausstellungsbericht auf ORF.at (6.12.22)
Ergänzung 20. September 2023 - Was ist eine "Gestenzahlung"? Und wer hat Anspruch darauf? ORF.at (20.9.23) weiß Bescheid: "Wir sind uns auch unserer finanziellen Verantwortung sehr bewusst", so der Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP). Neben der Gestenzahlung von knapp über 5.000 Euro, die noch heuer automatisch an alle Holocaust-Überlebenden ausgezahlt werden soll, werden derzeit bis zu 350 im Ausland lebende Menschen aus dem Hilfsfonds bedacht.