Paradoxon der Zivilgesellschaft

(13.1.2025) WIR marschieren aufrecht, aber ohne Zusammenhalt, zu Fuß über Stock und Stein vom Neusiedlersee bis zum Bodensee und zurück. Manche von uns pilgern sogar barfuß, als wollten sie für die Sünden der Altparteien büßen. Manche schwimmen von Hainburg bis Esternberg oder streckenweise von Wien bis Linz – gegen den Strom, naturgemäß. Die Bergführer unter uns nehmen die steilsten Wege über die Gipfel des Landes, auch wenn es im Tal unten ausgebaute Straßen gibt.

Zivilgesellschaft

Fallweise treffen WIR auf Leute, denen wir erklären: WIR marschieren für Basisdemokratie, direkte Demokratie, fluid democracy. Schließt euch an! Die Anschlussbereitschaft ist gering, denn mit Anschlüssen haben die Menschen schlechte Erfahrungen gemacht; mit Führern umso mehr. Lokführer, Bergführer, Arbeiterführer – alles einerlei.

Indessen fahren die Vertreter der Altparteien dutzendfach von den Mörbischer bis zu den Bregenzer Festspielen – mit Chauffeur im 7er BMW. Wo immer sie stoppen, wartet eine ORF-Kamera, um die Staatsbürger bis in die hintersten Regionen der Alpenrepublik über die Bedeutung dieses Zwischenstopps zu unterrichten. Jeder Unterricht ist eine Form der Manipulation und der Disziplinierung.

Bei jeder Wahl haben WIR die Möglichkeit, diszipliniert ins politische Spiel zu kommen. Ein Spiel, dessen Regeln diejenigen gemacht haben, die vom Chauffeur im 7er BMW (immer am Rande der Geschwindigkeitsbeschränkung) zum nächsten Schauplatz gebracht werden. Schauplätze sind dort, wo ORF-Kameras stehen.

Was sollen WIR nun tun?

Variante 1: WIR formieren uns und marschieren GEMEINSAM auf ein klar definiertes Ziel. Bleibt die Frage offen: wie, wann und wo definieren wir unser Ziel?

Variante 2: WIR besorgen uns einen 7er BMW mit Chauffeur, um unsere Vertreter schneller an und durch das Ziel zu bringen. Bleibt die Frage offen: wie, wann und wo finden wir unsere Vertreter?

Beide Varianten sind Kompromisse und entsprechen nicht zu hundert Prozent den Idealen von Basisdemokratie, direkter Demokratie, fluid democracy. Das Paradoxon besteht darin, dass man diese Ideale (die neuen Spielregeln) nicht verwirklichen kann, bevor WIR in die Positionen kommen, wo wir sie implementieren könnten. Außer man betrachtet den Weg (den Fußmarsch der Büßer für die Sünden der Altparteien) bereits als Ziel. Oder: wir wählen als Ausweg die Abschottung vom korrupten, bestehenden System, und bauen – jeder für sich – in unseren Sandkästen unsere eigene Welt (auf Sand, naturgemäß).

Das Paradoxon der Zivilgesellschaft: es ist schwer, in das bestehende System einzudringen um es von innen aufzubrechen, deshalb wählen viele den Rückzug in die Innerlichkeit und warten auf die Erlösung von oben.

Genau das wollen die da oben!

SIEHE AUCH:

+ Manifest für einen neuen Parlamentarismus

+ Roman Schiessler: Wenn der Staat zum Täter wird

+ Frey/Zimmer: Mehr Demokratie wagen

+ zensurio.net: Gelenkte Demokratie

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