2. August 2022 - „Von welchem Krieg reden wir hier eigentlich?“, so die fundamentale Frage der Politikwissenschafterin Ulrike Guerot bei der Talkshow von Markus Lanz am 2. Juni 2022. Und sie führt aus (ab Minute 8:25): „Wir haben den russischen Angriffskrieg (25. Februar), wir hatten und haben immer noch einen ukrainischen Bürgerkrieg, wir haben mindestens mal einen Informationskrieg, wir haben einen Proxi-Krieg (das ist irgendwo eine Amerika-China-Auseinandersetzung) und wir haben – das wird zumindest in der globalen Presse so gesehen – längst einen Stellvertreterkrieg USA-Russland oder Nato-Russland.“
Guerot weiter: „Alle internationalen Experten sind sich einig, die Problem zu lösen liegt an Amerika. Es gibt daher zwei Lösungen: die allgemeine Forderung, die Ukraine muss das militärisch gewinnen, oder wir gehen in Waffenstillstand und Verhandlungen. Der Schlüssel liegt in Amerika, weil es Putin zentral darum geht, Sicherheitsgarantien zu bekommen. Deshalb liegt der Verhandlungsschlüssel bei Biden und deshalb muss das Gespräch zwischen Putin und Biden irgendwann stattfinden.“
Man darf nicht vergessen: wir haben einen massiven Wirtschaftskrieg. So wie die Massenmedien als Proponenten des Informationskriegs – besser gesagt: des Propagandakriegs (vgl: Bertrand Russel, Formen der Macht) – täglich auf uns eintrommeln, so spüren wir den Wirtschaftskrieg bereits an den massiven Preissteigerungen. Die Ursache dafür wird gerne auf die Verknappung der Gasreserven zurück geführt. Allerdings ist das eine rein österreichische Sicht, denn die Alpenrepublik bezieht 80 Prozent ihres Erdgases aus Russland. Auch Deutschland bezieht 90 Prozent seines Gas-Bedarfs aus dem Ausland, allerdings nur 38,2 Prozent aus Russland, 34,8 Prozent aus Norwegen, 22,4 Prozent aus den Niederlanden und 4,6 Prozent aus sonstigen Quellen.
Die grüne Leonore Gewessler, zuständig für das Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie (BMK), hat bei der österreichischen Energieagentur eine Analyse in Auftrag gegeben, die zum Ziel hatte, die willkürliche Behauptung zu belegen, „dass Österreich ab 2027 seine Erdgasversorgung ohne russische Importe decken kann.“ Wie das gehen soll, wird nirgends erklärt. Im Gegenteil, es werden die abgestandenen Milchmädchenrechnungen für 2030 aus der Lade geholt:
„Bis 2030 muss der Gasverbrauch um 29 TWh reduziert werden: In diesen Bereich gehört der konsequente Ausstieg aus Gas im Bereich der Heizungen. Bis 2030 kann die Hälfte der Gasheizungen auf grüne Alternativen umgestellt werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Sanierung von Gebäuden wichtig, um Energie zu sparen. Zusätzlich braucht es den Umstieg auf Erneuerbare Energieträger und Effizienzsteigerung. und Anreize für die Umstellung von Produktionsprozessen in der Industrie. Und mit dem umfassenden Ausbau von Strom aus Sonne, Wind und Wasser bis 2030 kann auch in diesem Sektor der Gasverbrauch deutlich reduziert werden.“
Bis 2030 muss reduziert werden, die Hälfte der Gasheizungen „kann“ (muss aber nicht) auf grüne Alternativen umgestellt werden - und was passiert mit der anderen Hälfte? Die Sanierung der Gebäude ist wichtig – nona – und wie viel haben Gebäudesanierungen in den vergangenen 30 Jahren zur Reduktion des Gasverbrauches beigetragen? Weiters braucht es Effizienzsteigerung und Anreize für die Umstellung – geht‘s auch etwas konkreter? Offenbar nicht!
Man darf nicht übersehen: der Gaskrieg ist nur die sichtbare und für jeden spürbare Seite des Wirtschaftskrieges. Die wenig beachtete Seite ist der Finanzkrieg, der schon seit dem Ende des Kalten Krieges unter der Oberfläche geführt wird. Bis 1989 herrschte das Gleichgewicht des Schreckens – hier der überlegene Westen mit Demokratie und Kapitalismus, dort der unterlegene Osten mit kommunistischer Diktatur und Planwirtschaft. Übrig geblieben ist das Ungleichgewicht des Schreckens – der Kapitalismus, der ohne Widerpart seine wahre Fratze zeigen konnte. War dazumal noch die freie Marktwirtschaft, das freie Spiel der Kräfte, eine echte Alternative zur Planwirtschaft, so zeigt sich das Wesen des Kapitalismus heute in der „Freiheit“, genauer gesagt Willkürherrschaft der Monopolbetriebe (Konzerne bzw Trusts in der Realwirtschaft), sowie der „nicht regulierbaren“ Finanzindustrie (Banken, Versicherungen, Hedgefonds). Das Wesen des Finanzkrieges ist die Produktion von Blasen, die alle zehn Jahre zu platzen drohen: 1989 Zusammenbruch des Sowjetsystems, 2000 New Economy, 2010 Immobilienblase, 2020 exorbitante Neuverschuldung der Staaten zur Finanzierung von Corona-“Hilfspaketen“.
Gemäß der klassische Volkswirtschaftslehre ist es primäre Aufgabe der Zentralbanken, für Geldstabilität zu sorgen. Das Wachstum der Geldmenge durch die staatlich nicht kontrollierten Machenschaften der Irrealwirtschaft, konnte damit jedoch nicht gestoppt werden. Im Gegenteil, die Produktion von Geld durch Geld in Form von Derivaten mit schönen, aber irreführenden Namen wie „Zertifikate“ oder „Securities“, die für die Realwirtschaft absolut keinen Sinn und Zweck haben, nimmt kein Ende! Sie wäre aber leicht zu beenden, wenn die Herrschaften der Politik im Interesse des Volkes und nicht im Interesse der Irrealwirtschaft agieren würden.
Ein Zyniker wird bemerken: Das Stabilitäts-Ziel, das die kapitalistischen Zentralbanken anstreben aber immer nur temporär mit abstrusen Maßnahmen erreicht haben, das hat das kommunistische Geldsystem der Sowjetunion garantiert. Mit dem Ergebnis: 70 Jahre lang Null Inflation. Eine U-Bahn-Fahrt kostete 1953 (im Todesjahr Stalins) ebenso viel wie 1989 (im Todesjahr des Kommunismus) lediglich fünf Kopeken. Einer der bekanntesten Finanz-Spekulanten, George Soros, spricht offen von der „Alchemie der Finanzen“, der Journalist Neil Irwin nennt sein Buch über die Machinationen der Zentralbanken: „Die Alchemisten“. Das Thema Finanzindustrie und ihre spekulative Macht behandelt der Artikel „Gott und Geld“ im Detail.
Zurück zu den Ursachen des Ukraine Russland Krieges. Wer den Beginn dieses Konfliktes mit 24. Februar 2022, dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine, festsetzt, kann nur zu dem Ergebnis kommen „der Russ ist der Aggressor“ – so wird es auch in der EU-Propaganda und den EU-Leitmedien dargestellt. Wer jedoch über einen weiteren historischen Horizont verfügt, der muss daran erinnern, dass „der Westen“ Gorbatschow im Jahr 1989 versprochen hat, dass es keine NATO-Osterweiterung geben werde. Dieses Versprechen wurde dutzendfach gebrochen. Die NATO-Apologeten legitimieren das damit, dass es keine schriftlichen Vereinbarung gegeben habe. Wenn Politik auf Vertrauen basiert, so ist es unerheblich, ob dieses Erklärung in einem Staatsvertrag verankert wurde, oder auf anderer Ebene. Jedenfalls bestätigt der damalige deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Vereinbarung in seinen Memoiren „Der Weg zur Einheit“.“.
Darüber hinaus hat Albrecht Müller auf den Nachdenkseiten eine gemeinsame Erklärung von Helmut Kohl und Michail Gorbatschow vom 13. Juni 1989 veröffentlicht, in der unter Punkt III. steht: „Die Bundesrepublik und die Sowjetunion erklären, daß man eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer gewährleisten darf. Sie verfolgen deshalb das Ziel, durch konstruktive, zukunftsgewandte Politik die Ursachen für Spannung und Mißtrauen zu beseitigen, so daß das heute noch gegebene Gefühl der Bedrohung Schritt um Schritt von einem Zustand gegenseitigen Vertrauens abgelöst werden kann.“
Von dem Vertrauen, das zumindest in Ansätzen bis zu Beginn dieses Jahrhunderts aufgebaut wurde, ist nichts mehr übrig. Das liegt – so wie in jeder Beziehung – nicht an Russland allein, sondern zum guten Teil daran, dass Deutschland mehr und mehr zum Erfüllungsgehilfen der NATO geworden ist.
Siehe auch Interview im SchweizerStandpunkt.ch mit Jacques Baud, ehemaliger Oberst der Schweizer Armee, 2009-11 Leiter der Abteilung „Friedenspolitik und Doktrin“ des Uno-Departements für friedenserhaltende Operationen in New York.
Siehe auch: Russland Ukraine Krieg Konflik
Ergänzung 29.11.22: Einheit in der EU: Deutsch-Europa "sanktioniert" russisches Gas durch die Pipeline, Franken-Europa importiert russisches Flüssiggas auf Tankern. Bericht von n-tv.de
Ergänzung 3.12.22: Ukraine zahlt EU mit Geflügel - Kommentar auf fischunfleisch
Ergänzung 6.12.22: Wie die Ukraine den Krieg in drei Wochen gewinnen kann - Kommentar auf fischundfleisch
Ergänzung 5.5.23: Europas Poker um ukrainisches Getreide (ORF.at Bericht)
Ergänzung 5..5.23: Ukrainische Getreidelieferungen: Abkommen mit Russland nötig, um Nahrungsmittelkrise zu vermeiden (Epoch Times)
Ergänzung 22.5.23: "Ökonomische Zwangsmaßnahmen gegen Russland gibt es seit Jahrzehnten. Doch im Jahr 2014 eröffnete der Westen einen groß angelegten Wirtschaftskrieg, der seit dem Februar 2022 noch massiv verschärft wurde. Die völkerrechtswidrige Embargo- und Sanktionspolitik der vergangenen Jahrzehnte stellt den wirtschaftlichen Flügel der NATO-Strategie und ihrer Osterweiterung dar, erläutert der Historiker Hannes Hofbauer in einem Beitrag für den neuen Sammelband "Kriegsfolgen". Die westliche Sanktionspolitik funktioniert diesmal aufgrund russischer Gegenmaßnahmen jedoch nicht wie geplant, stärkt viel eher die multipolare Weltordnung und gefährdet den Dollar als dominante Weltwährung. Multipolar veröffentlicht Hofbauers Beitrag aus dem Buch in gekürzter Form."
Offener Brief an Bundeskanzler Karl Nehammer
Betrifft: Kiews Drohung, Österreichs Energiesicherheit zu gefährden
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
im Herbst 2023 kündigte der Chef des ukrainischen Energiekonzerns Naftogas Olexij Tschernyschow an, mit Ende Dezember 2024 den Transit russischen Erdgases durch die Ukraine stoppen zu wollen. Österreichs Gasversorgung hängt im Frühjahr 2024 zu über 90% von genau diesem Gas ab, das seit 1968 verlässlich nach Baumgarten fließt. Mir sind bisher keine Bemühungen von österreichischer Seite bekannt, die Ukraine von diesem Vorhaben abzubringen. Es wäre indes höchst an der Zeit.
Mit diesem Schreiben erlaube ich mir, Sie an Möglichkeiten zu erinnern, die Gefährdung der österreichischen Energiesicherheit durch die im Krieg mit Russland befindliche Ukraine abzuwehren. Dazu bitte ich Sie, ich die folgenden fünf Maßnahmen in Erwägung zu ziehen.
1 Einbestellung des ukrainischen Botschafters durch Außenminister Alexander Schallenberg, um dem Botschafter unsere Lage auseinanderzusetzen und die Bedeutung russischen Erdgases für Österreich hervorzuheben. Dabei müsste auch klargestellt werden, dass gute zwischenstaatliche Beziehungen, wie sie zwischen Österreich und der Ukraine bestehen und weiter wünschenswert sind, nicht einseitig zuungunsten eines Partners ausgenützt werden dürfen. Es kann nicht sein, dass Österreich hunderte Millionen Euro an Hilfsgeldern für die Ukraine ausgibt und Zigtausende ukrainische Flüchtlinge beherbergt und unterstützt, und gleichzeitig die Ukraine Österreich von seiner wichtigsten Energiequelle abschneidet.
2 Starten einer diplomatischen Offensive in Richtung Budapest und Bratislava (sowie Rom), um eine gemeinsame Position gegen das Vorhaben Kiews zustande zu bringen. Vor allem Ungarn und die Slowakei sind in ähnlichem Ausmaß wie Österreich von russischem Gas abhängig, das über die Ukraine in unsere Länder geführt wird.
3 Werben um Verständnis für Österreichs Position in Brüssel. In dieser Hinsicht könnte sich nach den Europawahlen Anfang Juni 2024 die eine oder andere Möglichkeit eröffnen, die EU-europäische Ostpolitik nicht einzig und allein auf einer Gegnerschaft zu Russland aufzubauen. Weder die EU noch einzelne Staaten und schon gar nicht Österreich befinden sich im Krieg mit Russland. Auch hier wäre es notwendig, die Verantwortlichen daran zu erinnern, dass zwischenstaatliche Beziehungen von gegenseitigem Respekt und einer Ausgewogenheit der Interessen bestimmt sein sollten. Milliarden-Hilfen in Richtung Kiew können dort nicht mit Eingriffen z.B. in die Energie-Infrastruktur beantwortet werden, die für mehrere EU-Staaten äußert schädlich sind.
4 Kommunizieren des ukrainischen Vorhabens ohne die seit ein paar Jahren üblichen anti-russischen Einlassungen. Es ist nicht Moskau, das die Gasversorgung Österreichs unterbricht, sondern Kiew, das – nebenbei bemerkt – gut an den Transitgebühren verdient.
5 Kommunizieren potenzieller österreichischer Mittel, seine energiepolitischen Interessen gegenüber der Ukraine zu wahren. Dies sollte im Rahmen einer medialen Offensive geschehen. Österreich könnte im Gegenzug zu dem von Kiew beabsichtigten unfreundlichen Akt seine Hilfe für die Ukraine aussetzen, eine verstärkte Prüfung der Hilfen für ukrainische Flüchtlinge ankündigen und seine Stimme (ev. gemeinsam mit Ungarn und der Slowakei) in EU-Gremien einbringen, um weitere Sanktionen gegen Russland, die seit zehn Jahren nicht den gewünschten Erfolg bringen, zu verhindern sowie bestehende Sanktionen schrittweise abzubauen.
Ich hoffe, dass Sie mit meinen Ideen zur Wahrung österreichischer energiepolitischer Interessen etwas anfangen können und verbleibe hochachtungsvoll
Dr. Hannes Hofbauer, Publizist & Verleger