Häring Norbert: Endspiel des Kapitalismus

Beitragsseiten

Wie die Konzerne die Macht übernahmen und wie wir sie zurückholen

Quadrigaverlag Köln, 2022

Ein Buch für alle, die noch nie das Handelsblatt gelesen haben und alle, die das Handelsblatt bislang nur als Zentralorgan der börsennotierten Unternehmen kannten. Norbert Häring, Doktor der Volkswirtschaft, schreibt seit 20 Jahren für das Handelsblatt. Und er schreibt Bücher, in denen er die Auswüchse des Kapitalismus kritisch unter die Lupe nimmt. In seinem neuesten Buch beantwortet er die Frage: "Wie die Konzerne die Macht übernahmen" - so der (halbe) Untertitel seines neuen Buches "Endspiel des Kapitalismus".

Haering Endspiel Kapitalismus

Der Volkswirt beschäftigt sich nicht mit abstrakter Kapitalismus-Theorie, sondern mit dem Phänomen Kapitalismus, wie es sich heute, in den 2020er Jahren in der Praxis manifestiert. Und das unterscheidet sich weitgehend von dem, was Karl Marx vor über 150 Jahren vorgefunden hat. Wer den Kapitalismus dieses Jahrhunderts immer noch mit "freier Marktwirtschaft" gleichsetzt, hat die Entwicklung zum Monopol-Kapitalismus, zum "Neo-Feudalismus" der Superreichen verschlafen oder ist von der kapitalistischen Propaganda geblendet.

Im 1. Teil "Alle Gewalt geht von den Konzernen aus" beschreibt Häring ausführlich die Netzwerke des WEF-Gründers Klaus Schwab, die er seit fünf Jahrzehnten geknüpft hat. Das jährliche "Weltwirtschaftsforum" in Davos, bei denen sich hunderte Konzernlenker mit Spitzenpolitikern treffen, sowie die Kaderschmiede "Young Global Leaders" sind längst allgemein bekannt. Darüber hinaus ist der WEF mit internationalen Organisationen eng vernetzt, schon 1975 schloss Schwab ein Abkommen mit der UNIDO, "Dieses Abkommen war die Keimzelle für die Einbeziehung von Regierungen in die Davoser Agenda." Die OECD ist seit 1977 zahlendes Mitglied, seit 2015 ist das WEF in der Schweiz als "internationale Organisation" anerkannt - das inkludiert Steuerfreiheit und das Recht, die schweizerischen Auslandsvertretungen für seine Zwecke zu nutzen.

Der Harvard-Absolvent Klaus Schwab konnte das WEF 1971 mit Unterstützung seiner ehemaligen Professoren starten. "Der langjährige Dekan der Harvard Business School leitete das erste Symposium. John K. Galbraith, damals einer der einflussreichsten Ökonomen der Welt, hielt eine Rede." Heute ist das WEF der führende europäische Thinktank des amerikanischen Kapitals und der amerikanischen IT-Konzerne mit einem jährlichen Budget von über 350 Millionen Franken. Die exklusive Liste der eintausend elitären (zahlenden) Partner, von Apple über Meta, Microsoft, Moderna bis Zurich Insurance Group, kann auf der Webseite des WEF abgerufen werden.

Wichtiger als die öffentlichen Plenarsitzungen in Davos, die massenmedial ausgeschlachtet werden, sind die informellen Treffen, in denen die Bosse den Politikern ohne Umwege ihre Interessen vermitteln können. So brüstet sich das WEF: "Viele Initiativen, die später offiziell von internationalen Organisationen oder Regierungen unternommen wurden, wurden tatsächlich in Davos 'geboren'." Der Code dafür lautet IGWEL: Informal Gathering of World Economic Leaders.

"Am 11. Juli 2019 unterzeichneten Weltwirtschaftsforum und UN fast heimlich eine gemeinsame Absichtserklärung zur Intensivierung ihrer Zusammenarbeit, die den Namen 'The United Nations World Economic Forum Strategic Partnership Framework for the 2030 Agenda' trägt. ... ein weiterer Schritt der Selbstentmachtung und ein weiterer Meilenstein für den Club der Multis auf dem Weg zu seinem Ziel, die globale Governance zu dominieren." 

Die Grundlagen dafür wurden schon 2009 mit der Global Redesign Initiative (GRI) gelegt und in dem Bericht "Everybody's Business" offengelegt. Mehr oder weniger, denn abrufbar ist der Bericht nicht auf den WEF-Seiten, sondern auf der Webseite Harvard University. Darin heißt es ganz unverblümt: "Im Fall der multinationalen Konzerne hat ihre effektive Reichweite als De-facto-Institutionen der globalen Governance schon lange die Tätigkeit des UN-Systems überflügelt. ... Multinationale Konzerne und zivilgesellschaftliche Organisationen müssen als vollwertige Akteure im globalen Governance-System anerkannt werden, nicht nur als Lobbyisten." Häring kommentiert: "Spätestens mit der Anerkennung des Weltwirtschaftsforums als internationale Organisation im Jahr 2015 ist das geschehen."

Governance ist das Keyword der Mächtigen in den multinationalen Konzernen, mit dem sie die Regierungen entmachten. Eine technoide Definition, die gut in das Weltbild von Schwab und Co passt, liefert cio.de: "Eine Governance (deutsch: Steuerung) bietet den rechtlichen und faktischen Ordnungsrahmen, um eine Organisation zu leiten und zu überwachen." Häring fasst diese Entwicklung in einer Überschrift zusammen: "Governance statt Regierung - Plutokratie statt Demokratie" und erklärt: "Das öffentliche Leben wird nach dem Governance-Konzept auf Problemlösen und die Implementierung von Programmen reduziert, erklärt Wendy Brown [Anm: Autorin des Buches "Die schleichende Revolution: Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört"]. Wenn Problemlösen und scheinbarer Konsens die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Perspektiven ersetzt, wird Politik beseitigt, gibt es kein Austarieren unterschiedlicher politischer Positionen und Wünsche mehr." [Anm HTH: Genau das konnten wir bei der weltweiten Implementierung der Corona-Agenda live mitverfolgen.]

Im 2. Teil erklärt Häring "das Wesen des heutigen Kapitalismus". Dabei verzichtet er auf abstrakte Definitionen des Begriffs "Kapitalismus", sondern verweist lediglich auf die Tatsache, dass "Industriekapitalismus, angelsächsischer Kapitalismus, Raubtierkapitalismus, Monopol- und Staatsmonopolkapitalismus, neoliberaler Kapitalismus, Frühkapitalismus und Spätkapitalismus" unterschiedliche und wandlungsfähige Wirtschafts- und Gesellschaftsformen sind. [Anm. HTH: bei Diskussionen fällt auf, das für viele Menschen, die den Kalten Krieg erlebt haben, immer noch folgende Gleichungen gelten: Kapitalismus = Demokratie = offene Gesellschaft = Freiheit; versus: Kommunismus = Diktatur = geschlossene Gesellschaft = Unfreiheit. Dabei übersehen sie, dass in den Ländern der Diktatur des Proletariats ohne Übergang die Diktatur der Monopole (der Oligarchen) errichtet wurde. Dieser "Raubtierkapitalismus" wurde von neoliberalen Thinktanks des Westens massiv unterstützt, wie Philipp Ther in "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent" dokumentiert hat.]

"Die heute vorherrschende ökonomische Denkrichtung der Neoklassik behandelt Kapital als Produktionsfaktor, der als solcher nicht nur eine Rentabilität hat, sondern auch eine Produktivität." Häring hält entgegen, dass Kapital lediglich der Wert aller Rechte sei, die sich in eine Bilanz schreiben lassen, und nichts zur Produktivität beiträgt. Vorherrschend freilich ist der Kapitalismus eines Peter Thiel [Anm HTH: Der Silicon-Valley-Investor hat Bubi-Kanzler Sebastian Kurz, nachdem ihn die ÖVP fallengelassen hat, umgehend an Bord geholt. Als "Global Strategist", was immer das sein mag, kassiert Shorty nun eine halbe Mille pro Jahr Einstiegsgehalt. Ein Beispiel für die gut geschmierten Drehtüren zwischen Politik und multinationalen Konzernen. Quelle zackzack.at]

Thiel sagte 2014 vor Studenten: "Wenn Sie ein Unternehmer sind, der ein Unternehmen gründet, sollten Sie immer darauf abzielen, ein Monopol zu erreichen und Wettbewerb zu vermeiden. Deshalb ist Wettbewerb etwas für Verlierer." 

Diese Geisteshaltung konnte die Vorherrschaft übernehmen, nachdem die sanften Revolutionen in Osteuropa das "Gleichgewicht des Schreckens" 1989/90 beendet haben. Übrig blieb das Ungleichgewicht des Schreckens, womit sich die Akkumulation des Kapitals durch Kapital "frei" d.h. ohne Gegenspieler, im alleinigen Interesse der Monopolisten entfalten konnte. Den finalen Sieg feierte diese Ideologie in der Finanzkrise 2008, bei der Spitzenpolitiker aller Coleurs aller Länder nicht müde wurden das Mantra zu wiederholen: "die Finanzmärkte sind nicht regulierbar!"

"Das Kapital hat es geschafft, uns völlig den Kopf zu verdrehen. Gesellschaftsschädigendes Verhalten zugunsten der Kapitalbesitzer gilt inzwischen als Norm. Wer davon abweicht, wird bezichtigt, sich an hilflosen Anlegern zu versündigen", schreibt Häring und beschäftigt sich weiters mit "Geldschöpfung und Zins als wichtige Säule der Kapitalmacht". Schon 2011 haben Hörmann/Pregetter das Fiatgeld (Geldschöpfung aus dem Nichts) in ihrem Buch "Das Ende des Geldes" (hier als PDF abrufbar) als Wesen des Schuldgeldsystems offengelegt. Häring zitiert ein Dokument der Bank of England, das drei Jahre später diesen Sachverhalt bestätigt und kommentiert: "Bis 2014 und zum Teil noch danach wurden diejenigen, die solches behaupteten, zu Verschwörungstheoretikern erklärt. Schließlich stand in fast allen Lehrbüchern, dass die Banken lediglich das Geld der Sparer an die Kreditnehmer weiterverteilen." 

Kreditvergabe an Häuslbauer oder privat geführte Unternehmen ist nur noch ein Nebengeschäft für die Banken, deren Hauptgeschäft die kreditfinanzierte Veranlagung von Geld in Aktien, Anleihen und Derivate geworden ist. Im Sekundentakt werden Milliardenbeträge zwischen Banken, Zentralbanken und der Fondsindustrie im Kreis geschickt. Dies ist ein weitgehend geschlossener Kreislauf, aus dem wenig in die Realwirtschaft in Form von Krediten abfließt (wenn dann wieder nur an die Big Player).

Die Zentralbanken haben das Recht, Geld zu drucken, die Geschäftsbanken das Recht, durch Kredite Geld aus dem Nichts zu schöpfen. Die Regierungen sind nur noch Spielball dieser Mächte, dazu da, um die Eigentumsrechte der Geldbesitzer zu schützen. "Geld bedeutet Recht auf Nutzung von Ressourcen", so Häring. Der Staat sichert mit seinen Institutionen diese Rechte der Besitzenden und macht die Reichen reicher und die Arment ärmer. Das ist keine Losung von Kommunisten (die immer noch versuchen, die Gegenwart durch die Brille von Karl Marx zu verstehen), sondern spätestens seit 2008 tausendfach dokumentierte Realität im Finanzsektor.

Nach vorherrschender Sichtweise sind Kapital und Staat zwei unterschiedliche oder gar gegensätzliche Sphären. Doch Häring hält dagegen: "Kapitalismus ist ein Gesellschafts-, kein Wirtschaftssystem. Die staatliche Gewalt und staatliches Handeln sind integraler Teil des Kapitalismus. Denn das Kapital ist der Gegenwartswert künftiger Erträge aus staatlich gewährten und durchgesetzten Vorrechten. Ohne staatlich definiertes, gewährtes und garantiertes Eigentumsrecht gäbe es keinen Kapitalismus." [Anm. HTH: Symptomatisch für die Abhängigkeit der Staaten von den Privatbanken war der Kniefall des österreichischen Finanzministers Blümel, der bei Bekanntgabe des 39 Milliarden Euro Corona-Hilfs-Paketes sofort erklärte, dieses Geld komme nicht von der EZB, sondern direkt von den Banken.]

Im 3. Teil, "Endspiel des Kapitalismus", dokumentiert Häring die Entwicklung vom Kapitalismus zum Neo-Feudalismus. In den sowjetischen Nachfolgestaaten hat diese Entwicklung in nur wenigen Jahren stattgefunden, in den Ländern, die seit 1945 an Demokratie = Kapitalismus glaubten, hat die finale Etablierung des Neo-Feudalismus ab 1990 rund zwei Jahrzehnte gedauert.

Häring zeigt, wie die Reichen durch Null-Zins-Politik noch reicher werden. Sie können in beliebiger Höhe praktisch kostenlose Kredite aufnehmen und diese in Aktien und Derivate mit hohen Renditen veranlagen. Die "Normalbürger" allerdings können nicht einfach auf Kredit spekulieren. Wer heute einen Wohnkredit erhält, kann das Geld nicht für andere Investitionen verwenden, sondern muss der Bank alle zweckgebundenen Ausgaben nachweisen!

Die Diagnose von Häring: "Die soziale Mega-Maschine des Kapitalismus ist in schlechtem Zustand. Der Zusammenbruch ist absehbar, wenn nichts Radikales geschieht. Die Aufgabe, die sich die globale Machtelite mit Schwerpunkt im Silicon Valley gestellt hat, besteht im allmählichen Übergang von der Mega-Maschine Kapitalismus zu einer 'Schönen neuen Welt', in der ihre Macht und Privilegien bewahrt und festgeschrieben sind."

Soweit die ersten drei Teile des Buches, mit denen Norbert Häring die Frage "Wie die Konzerne die Macht übernahmen... " für jeden verständlich beantwortet. Diese Teile sollten zur Pflichtlektüre jedes gebildeten Menschen gehören. Stückwerk bleibt jedoch der dritte Teil mit der Beantwortung der Frage "... und wie wir sie zurückholen".

Schon im Vorwort zur Taschenbuchausgabe schreibt Häring: "ohne dass eine Mehrheit vom Glauben an das System und die Alternativlosigkeit des Kapitalismus abfällt, wird es keinen grundlegenden Wandel geben." Diese locker formulierte Behauptung impliziert ein komplexes philosophisches und gesellschaftspolitisches Problem, das die Beantwortung folgender Fragen voraussetzt:

- Wie gewinnt (überzeugt) man die Mehrheit, ohne sie mit den Mitteln der Mächtigen zu manipulieren?

- Was ist ein Glaube? (Bedeutungsspektrum: Vertrauen, Hoffnung, Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis vs Wissen als Herrschaftswissen und Wissenschaft als Instrument der Mächtigen).

- Wie bilden und verändern sich Glaubenswahrheiten?

- Unter welchen Bedingungen fallen (oder wenden sich) Menschen von ihrem Glauben ab?

- Wie lassen sich diese Bedingungen herstellen?

- Was ist ein grundlegender Wandel?

- Wie nimmt man den Menschen die Angst vor einen grundlegenden Wandel und vor notwendigen politischen Veränderungen?

- Wo, wann und wie muss der grundlegende Wandel beginnen?

- Wie neutralisiert man das derzeitige politische Personal, das nur noch als Marionette der Mächtigen auftritt?

- Was ist das Fundament des grundlegenden Wandels, auf dem das künftige System, eine echte soziale Marktwirtschaft, errichtet werden kann?

Modelle der echten sozialen Marktwirtschaft haben Vertreter der Gemeinwohlwirtschaft schon entwickelt. Häring führt als Alternativen zu den gängigen, auf Profitmaximierung ausgerichteten Kapitalgesellschaften die Personengesellschaft, die Mitarbeitergesellschaft und die Genossenschaft mit gebundenem Kapital an. Er glaubt an ein "Geldsystem und Zentralbank im Dienst der Bevölkerung", liefert Ideen wie die Bereiche Wohnen, Infrastruktur, Daseinsvorsorge künftig auf Basis einer wirksamen Wettbewerbspolitik gelöst werden können. Doch das sind nicht mehr als 20 bis 30 Puzzlestücke in einem Puzzle aus 999 Teilen mit ebenso vielen möglichen Antworten.

So erscheint die Implementierung der sozialen Marktwirtschaft, wie sie Häring fordert, oder eines anderen alternativen Systems gegen die drei großen M (Macht, Medien und Moneten) als Mission Impossible. Anders als in Hollywood gibt es im wirklichen Leben keinen Superhero, der die Probleme für uns löst. Wer wirklich will, dass wir einen grundlegenden Wandel herbeiführen, muss den Lesern auch verraten, wo wir den Hebel ansetzen sollen um das bestehende System zu knacken. Ansonsten bleibt es bei kosmetischen Reformen und marginalen Zugeständnissen der Mächtigen. 

SIEHE auch: Gott und Geld

SIEHE auch: Norbert Häring über die Rezension seines Buches