Schulak/Unterköfler: Die Wiener Schule der Nationalökonomie - Kritische Betrachtung

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Kritische Betrachtung, HTH am 2. August 2023

Mit einem Literaturverzeichnis von über 40 Seiten bieten Schulak//Unterköfler eine solide Grundlage für das weitere Studium der Wiener Schule. Doch auch ohne dieses umfangreiche Studium muss eine kritische Betrachtung erlaubt sein, denn man darf davon ausgehen, dass die Autoren die Inhalte der Wiener Schule authentisch wiedergegeben haben.

Die theoretische, individualistische Wiener Schule steht im Spannungsfeld von Historischer Schule und theoretischer, kollektivistischer Schule. Die Historische Schule geht von einem übergeordneten sittlichen oder religiösen Ordnungsrahmen aus und betrachtet Ökonomie in diesem Rahmen. Ihre Vertreter leugnen laut Menger die 'exacten Gesetze der Volkswirtschaft' . Die Kollektivisten (insbesondere Marxisten) gehen vom falschen Grundsatz der Planbarkeit der Wirtschaft aus. 70 Jahre Sowjetkommunismus haben den Beweis erbracht, dass Planwirtschaft zum Scheitern verurteilt ist. Das allein ist jedoch noch kein zureichender Grund für die Annahme, dass der methodologische Individualismus richtig sei.

Die Wiener Schule kennt 1. einen Akteur - das Individuum als Unternehmer, 2. einen freien Markt, und 3. einen fairen Wettbewerb. Diese drei Faktoren sind idealistische Annahmen, die weder einzeln noch in Kombination in der Realität vorkommen. Wenn Kollektivismus irregeleiteter Rationalismus ist, dann ist der Individualismus irregeleiteter Realismus.

ad 1: "Man wird Unternehmer, indem man sich - im vollen Sinne des Wortes - vordrängt und damit der Prüfung stellt, der der Markt ohne Ansehung der Person jeden unterwirft, der Unternehmer werden oder bleiben will", so Ludwig von Mises, der auch meint, Unternehmer seien Wirte, die "weiterblickend und wagemutiger als die anderen [...], besonders darauf bedacht sind, Unternehmergewinne zu erzielen", ihr Handeln sei "in diesem Sinne Spekulation" (175). Das mag stimmen und trifft bis heute auf viele Start-up zu, die mit einer guten Idee etablierte Großunternehmen überholen - bis sie von deren Marktmacht überrollt oder inhaliert werden. 

ad 2: Die "Prüfungen des Marktes" vollzieht nicht die unsichtbare Hand von Adam Smith, auch keine selbstregulierenden Marktgesetze sorgen für Erfolg oder Misserfolg der Unternehmer (oder einzelner Projekte von Unternehmen), sondern die Marktmacht der einzelnen Player. Für ein Start-up ist es nicht die geniale Idee, die zum Erfolg führt, sondern der Wille (oft die Willkür) von Kapitalgebern, die sich auf ein Abenteuer einlassen (Venture Capital). Marktmacht manifestiert sich heute primär im Zugang zum Kapital, der nicht für alle gleichermaßen offen steht; ein entscheidender Markt- und Machtfaktor ist aber auch das Netzwerk der Unternehmer und ihrer Lobbyisten.

ad 3: Selbst der kleine Friseurladen mit einem simplen Geschäftsmodell, doch erfolgreich aufgrund seiner Lage (z.B. im hoch frequentierten Shoppingcenter), wird nach den Usancen des heutigen Wettbewerbs meist von einer finanzkräftigen Kette verdrängt oder aufgekauft. Über die Wettbewerbsfähigkeit entscheidet nicht die Qualifikation des Unternehmers, oder seine Erfinderkraft, sondern seine Kapitalkraft und Kreditwürdigkeit. Faktoren, die Wettbewerb einschränken oder verfälschen, bzw. Methoden, solche Entwicklungen zu verhindern oder zu korrigieren, werden von der Wiener Schule nicht untersucht.

Der Markt ist nicht wirklich frei, der Wettbewerb ist nur selten fair. Die Apologeten der Wiener Schule führen das auf die (illegitimen) Eingriffe des Staates zurück, doch auch in Zeiten, als der Markt angeblich "ohne planerisches Tun oder ohne zentrale Absicht oder Gewalt" entstand, gab es keine Freiheit und Fairness, sondern "Täuschen und Tauschen". Damit wird übrigens der älteste Marktplatz, nämlich der Basar, bis heute identifiziert. Was wir heute unter dem Begriff "Welthandel" zusammenfassen, begann als Kolonialismus, die Handelsgesellschaften von Afrika bis Asien waren gleichzeitig Militärstützpunkte.

Die Händler sind - noch vor den Fabrikanten zur Zeit der industriellen Revolution - "Erfinder" von Märkten. Sie haben Märkte immer geschaffen, nicht bloß vorgefunden. Sie haben als "Großhändler" Kapital und Militär zur Durchsetzung ihrer Interessen genutzt. Ein "Markt ohne planerische Absicht" hat nie existiert. Mehr noch, "der" Markt existiert nicht, sondern eine Vielzahl von Märkten. Heute ist mehr denn je offensichtlich, dass der Finanzmarkt eine Parallelwelt, eine Irrealwirtschaft darstellt, die mit der Realwirtschaft nichts mehr zu tun hat. Sogar für eine vergleichsweise kleine Branche wie den Kunstmarkt gilt: "Es gibt keinen Kunstmarkt, sondern viele Kunstmärkte. Und ihre Durchlässigkeit ist sehr gering." (Die Kunstmarkt-Formel)

Die Behauptung, es gäbe spontane soziale Gebilde, die "'wie die selbständigen Handlungen einzelner eine Ordnung hervorbringen, die nicht in ihrer Absicht gelegen ist", führt Hayek mit seinem Beispiel selbst ad absurdum: "Die Art zum Beispiel, in der in einer wilden Gegend Pfade entstehen, ist ein Fall dieser Art." Pfade in wilder Gegend sind ebenso wenig ohne jegliche Absicht entstanden, wie Gassen, Straßen, Gehsteige, Parkplätze, Eisenbahnlinien und Flugrouten.

Carl Menger, der "Vater" der Wiener Schule, widmete sich "eingehend dem Entstehen von 'Socialgebilden', worunter er Recht, Sprache, Staat, Geld, Märkte, Güterpreise, Zinsraten, Bodenrenten, Arbeitslöhne und 'tausend andere Erscheinungen des socialen Lebens' verstand. Diese seien 'zum nicht geringen Theile das unreflectierte Ergebnis sozialer Entwicklungen'. So führe 'das ökonomische Interesse der einzelnen wirthschaftenden Individuen [...] ohne alle Übereinkunft, ohne legislativen Zwang, ja selbst ohne Berücksichtigung des öffentlichen Interesses' etwa dazu, 'Güter' zu verwenden, 'welche unsere Vorfahren Geld nannten". (42f)

Menger relativiert, dass "Socialgebilde... zum nicht geringen Theile ... das unreflectierte Ergebnis sozialer Entwicklungen" seien. Doch in den aufgezählten Beispielen ist es allein das "Socialgebilde Sprache", das dieser Theorie entspricht, alle anderen sind nicht zufällig, sondern sehr wohl mit Absicht, Planung und Willen einzelner Herrscher oder mehrerer einflussreicher Personen entstanden, insbesondere die Staaten, genauso aber auch Geld, Zinsraten, Güterpreise und Märkte!

Seit es Händler gibt, konnten sie davon ausgehen, dass die Nachfrage größer ist, als das Angebot. Erst seit etwa 100 Jahren (in den USA durchgehend, in Europa seit etwa den 1960er Jahren) übersteigt das Angebot die Nachfrage und kann nur durch exorbitanten Werbeaufwand an die Kunden gebracht werden. Geradezu naiv erscheinen angesichts dieser Tatsachen die Betrachtungen von Mises, der meint, "Kapitalisten, Unternehmer und Landwirte [...] sitzen am Ruder und steuern das Schiff. Die Richtung jedoch bestimmen sie nicht. Sie nehmen nicht die übergeordnete Stellung ein, sie sind nur Steuermänner, die den Befehlen des Kapitäns gehorchen müssen. Der Kapitän ist der Verbraucher. Weder der Kapitalist noch der Unternehmer oder der Landwirt legen fest, was produziert werden muß. Das macht der Verbraucher." (176)

Das könnte aus dem Programm einer kommunistischen NGO stammen, deren Mitglieder daran glauben, dass sie mit Konsumverweigerung die Großkonzerne in irgend einer Weise beeinflussen könnten. Jedes Unternehmen muss heute einen großen Teil seiner Ausgaben in Marketing investieren. Marketing ist der euphemistische Begriff für die unabdingbare Manipulation der Menschen, die im Wirtschaftssystem anno 2020 nur noch als Konsumtrottel eine Existenzberechtigung haben (Details siehe Günther Anders). Ein Widerspruch am Rande: während das Individuum als Arbeitnehmer oder Pensionist für die Wiener Schule keine Rolle spielt, wird das Individuum als Verbraucher (heute: Konsument) hier von Mises geradzu zum Überindividuum, zum Übermenschen stilisiert.

Ein theoretisches System, das allein auf Gesetzen basieret, die das Tun und Lassen des Individuums Unternehmer betreffen, kann nicht den Anspruch einer Nationalökonomie erfüllen, die die ökonomischen Realität in ihrer Vielfalt umfassend erklären kann. Das Individuum als Unternehmer ist in der Gesellschaft eine Ausnahme. Unternehmer - darin stimmt die Theorie mit er Realität überein - sind seltene Wesen (in Österreich etwa 550.000 von neun Millionen Menschen).

Von 550.000 Unternehmen in Österreich sind rund 315.000 EPUs (Ein-Personen-Unternehmen), rund 200.000 haben nur 2-3 Mitarbeiterinnen. Von 9 Millionen Österreichern sind 4,3 Millionen erwerbstätig, davon 2,5 Millionen in "klassischen" Unternehmen, also Betrieben, die Mitglied er Wirtschaftskammer sind. Somit bleiben rund 1,8 Millionen Erwerbstätige in staatsnahen Institutionen, das sind die Verwaltungen (Gemeinden, Länder, Bund), die Schulen und Universitäten, der medizinische Sektor, öffentlicher Verkehr, staatlich finanzierte Kultureinrichtungen, der Staatsfunk ORF, Rechtsanwälte, die vorgelagerte Organisationen des Justizministeriums sind, und Steuerberater, die vorgelagerte Organisationen des Finanzministeriums sind. Nicht zuletzt die "öffentlich zugelassenen Rauchfangkehrer", die bis heute mit staatlichem Gebietsschutz ausgestattet sind. Auch die rund 150.000 Betriebe der Land- und Forstwirtschaft können ihre Existenz nur über staatliche Subventionen sichern. Der größte "Wirtschaftsfaktor" allerdings sind die rund zwei Millionen Pensionsbezieher. 

Allein die Aufstellung dieser Gruppen von Individuen (Neudeutsch: Stakeholder), die grundsätzlich in jeder Ökonomie dieser Welt eine Rolle spielen, zeigt, wie weltfremd eine Nationalökonomie ist, die aus ihren Theorien jegliche staatliche Einmischung und Planung dogmatisch ausschließen will, weil diese angeblich immer (sozusagen gesetzmäßig) zu Unfreiheit führt. Hayek selbst verstrickt sich in Widersprüche, wenn er behauptet, dass Wettbewerb eine Methode sei, "einen bestimmten Geistestyp zu erzeugen. [... stets ein Prozess] in dem eine kleine Gruppe eine größere dazu zwingt, etwas zu tun, was ihr nicht gefällt". (177) Hayek selbst widerlegt damit das Axiom der freien Marktwirtschaft, nämlich dass freie Märkte tatsächlich freies Handeln ermöglichen und sogar Grundlage der Freiheit schlechthin seien. 

Schulak/Unterköfler kritisieren einleitend zu Recht die Verfilzung von Staat und Finanzsektor. Sie sehen jedoch nicht, dass der Finanzsektor in den Machenschaften der vergangenen 30 Jahre nicht nur das Ruder, sondern auch das Steuer übernommen hat, und dass sich der Finanzsektor dabei auf Grundsätze der Wiener Schule beruft, die als Neoliberalismus seit 1990 auch Europa und den Rest der Welt erobert hat. (Margret Thatcher, 1979 bis 1990 Premierministerin Großbritanniens, war die Vorbotin dieser Welle.)

Die Unterordnung der Politik (der Staatsinteressen, die zumindest idealtypisch die Interessen der Gesellschaft sein sollten) unter die Interessen des Finanzsektors, erhält von Hayek ihre wirtschaftswissenschaftliche Fundierung: "Staatliche Maßnahmen, die angeblich dem 'Gemeinwohl' dienen, wie etwa eine progressive Besteuerung, bei der eine Mehrheit eine Minderheit gegen deren Willen belastet, seien so nichts anderes als willkürliche Diskriminierungen, die die persönliche Freiheit zerstören." In Zeiten, in denen die Banken Geld aus dem Nichts schaffen, die Fondsgesellschaften die Lizenz zur unkontrollierten Produktion von Derivaten haben, und den Politiker dazu nur die neoliberalistische Parole einfällt "die Finanzmärkte sind nicht regulierbar" - in solchen Zeiten kann man die folgende Aussage nicht widerspruchslos hinnehmen: "Nur im Rahmen eines auf Gesetz und Tradition gebauten Regelsystems, das dem Zugriff der Herrschenden weitgehend entzogen ist, könne sich der Mensch auch optimal entwickeln." (169)

Man darf sich nicht erwarten, dass heute Vertreter der Wiener Schule die Frage stellen, warum wir überhaupt einen Finanzmarkt brauchen. Welches volkswirtschaftliche Gesetz verbietet, dass der Finanzsektor nach den alten Regeln der Cameralistik prinzipiell nicht-gewinnorientiert sein soll? So eine fundamentale Frage wird heute kein Nationalökonom, egal welcher Schule, stellen, da die Freiheit der Wissenschaft, die in Österreich das Grundgesetz aus dem Jahr 1867 sichert, an den Universitäten offenbar nicht mehr gelehrt und umso weniger praktiziert wird.

Die Schlüsselfigur des freien Marktes, das Individuum, wird von den Vertretern der Wiener Schule genau genommen stiefmütterlich behandelt. Wenn das Individuum die Grundlage der Nationalökonomie ist, dann kann nicht das Individuum als Unternehmer (in Österreich gerade mal fünf Prozent der Bevölkerung) allein Gegenstand der Marktgesetze sein. Es mag sein, dass der Unternehmer der alleinige Gegenstand einer Interessenvertretung ist, nicht aber einer Ökonomie, die als Wissenschaft allgemeingültige Gesetze aufstellen will. Entweder ist so eine Ökonomie imstande, alle Individuen und ihre vielfältigen Interessen in die Betrachtung einzubeziehen. Oder sie betrachtet alle Individuen als Unternehmer. Das wäre - frei nach Nietzsche - eine Umwertung der Werte und nach meiner Meinung einen Versuch wert!

Fakt ist: den Kapitalismus der 2020er Jahre als "freien Markt" zu bezeichnen, ist eine gezielte Irreführung der Mehrheit der Menschen, die sich nicht täglich mit Wirtschaft beschäftigen. Spätestens seit Beginn dieses Jahrhunderts gibt es keine freien Märkte mehr, sondern nur noch die "Freiheit" der Eliten, genauer gesagt Willkürherrschaft einer Minderheit von Unternehmen mit Marktmacht. Die Machtkonzentration bei den Monopolen und im Finanzsektor ist philosophisch Betrachtet keine Freiheit, sondern Missbrauch von Freiheit. Im Unterschied zu den Bewohnern der kommunistischen Staaten haben das die meisten Bewohner der kapitalistischen Staaten noch gar nicht bemerkt. Im Unterschied zur Ära des Kommunismus, haben die meisten Menschen noch nicht bemerkt, dass der Neoliberalismus eine ebenso freiheitsberaubende Ideologie ist.

Das liegt nicht daran, dass die Vertreter des Neoliberalismus ihre "Propheten" Menger, Mises, Hayek und Co falsch verstanden haben. Das liegt daran, dass Menger, Mises, Hayek und Co eine Ideologie geschaffen haben. Eine Ideologie ist grundsätzlich, solange sie im Wettbewerb mit anderen Ideologien steht, in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft kein Problem. Wettbewerb in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft ist jedoch nicht mehr erwünscht, weitgehend sogar schon verboten. Die Ideologie des Individualismus, der das Kollektiv ausklammert, die Ideologie der Freiheit, die den Anspruch von Gerechtigkeit (konkret Wohlfahrtsstaat) lächerlich macht, hat nun die Welt umspannt, und zwar total. Damit ist die Grundlage eines neuen Totalitarismus gelegt. Die heutigen Machthaber (nicht deren Hampelmänner auf der politischen Bühne) haben Menger, Mises, Hayek und Co richtig verstanden, so wie die Machthaber der Sowjetunion Marx, Engels und Lenin richtig verstanden haben.

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