Musil Robert: Der Mann ohne Eigenschaften

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Warum ist "Der Mann ohne Eigenschaften" (MoE) ein Roman und doch kein Roman? Ein Roman im konventionellen Sinn erzählt Geschichten. Die Geschichte hat immer einen bestimmten nachvollziehbaren und nacherzählbaren Ablauf, egal ob es sich dabei um Erlebnisse und Tätigkeiten handelt, oder um Naturschilderungen. So gesehen könnte man die Geschichte des MoE in Kürze zusammenfassen:

Der erste Teil des Romans, "eine Art Einleitung", dient der Beschreibung von Zeit ("Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913", MoE 9) und Ort der Handlung (d.i. "Kakanien", MoE 31), woraus aber "bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht" (MoE 9). Außerdem wird schon hier Ulrich, die Hauptfigur des Romans, charakterisiert als MoE. Ulrich beschließt, "sich ein Jahr Urlaub von seinem Leben zu nehmen, um eine angemessene Anwendung seiner Fähigkeiten zu suchen" (MoE 47). Die briefliche Ermahnung seines Vaters, der sich um Ulrichs Zukunft Sorgen macht, leitet über zum zweiten Teil, in welchem "seinesgleichen geschieht" (MoE 81).

Die Handlung des zweiten Teils kreist um den "Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in bezug auf das Siebzigjährige Regierungs-Jubiläum seiner Majestät" (MoE 296), in der Folge kurz Parallelaktion genannt, weil dieses Jubiläum des "Friedenskaisers" im gleichen Jahr stattfmden soll, wie das bloß Dreißigjährige Jubiläum Kaiser Wilhelm II. Ulrich wird durch die Protektion seines Vaters (um es vornehm zu sagen) von Graf Leinsdorf zum Ehrensekretär dieser Aktion ernannt.

Der Salon von Ermelinda Tuzzi, Ulrich nennt sie (in Anspielung an Platon) Diotima, wird zum Zentrum der Parallelaktion und zum Treffpunkt von Personen mit Rang und Namen. Darunter Graf Leinsdorf, der nichts als den Patriotismus unter Führung der Aristokratie fördern will; darunter Amheim, Großschriftsteller und Großindustrieller, der uneigennützig durch den Erwerb der galizischen Ölfelder und mithilfe seiner Waffenindustrie den Frieden sicherstellen will; darunter General Stumm von der Bordwehr, der militärische Ordnung in den Zivilverstand bringen will; darunter, oder als skeptischer Beobachter schon eher daneben, Diotimas Ehemann, Sektionschef Tuzzi, der um das europäische Gleichgewicht besorgt ist.

Parallel zur Parallelaktion geschieht seinesgleichen bei anderen bedeutungsvollen Ereignissen:

1. Die seelenvolle Beziehung zwischen Arnheim und Diotima, die niemals nicht zum Ehebruch führt.

2. In einem anderen sozialen Milieu das Verhältnis zwischen RaheI, der Gehilfm Diotimas, und Soliman, dem Diener Arnheims, das in der Schwangerschaft Rahels endet (oder auch nicht).

3. Die Beziehung Ulrichs zu seiner Geliebten Bonadea, oder vielmehr umgekehrt.

4. Das Verhältnis Gerdas zum deutschnationalen Studenten Hans Sepp; eine Beziehung, die Gerdas jüdischer Vater, der Bankdirektor Leo Fischel, ablehnt, weshalb er Ulrich bittet, einzugreifen. Das versucht Ulrich mit gefühlvollen Worten und mit gefühllosen Taten, aber ohne viel Erfolg.

5. Die Ehe von Walter, einem gescheiterten Künstler, und Clarisse, die sich Walter verweigert, den Frauenmörder Moosbrugger befreien, und von Ulrich den Erlöser der Welt empfangen will.

Als Clarisse eben das versucht in die Tat umzusetzen, erhält Ulrich ein Telegramm,...

(Auszug aus: "Musil als Philosoph", Diplomarbeit 1987)

So wie viele Standardwerke der Weltliteratur ist auch Der Mann ohne Eigenschaften dank Projekt Gutenberg im Internet in voller Länge abrufbar: Musil, Robert projekt-gutenberg.org

Das folgende Zitat aus dem MoE zeigt, wie zeitlos der Roman ist: „Wenn die Dummheit nicht von innen dem Talent zum Verwechseln ähnlich sehen würde, wenn sie außen nicht als Fortschritt, Genie, Hoffnung, Verbesserung erscheinen könnte, würde wohl niemand dumm sein wollen, und es würde keine Dummheit geben. Zumindest wäre es sehr leicht, sie zu bekämpfen. Aber sie hat leider etwas ungemein Gewinnendes und Natürliches. Wenn man zum Beispiel findet, daß ein Öldruck eine kunstvollere Leistung sei als ein handgemaltes Ölbild, so steckt eben auch eine Wahrheit darin, und sie ist sicherer zu beweisen als die, daß van Gogh ein großer Künstler war. ... Es gibt schlechterdings keinen bedeutenden Gedanken, den die Dummheit nicht anzuwenden verstünde, sie ist allseitig beweglich und kann alle Kleider der Wahrheit anziehen. Die Wahrheit dagegen hat jeweils nur ein Kleid und einen Weg und ist immer im Nachteil.“ 


Geist und Erfahrung

Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind

[1921] Zitiert aus Projekt Gutenberg

I

Schiller in der Abhandlung über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen: »Belletristische Willkürlichkeit im Denken ist freylich etwas sehr Übles.«

Mathematische Kapitel aber haben vor andren den Vorzug, daß sie diese bei belletristischen Geistern sich auf jedem Wissensgebiet rasch einstellende imitatorische Belesenheit von Sachlichkeit leicht unterscheiden lassen. Spengler schreibt: irgend etwas »mag in den populären Teilen einer Mathematik weniger hervortreten, aber die Zahlengebilde höherer Ordnung, zu denen jede von ihnen . . . alsbald aufsteigt, wie das indische Dezimalsystem, die antiken Gruppen der Kegelschnitte, der Primzahlen und der regelmäßigen Polyeder, im Abendland der Zahlkörper, die mehrdimensionalen Räume, die höchst transzendenten Gebilde der Transformations- und Mengenlehre, die Gruppe der nichteuklidischen Geometrien . . .« usw. und das klingt so gewiegt, daß ein Nichtmathematiker sofort durchschaut, so kann nur ein Mathematiker reden. Aber in Wahrheit ist, wie Spengler da Zahlengebilde höherer Ordnung aufzählt, nicht fachkundiger als ob ein Zoologe zu Vierfüßlern die Hunde, Tische, Stühle und Gleichungen vierten Grades zusammenfassen würde! Oder Spengler schreibt: »Aus dieser großartigen Intuition . . . folgt die letzte und abschließende Fassung der . . . abendländischen Mathematik, die Erweiterung und Vergeistigung der Funktionentheorie zur Gruppentheorie.« Aber in Wirklichkeit ist die Gruppentheorie gar keine Erweiterung der Funktionentheorie! Oder Spengler definiert: »Gruppen sind . . .«, aber was er definiert, sind keine »Gruppen«, sondern unter Umständen eine »Menge« und sonst überhaupt nichts Präzises! Definiert er aber eine »Menge«, nämlich »den Inbegriff einer Menge gleichartiger Elemente«, irrt er sich und glaubt, daß dies die Definition eines Zahlkörpers sei! Oder er schreibt: »Innerhalb der Funktionentheorie dagegen ist der Begriff der Transformation von Gruppen von entscheidender Bedeutung und der Musiker wird bestätigen, daß analoge Bildungen einen wesentlichen Teil der neueren Kompositionslehre ausmachen«, aber natürlich gibt es den Begriff Transformation von Gruppen in der Funktionentheorie überhaupt nicht, sondern es gibt nur den geistigen Gegenstand Transformationsgruppen und den nicht in der Funktionentheorie, sondern in der Gruppentheorie. Was gleichzeitig ein Beispiel für die Universalität und den Stil der Beweisführung ist.

II

Man kann nach solchen Beispielen wohl nicht glauben, daß ich mich auf Buchstabengerechtsame versteife. Aber man wird es tun. Denn es besteht in – ich möchte das Wort geistig gebrauchen – sagen wir also in geistigen Kreisen, – ich meine aber die der Literatur, ein günstiges Vorurteil über Verstöße gegen Mathematik, Logik und Genauigkeit; sie werden unter den Verbrechen wider den Geist gern zu den ehrenvollen politischen gezählt, wo der öffentliche Ankläger eigentlich in die Rolle des Angeklagten gerät. Seien wir also generös. Spengler meint es quasi, arbeitet mit Analogien und in irgendeinem Sinne kann man da immer recht haben. Wenn ein Autor die Begriffe durchaus mit falschen Namen belegen oder selbst verwechseln will, so kann man sich schließlich daran gewöhnen. Aber ein Chiffrenschlüssel, irgendeine zuletzt eindeutige Verbindung des Gedankens mit dem Wort muß durchgehalten werden. Auch diese fehlt. Die vorgeführten, ohne lang suchen zu müssen aus vielen herausgegriffenen Beispiele sind nicht Irrtümer in Einzelheiten, sondern eine Art des Denkens!

Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen; in gewissem Sinn kann man also sagen: Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese. Falter wie Chinesen sind bekannt als Sinnbilder der Wollust. Zum erstenmal wird hier der Gedanke gefaßt an die noch nie beachtete Übereinstimmung des großen Alters der Lepidopterenfauna und der chinesischen Kultur. Daß der Falter Flügel hat und der Chinese keine, ist nur ein Oberflächenphänomen. Hätte ein Zoologe je auch nur das geringste von den letzten und tiefsten Gedanken der Technik verstanden, müßte nicht erst ich die Bedeutung der Tatsache erschließen, daß die Falter nicht das Schießpulver erfunden haben; eben weil das schon die Chinesen taten. Die selbstmörderische Vorliebe gewisser Nachtfalterarten für brennendes Licht ist ein dem Tagverstand schwer zugänglich zu machendes Relikt dieses morphologischen Zusammenhangs mit dem Chinesentum. –

Was mit solchen Mitteln bewiesen werden soll, ist ja eigentlich ganz gleich; ich wollte am Beispiel der Mathematik zeigen, von dem Spengler selbst sagt, daß es das einzige sei, an dem sich seine Beweisführung erhärten lasse, welches Vertrauen sie verdient.

III

Ich übergehe zu den erkenntnistheoretischen Schlüssen, die Spengler aus der Betrachtung der Physik zieht.

Er behauptet, »daß schon Worte wie Größe, Lage, Prozeß, Zustandsänderung spezifisch abendländische Bilder darstellen, die den Charakter der wissenschaftlichen Tatsachen, die Art des Erkanntwerdens beherrschen, ganz zu schweigen von komplexen Begriffen wie Arbeit, Spannung, Wirkungsquantum, Wärmemenge, Wahrscheinlichkeit, welche jeder für sich eine physikalische Gesamtanschauung in nuce enthalten«. »Das Experiment, die systematische Handhabung der Erfahrung ist höchst dogmatisch; ein spezieller Naturaspekt ist schon vorausgesetzt.« »Der in sich geschlossene, höchst überzeugende Komplex unumstößlicher Wahrheiten ist in einem sehr bedeutsamen Sinne von dem Entwicklungsgang, den allgemeinen, nationalen und privaten Schicksalen . . . abhängig. Jeder große Physiker, der als Persönlichkeit seinen Entdeckungen doch immer eine eigene Richtung und Farbe gibt, jede Hypothese, die ohne einen individuellen Beigeschmack ganz unmöglich ist, jedes Problem, das in die Hände gerade dieses und keines andren Forschers geriet, bedeuten ebensoviele Schicksalsfügungen für die Gestalt der Lehre. Wer das bestreitet, der ahnt nicht, wie viel Bedingtes in den absoluten Momenten der Mechanik steckt.«

Mit solchen Bemerkungen hat Spengler, von einigen Zweideutigkeiten abgesehen, vollkommen recht. Er irrt sich nur darin, daß er sie für neu hält; ihr Inhalt ist jedem, der von den erkenntnistheoretischen Arbeiten der letzten fünfzig Jahre etwas weiß, geläufig.

Wenn er aber daraus folgert, es handle sich bei physikalischen Entscheidungen »um Stilfragen . . . Es gibt physikalische Systeme, wie es Tragödien und Sinfonien gibt. Es gibt hier Schulen, Traditionen, Manieren, Konventionen wie in der Malerei«: so macht er aus einem gallus Mattiae einen Gallimathias.

Spengler sagt: Es gebe keine Wirklichkeit. Natur sei eine Funktion der Kultur. Kulturen seien die letzte uns erreichbare Wirklichkeit. Der Skeptizismus unserer letzten Phase müsse historisch sein. Warum haben aber die Hebel zur Zeit des Archimedes oder die Keile im Paläolithikum genau so gewirkt wie heute? Warum vermag sogar ein Affe einen Hebel oder einen Stein so zu gebrauchen, als wüßte er von Statik und Festigkeitslehre, und ein Panther aus der Spur auf die Beute zu schließen, als wüßte er von der Kausalität? Will man nicht annehmen, daß eine gemeinsame Kultur auch Affe, Steinmensch, Archimedes und Panther verbindet, so bleibt wohl nichts anderes übrig als ein gemeinsames Regulativ anzunehmen, das außerhalb der Subjekte liegt, also eine Erfahrung, die der Erweiterung und Verfeinerung fähig sein könnte, die Möglichkeit eines Erkennens, irgendeine Fassung von Wahrheit, des Fortschritts, Aufstiegs, kurz gerade jene Mischung subjektiver und objektiver Erkenntnisfaktoren, deren Trennung die mühselige Sortierarbeit der Erkenntnistheorie ausmacht, von der sich Spengler dispensiert hat, weil sie dem freien Flug der Gedanken ganz entschieden hinderlich ist.

Spengler hebt einmal hervor, die Erkenntnis sei nicht nur ein Inhalt, sondern auch ein lebendiger Akt: was er in ungeheuerlichem Maß vernachlässigt, ist, daß sie auch ein Inhalt ist. Was unsre geistige Lage kennzeichnet und bestimmt, ist aber gerade der nicht mehr zu bewältigende Reichtum an Inhalten, das angeschwollene Tatsachenwissen (einschließlich der moralischen Tatsachen), dieses Auseinanderfließen der Erfahrung an der Oberfläche der Natur, das Unübersehbare, das Chaos des Nichtwegzuleugnenden. Wir werden daran zugrunde gehn oder als ein seelisch stärkerer Menschenschlag es überwinden. Darum hat es auch menschlich keinen Sinn, diese ungeheure Gefahr und Hoffnung wegzueskamotieren, indem man durch eine falsche Skepsis den Tatsachen das Gewicht ihrer Tatsächlichkeit stiehlt.

IV

Da ein großer Teil der Naturgesetze das Ergebnis räumlicher Messungen ist, wäre es natürlich ein verblüffender Erfolg, wenn es gelänge, am Wesen des Raums zu zeigen, daß er in jeder Kultur nicht nur anders erlebt wird, sondern etwas anderes ist; die Behauptung, daß die Natur eine Funktion der Kultur sei, wäre damit gewissermaßen samt der Wurzel herausgehoben.

Tatsächlich beansprucht Spengler, »die Illusion des einen, bleibenden, alle Menschen umgebenden Raums, über den man sich begrifflich restlos verständigen könnte, zerstört« und »eine Ausgedehntheit an sich . . . unabhängig vom spezifischen Formgefühl des Erkennenden« als »eine Illusion« erwiesen zu haben.

Er verweist auf die Existenz nichteuklidischer Geometrien. Aus ihr folgt, daß es mehrere Raumbegriffe gibt, die eben dadurch definiert sind, daß diese Geometrien in ihnen gelten. Nennen wir sie mathematische Räume. Sie sind dadurch entstanden, daß gewisse Eigenschaften des überlieferten euklidischen Raumbegriffs variiert worden sind, und wir fügen hinzu, daß sie sich trotzdem für den rechnungsmäßigen Ausdruck physikalischer, also wirklicher Tatsachen verwenden lassen. Gewöhnlich unterscheidet man da aber: Der für die Darstellung gewählte Raum ist, genau so wie andre mathematische Symbole, zunächst nur eine begriffliche Brücke für Vorgänge in einem andren Raum, dem der profanen Wirklichkeit. Nennen wir ihn den empirisch-metrischen, denn er ist nichts als der Erfahrungsraum unter dem vorwaltenden Aspekt des Messens, wovon man sich leicht überzeugen kann, indem man sich vergegenwärtigt, daß es neben und in gewissem Sinn vor dem empirisch-metrischen Raum noch gesehene, getastete und gehörte Räume in allen Abstufungen vom primären Eindruck bis zur vollbewußten Wahrnehmung gibt. Diese Räume sind durchaus nicht euklidisch, im Sehraum z. B. schneiden sich Parallele[n], die Länge ist abhängig von der relativen Lage einer Strecke, die drei Dimensionen sind nicht gleichwertig und es treten spezifische Täuschungen auf, die sich oft erst durch das Zusammentreffen mit Erfahrungen aus andrem Sinnesgebiet als Täuschung erweisen. Es ist nicht meine Absicht, das weiter auszuführen und zu zeigen, wie daraus der volle Erfahrungsraum entsteht, warum dieser für euklidisch gilt und mit welcher Kompetenz vertiefte mathematisch-physikalische Erfahrung es wieder in Frage stellt. Es genügt mir festzustellen, daß dies den Inhalt zahlreicher erkenntnistheoretischer und psychologischer Arbeiten bildet, deren Ergebnisse die Lösung zwar noch nicht bedeuten, wohl aber voraussehen lassen. Spengler hat also nicht nur darin recht, daß es eine Mehrzahl mathematisch-physikalischer Räume gibt, sondern es gibt in der Tat auch die von ihm behauptete »Mehrheit variabler Anschauungsgebilde« und er irrt sich nur darin, daß er dies für eine neue Grundlage der Raumtheorie hält. Er hat auch hier den Ausgangspunkt einer Denkarbeit für ihr Ende gehalten. Würde er die »albernsten Methoden der experimentellen Psychologie« nicht für einen seiner unwürdigen »Jagdgrund mittelmäßiger Köpfe« und erkenntnistheoretische Arbeiten nicht für »akademische Belanglosigkeiten« erachten, so wäre ihm das nicht so leicht gefallen. Ich übergehe die analogen Betrachtungen über die Zeit, ebenso das »Geheimnis der Raumwerdung« zugunsten eines weiteren Zusammenhangs, da sich im einzelnen doch immer bloß das gleiche Bild wiederholt.

V

Vorher eine Zwischenanmerkung.

Es ist bisher wiederholt die Instanz der Erfahrung angerufen worden. Es gibt Menschen, die darauf mit Achselzucken antworten: empiristische Philosophie! Also eine philosophische Richtung, die eben auch nur eine unter vielen und nicht besonders privilegiert zum Besitz der Wahrheit ist. Spengler würde das Pochen auf Tatsächlichkeit nachsichtig als ein westliches Zivilisationssymptom abtun. Der Chor der Geistkämpfer und Seelenvollen aber – von angeblich Goethe bis zum kleinsten geistigen Moritz und Gottseibeimir von heute – hat längst einstimmig intuitiert: es gibt überhaupt nichts Erbärmlicheres als Empirismus.

Bevor ich antworte, will ich aber sagen, daß ich es für unerlaubt hielte, ein Werk mit Bedeutung und eignem Leben – als ein solches empfinde ich auch Spenglers Buch – erst wegen seiner Schwächen lächerlich zu machen und dann das eigne Töpfchen an den Herd zu rücken und rasch das eigne Besserwissen darin zu kochen; noch viel oberflächlicher natürlich, als es der Autor tat, weil Raum, Zeit und Bewußtsein der Wichtigkeit knapp sind. Ich stelle daher fest, daß ich Spengler nicht abwäge, sondern daß ich ihn angreife. Ich greife ihn an, wo er typisch ist. Wo er oberflächlich ist. Wenn man Spengler angreift, greift man die Zeit an, der er entspringt und gefällt, denn seine Fehler sind ihre. Zeiten sind aber nicht zu widerlegen; nicht aus Agnostizismus ist dies gesagt, sondern weil kein Mensch die Zeit hat sich damit abzugeben. Man kann nicht mehr tun, als ihnen auf die Finger zu sehn und auch hie und da daraufzuklopfen.

Die Erfahrung, welche dies bei Spengler besorgt, hat mit philosophiegeschichtlichen Unterscheidungen nicht das geringste zu tun. Kein Gedankensystem darf zur Erfahrung oder [zu] richtigen Schlüssen aus ihr in Widerspruch stehn: in diesem Sinn empiristisch ist jede seriöse Philosophie. Wie hierbei der Begriff der Erfahrung mit Genauigkeit zu fassen ist, wie man apriorische Elemente von Erfahrungselementen in engerer Wortbedeutung trennt und in welchem Sinn überhaupt von einem Apriori geredet werden darf, das freilich schließt weitläufige und noch lange nicht beendete Erörterungen ein. Sie können aber auch aus dem Grund beiseite gelassen werden, weil sich die verbreitete Abneigung, von der die Rede war, ohnedies nicht gegen theoretische Arbeiten richtet, welche die wenigsten kennen, sondern gegen eine bestimmte Geisteshaltung, die, von den Erfolgen der Naturwissenschaften begünstigt, seit dem 18. Jahrhundert in steigendem Maße die zivilisierte Menschheit beherrscht. Erfahrung, welche für die Wissenschaftler in Betracht kommt – es gibt ja auch Denker, die behaupteten Gott erfahren zu haben –, ist jene, die unter bestimmbaren Umständen jedem gewährleistet ist. Ich möchte daher, nicht ohne Freude am Bösen, hinzufügen, daß sie eine triviale Erfahrung ist. In diesem Sinn empiristisches Denken engt natürlich den Geist ein. Angewiesen auf den Aufbau von unten nach oben, auf das Sichere, Zugängliche, Geschlichtete – die großen theoretischen Gedanken sind verhältnismäßig selten –, erwirbt er mit der Exaktheit leicht auch eine gewisse Philiströsität; der ständig erste Griff nach dem Niederen vor dem Höheren wird, da das zweite nicht oft gelingt, zur einzigen Geste. Es gehört ein gewisses philosophisches Phlegma zu ihm – dort, wo er nicht zur hohen geistigen Tugend wird –; man leimt Erfahrungsbruchstücke zusammen, gewärtig, daß einmal ein System daraus werden wird, was keineswegs erwiesen ist. Man dreht sich im Kreis und bescheidet sich darin, wenn man Erscheinungen immer wieder nur in Gruppen andrer Erscheinungen einordnet. Und wenn es auch dabei um die Befriedigung des metaphysischen Bedürfnisses durchaus nicht so aussichtslos zu stehen braucht, wie man gemeinhin annimmt, daß man sich sehr häufig mit dem Schein befriedigt, ist nicht zu leugnen, daß dem Zurückführen zuliebe oft unwesentlich zurückgeführt wird und Erklärungen gegeben werden, die sozusagen nur dem Jargon nach stimmen. Das sind die Paradefälle des Kampfes gegen den engen wissenschaftlichen Geist, Intellektualismus, Rationalismus usw. Aber natürlich führt jede Geistesart ihren Troß von Karikaturen mit sich und jener der Gegenseite ist unendlich viel größer. Sieht man im Empiristen nur den von Gott in die Tiefe gebannten Luzifer, so möge man doch nicht vergessen, was das Hauptargument für ihn ist: die Unzulänglichkeit aller philosophischen Engel. Zur Ehre eines Höheren einen solchen, so gut wie ich es vermag, in teilweise gerupftem Zustand zu zeigen, nahm ich Spengler als Beispiel.

VI

Erkenntnistheoretische Einwände gelten natürlich nur unter der Voraussetzung, daß erkannt werden soll. Wird denn aber stets erkannt? Wenn man Emerson, Maeterlinck oder Novalis liest, auch Nietzsche rechne ich dazu und um ein Beispiel von heute zu geben, sei Rudolf Kaßner genannt, – erfährt man stärkste geistige Bewegung: aber erkennen kann man dies nicht heißen. Es fehlt die Konvergenz zur Eindeutigkeit, der Eindruck läßt sich nicht komprimieren und zum Niederschlag bringen, es sind intellektuelle Umschreibungen von etwas, das man sich menschlich aneignen, aber nur in intellektuellen Umschreibungen wieder ausdrücken kann.

Die Ursache liegt darin, daß die Vorstellungen in diesem Interessenkreis keine feste Bedeutung haben, sondern mehr oder minder individuelle Erlebnisse sind, die man nur soweit versteht, als man sich ähnlicher erinnert. Sie müssen jeweils wiedererlebt werden, werden immer nur teilweise wiedererlebt und keineswegs ein für allemal verstanden. Vorstellungen, die nicht das feste Fundament des sinnlich Wahrnehmbaren oder der reinen Rationalität haben, sondern auf Gefühlen ruhn und schwer wiederholbaren Eindrücken, sind immer so. Selbstverständlich gehören alle Äußerungen des praktischen Lebens dazu; jede Unterredung, jedes Überzeugen, jeder Entschluß, jede Beziehung zwischen zwei Menschen ruht, wie man zu sagen pflegt, auf Imponderabilien. Faßt man solche Vorstellungen und Sachverhalte in ebensolchen Zusammenhang – wie es der Essay tut, die »Meinung«, die »persönliche« Überzeugung –, so entstehen komplizierte Gebilde, die natürlich ebenso leicht zerfallen wie hochzusammengesetzte Atomgruppen.

Sowie man dieses Gebiet betritt, erweist sich logische Methodik als entthront. Je höher in dieser Reihe ein Gedanke steht, desto mehr tritt der Anteil des Verstandes gegenüber dem des Erlebnisses zurück. Ich habe es deshalb einst das nicht-ratioïde Gebiet genannt (im 4. Band der Zeitschrift Summa [s. S. 781/85: Zum Selbstbildnis / Skizze der Erkenntnis des Dichters, 1918], wo man einige Gelegenheitsbemerkungen mehr darüber finden kann), aber selbstverständlich gilt das nur in dem soeben angegebenen Sinn. Anstelle des starren Begriffs tritt die pulsierende Vorstellung, anstelle von Gleichsetzung treten Analogien, an die der Wahrheit Wahrscheinlichkeit, der wesentliche Aufbau ist nicht mehr systematisch, sondern schöpferisch. Das Gebiet umfaßt alle Grade der Abstufung vom fast Wissenschaftlichen, wie es dem Essay Taines oder Macaulays, schließlich aber auch fast jeder Geschichtsschreibung eignet, bis zu Ahnung und Willkür oder jenen nur noch Anregungsreize spendenden Abhandlungen, wie sie heute manchesmal Dichter schreiben. Dementsprechend konvergiert der Gehalt bald bis zum fast Eindeutigen, bald divergiert er bis zur vollen Disparatheit und schafft nur Denkdispositionen und diffuse Bewegtheit.

Wer sich an solchen Arbeiten gebildet hat, wird wissen, wieviel durch Ordnung, Analyse, Vergleich, kurz Denken, aus ihnen extrahiert zu werden vermag, trotzdem die feinste Substanz dabei verlorengeht; wird auch wissen, wieviel Rationalität in ihnen selbst steckt, ungeachtet der ganz selbstverständlichen, die schon zum bloßen Ausdruck nötig ist. (Ich sehe von dem Fall ab, wo plötzlich Domänen fast ganz vom Verstand erobert werden, in denen vordem nur die Idee oder gar die Dichtung herrschte, wie im Fall der Psychoanalyse.) Wäre es angesichts des Mißverhältnisses, in dem die Leistungen auf nicht-ratioïdem Gebiet zu den rein rationalen der Wissenschaft heute stehn, nicht vermessen, so würde ich sagen, daß der Verstand dort, wo er sozusagen all seiner Bequemlichkeiten beraubt ist, desto elastischer sein und dort, wo alles fließt, desto schärfer unterscheiden und fassen muß. Es ist ein unheilvolles Mißverständnis, welches den Geist in Gegensatz zum Verstand setzt; die menschlich wesentlichen Fragen werden durch das Geschreibe von Rationalismus und Antirationalismus nur verwirrt, die einzig mögliche Sehnsucht, wo man nicht ebensoviel verliert wie gewinnt, ist Überrationalismus.

Zur Klärung dieser grundlegenden Fragen geschieht sehr wenig. Den Philosophen liegt die Erforschung der Methodik eines Gebiets nicht recht, dessen Tatsachen in Erlebnissen bestehn, die den meisten von ihnen nicht in der nötigen Mannigfaltigkeit bekannt sind. So gibt es meines Wissens überhaupt keinen Versuch, die Logik des Analogischen und Irrationalen zu untersuchen. »Es gibt wissenschaftliche Erfahrung und Lebenserfahrung«, sagt Spengler, »es besteht ein selten gewürdigter Unterschied zwischen Erleben und Erkennen.« »Die Vergleiche könnten das Glück des historischen Denkens sein . . . Ihre Technik müßte unter der Einwirkung einer umfassenden Idee und also bis zur wahllosen Notwendigkeit, bis zur logischen Meisterschaft ausgebildet werden.« Ich bewundere den leidenschaftlichen Vorsatz, der die ganze Weltgeschichte in neue Denkformen pressen will. Daß es nicht gelingt, ist nicht nur Spenglers Schuld, sondern liegt auch am Mangel jeder Vorarbeit.

VII

Hat man sich einmal klargemacht, daß je nach dem Gegenstande entweder die Begrifflichkeit oder der fluktuierende Charakter des Erlebnisses die Hauptsache am Gedanken ist, so versteht man jenen Unterschied, den nicht nur Spengler zwischen lebendem und totem Erkennen macht, ohne alle Mystik. Was man wie in der Schule lernen kann, Wissen, rationale Ordnung, begrifflich definierte Gegenstände und Beziehungen, kann man sich aneignen oder nicht, man kann es gegenwärtig haben oder vergessen, es kann wie ein wohlgekanteter, sauber abgeschliffener Würfel in uns hineingestellt werden oder wieder herausgenommen: solche Gedanken sind in gewissem Sinne tot; das ist die Kehrseite des Gefühls, daß sie unabhängig von uns gelten. Genauigkeit, Richtigkeit töten; was sich definieren läßt, Begriff ist, ist tot, Versteinerung, Skelett. Ein Nur-Rationalist hat in seinem Interessenkreis wohl niemals Gelegenheit das zu erleben. In Geistesgebieten aber, wo der Satz gilt: Erkennen ist Wiedererinnern (oder – worauf ich früher einmal hingewiesen habe – der Hegelsche Dreischritt: Thesis, Antithesis, Synthesis [s. auch S. 355: Tagebuch – Heft 34], der gerade dort nicht gilt, wo er ihn anwandte, nämlich auf ratioïdem Gebiet), macht man diese Erfahrung bei jedem Schritt. Das Wort soll dort nichts Fixiertes bezeichnen. Es ist das lebendige Wort, voll Bedeutung und intellektueller Beziehung im Augenblick, von Wille und Gefühl umflossen; eine Stunde später ist es nichtssagend, obwohl es alles sagt, was ein Begriff sagen kann. Ein solches Denken mag man wohl lebend nennen.

VIII

Spengler sagt: »Zerlegen, definieren, ordnen, nach Ursache und Wirkung abgrenzen kann man, wenn man will. Das ist eine Arbeit, das andre ist eine Schöpfung. Gestalt und Gesetz, Gleichnis und Begriff, Symbol und Formel haben ein sehr verschiedenes Organ. Es ist das Verhältnis von Leben und Tod, von Zeugen und Zerstören, das hier erscheint. Der Verstand, der Begriff tötet, indem er ›erkennt‹. Er macht das Erkannte zum starren Gegenstand, der sich messen und teilen läßt. Das Anschauen beseelt. Es verleibt das Einzelne einer lebendigen innerlich gefühlten Einheit ein. Dichten und Geschichtsforschung sind verwandt, Rechnen und Erkennen sind es auch . . . Der Künstler, der echte Historiker schaut, wie etwas wird. Er erlebt das Werden in den Zügen des Betrachteten noch einmal.«

Das führt außerdem auf etwas, das mit dem Unterschied zwischen lebendem und totem Erkennen oder, wie Spengler sagt, zwischen Anschauen und Erkennen eng zusammenhängt: ich habe es einmal den Unterschied zwischen Kausalität und Motivation genannt. Kausalität sucht die Regel durch die Regelmäßigkeit, konstatiert das, was sich immer gebunden findet; Motivation macht das Motiv verstehen, indem sie den Impuls zu ähnlichem Handeln, Fühlen oder Denken auslöst. Das fundiert die schon erwähnte Unterscheidung von wissenschaftlicher Erfahrung und Lebenserfahrung. Ich möchte aber erwähnen, daß auf dieser Linie auch die Verwechslung von gelehrter und dichterischer Psychologie liegt, die so oft begangen wird. Um 1900 wollte jeder Dichter ein »tiefer Psychologe« sein, um 1920 gilt Psychologie als Beschimpfung. Das ist ein Kampf mit Einbildungen. Denn kausale Psychologie war stets ein selten angewandtes Kunstmittel; was man aber sonst Psychologie nennt, ist einfach Menschenkenntnis und Fähigkeit der Motivation. Und zwar nicht die Menschenkenntnis eines Roßhändlers, die auf der menschlichen Typik ruht, sondern die des Menschen, dem nichts vorenthalten oder erspart blieb.

IX

Die Gegensätze Leben und Tod, Anschauen und Erkennen, Gestalt und Gesetz, Symbol und Formel wurden bereits erwähnt; ich füge hinzu die Paare Werden-Gewordenes, Bewegung-Ruhe, Eignes-Fremdes, Seele-Welt, Richtung-Raum, Zeit-metrische Zeit, Wille-Erkennen, Schicksal-Kausalität, organische Logik-Logik (auch als Logik der Zeit und Logik des Raums gegeneinandergesetzt), Physiognomik-Systematik: es sind damit fast vollzählig die konstruktiven Ideen beisammen, mit deren Hilfe Spengler Profile durch das Grundfaktum legt, welches im Wesen das gleiche bleibt, von welcher Seite immer er es anpackt.

Ich widerstehe der Versuchung, das darzustellen, weil es mich in die Schwierigkeiten verwickeln würde, an denen Spengler vorübergegangen ist. Übrigens kann jedermann nach einem bitter einfachen Schema Spenglers Philosophie nacherzeugen. Man nehme die Prädikate »ist in gewissem Sinne«, »wird in gewissem Sinne« und »hat in gewissem Sinne«, vernachlässige unwesentliche Unterschiede der Ausdrucksform, und kombiniere nun jeden der angeführten Begriffe mit allen andren, bejahe die Kombinationen aller an erster Stelle in ihrem Paar stehenden Begriffe und ebenso die aller an zweiter Stelle stehenden untereinander, verneine jede Kombination eines an erster Stelle stehenden mit einem an zweiter Stelle stehenden Begriff: bei gewissenhafter Befolgung ergibt sich Spenglers Philosophie von selbst und sogar noch einiges mehr. Zum Beispiel: Leben wird angeschaut, hat Gestalt, ist Symbol, ist Werden usw. Kausale Beziehung ist tot, wird erkannt, hat Gesetz, ist Gewordenes usw. Leben hat keine Systematik, Schicksal wird nicht erkannt und so und so. Spengler wird sagen, da zeige sich der Mangel der Rationalität; aber eben das sage ich auch.

Nur gegen den Vorwurf uneingestandener Anlehnung an Bergson, den man gegen Spengler erhoben hat, muß man – Bergson in Schutz nehmen. Bei ihm ist die Sache doch anders. Was aber das Grundproblem selbst betrifft, so gehört es weder Spengler noch Bergson allein an, sondern reicht über die deutsche romantische Philosophie und Goethe (auf den sich Spengler ja beruft) noch weiter zurück.

X

Eine Frage für sich ist die Intuition. Ich beantrage, alle deutschen Schriftsteller möchten sich durch zwei Jahre dieses Wortes enthalten. Denn heute steht es so damit, daß jeder, der etwas behaupten will, was er weder beweisen kann, noch zu Ende gedacht hat, sich auf die Intuition beruft. In der Zwischenzeit möge jemand die zahllosen Bedeutungen dieses Wortes aufklären.

Man wird dann wohl etwas mehr beachten, was jetzt so gern übersehen wird, daß es auch rein rational eine Intuition gibt. Der entscheidende Einfall, mag er noch so methodisch vorbereitet worden sein, springt auch da wie von außen plötzlich vor das Bewußtsein. Durch erhöhte Gemütszustände wird auch das rein rationale Denken, das mit Gefühl scheinbar gar nichts zu tun hat, gefördert. Wieviel mehr jenes, das hier das nicht-ratioïde Denken genannt worden ist, dessen Penetranz und innere Fortpflanzungsgeschwindigkeit geradezu von der Vitalität der Worte abhängt, einer um den belanglosen Begriffskern gelagerten Wolke von Gedanke und Gefühl. Oder man denke an jene Erkenntnisse, die »mit einem Schlage das Leben erhellen«, – Paradefälle der Intuition; aber auch da wird man sehn, daß es sich nicht um eine plötzlich ausbrechende andre Art Geistestätigkeit handelt, sondern um einen längst gewordenen kritischen Zustand der ganzen Person, der endlich umschlägt, wobei der aktuelle, vermeintlich zündende Gedanke gewöhnlich nur der Explosionsblitz ist, der das große innere Umreagieren begleitet.

»Etwas, das sich nicht erkennen, beschreiben, definieren, . . . nur fühlen und innerlich erleben läßt, das man entweder niemals begreift oder dessen man völlig gewiß ist«, »mit einem Schlage, aus einem Gefühl heraus, das man nicht lernt, das jeder absichtlichen Einwirkung entzogen ist . . ., das in seinen höchsten Momenten sich selten genug einstellt,« sagt Spengler. Das ist nur ein Grad auf der großen Skala, die von da über den Zustand des Gläubigen, des Liebenden, des Ethischen zur Haplosis, zur visio beata und den andren großen Formen der Weltempfängnis führt; mit einem sehr bemerkenswerten Nebenast im Pathologischen, der von der verbreiteten Zyklothymie bis zu schweren Wahnzuständen reicht.

Das ist eine analytische Haltung gegenüber dem Vorgang Intuition. Man wird einwerfen, das interessiere die Gelehrten, die es unter sich ausmachen mögen, menschlich handle es sich nicht um Analyse einer psychologischen Form, sondern um die Synthese der in ihr gewonnenen Inhalte. Die Welt, in der wir leben und gewöhnlich mitagieren, diese Welt autorisierter Verstandes- und Seelenzustände, ist nur der Notersatz für eine andre, zu der die wahre Beziehung abhanden gekommen ist. Zuweilen fühlt man, daß von all dem nichts wesentlich ist, für Stunden oder Tage zerschmilzt es in der Glut eines andren Verhaltens zu Welt und Mensch. Man ist Strohhalm und Atem, und die Welt die zitternde Kugel. In jedem Augenblick erstehen alle Dinge neu; sie als feste Gegebenheiten zu betrachten, erkennt man als inneren Tod. Das Pferd vor dem Wagen und der Vorübergehende kommunizieren. Oder wenigstens Mensch und Mensch messen sich nicht, beschnüffeln einander nicht wie Kundschafter, sondern wissen voneinander wie Hand und Bein an einem Körper. Das ist die Stimmung philosophisch schöpferischer oder philosophisch eklektischer Zustände. Man kann sie intellektuell als verspäteter Christ auslegen oder das Fließen des Heraklit an ihr demonstrieren, überhaupt allerlei heraus- und hineinlesen, unter anderem auch ein ganz neues Ethos. Glauben wir daran? Nein. Wir spielen damit Literatur. Galvanisieren Buddha, Christus und andre Ungenauigkeiten. Ringsum tobt die Vernunft in Tausenden von PS. Man trotzt ihr und behauptet, in einem verschlossenen Kästchen eine andre Autorität zu haben. Das ist der Sammelkasten Intuition. Man öffne ihn doch endlich und sehe, was darin ist. Vielleicht ist es eine neue Welt.

Man findet selten so schöne, kraftvolle Ansätze der Gestaltung wie bei Spengler. Aber daß schließlich der ganze Inhalt der Intuition darauf hinausläuft, daß man das Wichtigste nicht sagen und behandeln kann, daß man bis zum Extrem skeptisch in ratione ist (also gerade gegen das, was nichts andres hat als daß es wahr ist!), dagegen unerhört gläubig gegen alles, was einem gerade einfällt, daß man die Mathematik bezweifelt, aber an kunsthistorische Wahrheitsprothesen glaubt wie Kultur und Stil, daß man trotz Intuition beim Vergleichen und Kombinieren von Fakten das gleiche macht, was der Empirist macht, nur schlechter, nur mit Dunst statt der Kugel schießt: das ist das klinische Bild des durch übermäßigen fortgesetzten Intuitionsgenuß erweichten Geistes, Schöngeistes unserer Zeit.

XI

Der Gedanke, daß Kulturen an innerer Erschöpfung schließlich zugrunde gehn, ist plausibel auch ohne Metaphysik. Daß einander entsprechende Phasen in Auf- und Niederstieg unterschieden werden können, auch.

Seelische Spannung hält aufrecht; ist sie nicht mehr nötig und vorbei, bricht der Organismus zusammen. Daß es ähnliches im Leben der Gesellschaft gibt, ist nicht zu bezweifeln. Sie wird zum Haufen, wenn keine richtenden Kräfte mehr auf sie wirken.

Nun sind alle Kulturen in verhältnismäßig kleinen Räumen und Gesellschaften entstanden und haben sich von dort ausgebreitet. Darin liegt eine Verdünnungs- und Erschöpfungstendenz; die gleiche liegt in der zeitlichen Wirkung durch Generationen. Ideen (Nicht-Ratioïdes) lassen sich nicht übergehen wie Wissen; sie erfordern gleichen seelischen Zustand und in Wirklichkeit ist höchstens ähnliche seelische Disposition vorhanden: so sind sie ständig der Veränderung unterworfen. Solang sie neu sind, werden sie dadurch vielleicht bereichert, später korrumpiert. Sie realisieren sich unterwegs allerdings in Einrichtungen und Lebensformen; aber eine Idee verwirklichen heißt sie schon teilweise zerstören. Alle Verwirklichungen sind Zerrbilder und in höherem Alter werden sie immer leerer und unverständlicher, denn Form und Idee haben ein ganz verschiedenes Lebenstempo; so ragen immer die Formen einer älteren Schicht in die Ideen einer neueren herein und konkurrieren mit ihnen an Einfluß.

Das ist ein Teil der Gründe, warum späte Zeiten so uneinheitlich sind und in solchen Zivilisationszeiten die Kulturen zerfallen wie Gebirge.

XII

Die Entwicklung selbst ist nichts, was sich in einer einheitlichen Linie auswirkt. Mit der natürlichen Abschwächung, welche die Idee durch ihre Ausbreitung erleidet, kreuzen sich Einflüsse aus neuen Ideenquellen. Der innerste Lebenskern jeder Zeit, eine neblige, quellende Masse, ist eingebettet in Formen, die der Niederschlag viel älterer Zeiten sind. Jede Gegenwart ist gleichzeitig schon hier und noch um Jahrtausende zurück. Dieser Wurm bewegt sich auf politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, biologischen und unbegrenzt viel andren Gliedern, deren jedes ein anderes Tempo hat und einen anderen Rhythmus: das kann man als einheitliches Bild sehn und aus einem Grund entwickeln, gleichsam in Zentralperspektive wie es Spengler tut, aber man kann auch gerade am Gegenteil Geschmack finden. Es ist kein Plan darin und keine Vernunft, gut; ist das wirklich häßlicher als wenn solche darin wären? Ist Agnostizismus behaglich? Er kann wahr sein oder falsch, denn er ist eine rationale Angelegenheit, scharfsinnig oder oberflächlich; aber ob er menschlich tief ist oder nicht, das ist doch gar nicht mehr eine Eigenschaft der Erkenntnis, sondern eine der – in meiner Abkürzung gesprochen, nicht-ratioïden – Komplexe, die sich auf solcher rationalen Überzeugung aufbauen. Eine solche Verwechslung hat sich z. B. in der Bewertung des (philosophischen) Materialismus geradezu verewigt, der noch heutigentags als seicht und gemütseng gilt, obgleich er natürlich gerade so gefühlvoll sein kann wie der Glaube an die Engel. Danach wird man vielleicht verstehn, was ich mit dem Wunsche meine, daß solche Theorien (sofern sie nicht ausgesprochen wahr oder falsch sind) nicht anders denn als intellektuelle Versuchsgrundlagen für die Gestaltung des inneren Lebens behandelt werden mögen, statt – wie es heute immer geschieht – der Theorie so einfach und plump einen Gefühlscharakter zuzuschreiben. Was man Intellektualismus im üblen Sinne nennt, die modische intellektuelle Hast unserer Zeit, das Abwelken der Gedanken vor der Reife, hat darin einen Grund, daß wir mit unseren Gedanken Tiefe suchen und mit unseren Gefühlen Wahrheit und ohne die Verkehrtheit zu merken, jede Weile darüber enttäuscht sind, daß es uns schließlich nicht gelingt. – Weit ausholende ideologische Versuche wie der Spenglers sind sehr schön, aber sie leiden heute darunter, daß viel zu wenig innere Möglichkeiten vorbearbeitet sind. Man führt ja auch den Weltkrieg oder unsren Zusammenbruch bald auf diese, bald auf jene Ursachengruppe zurück. Aber das ist Täuschung. Ebensolcher Schwindel, wie wenn man ein einzelnes physisches Ereignis auf eine Ursachenkette zurückführt. In Wirklichkeit zerfließen die Ursachen schon bei den ersten Gliedern der Kette in eine unübersehbare Breite. Im Physischen haben wir uns geholfen (Funktionsbegriff). Im Geistigen sind wir ganz ohnmächtig. Die Intellektualität läßt uns im Stich. Aber nicht, weil der Intellekt seicht ist – als ob uns nicht auch alles andre im Stich ließe! –, sondern weil wir nicht gearbeitet haben.

XIII

Es ist eine alte und wie mir scheint recht unfruchtbare Streitfrage, wie man Kultur und Zivilisation unterscheidet. Ich glaube, wenn man unterscheiden will, ist es am besten, Kultur zu sagen, wo eine Ideologie herrscht und eine noch einheitliche Lebensform, Zivilisation dagegen als den diffus gewordenen Kulturzustand zu definieren. Jeder Zivilisation ist eine Kultur vorausgegangen, die in ihr zerfällt; jede Zivilisation ist ausgezeichnet durch die gewisse technische Beherrschung der Natur und ein sehr kompliziertes, sehr viel Intelligenz forderndes, aber auch schluckendes – System sozialer Beziehungen.

Es wird der Kultur fast immer eine unmittelbare Beziehung zu den Wesenheiten zugeschrieben, eine Art schicksalhafter Sicherheit der menschlichen Haltung und noch instinktive Sicherheit, der gegenüber dann der Verstand, das Zivilisationsgrundsymptom, eine etwas klägliche Unsicherheit und Indirektheit besitzen soll. Man kennt die Symptome, worauf sich das stützt. Der große, besonders aus der Ferne geschlossen wirkende Gestus von Mythos und Religion, andrerseits die Umständlichkeit, mit dem Verstand das zu sagen, was ein Blick, Schweigen, ein Entschluß viel besser ausdrücken. Der Mensch ist eben nicht nur Intellekt, sondern auch Wille, Gefühl, Unbewußtheit und oft nur Tatsächlichkeit wie das Wandern der Wolken am Himmel. Die aber nur das an ihm sehen, was die Vernunft nicht bewirkt, müßten schließlich das Ideal in einem Ameisen- oder Bienenstaat suchen, gegen dessen Mythos, Harmonie und intuitive Taktsicherheit alles Menschliche vermutlich nichts ist.

Wie schon gesagt, halte ich das Wachstum der Anzahl daran beteiligter Menschen für die Hauptursache des Übergangs von Kultur in Zivilisation. Es ist klar, daß hundert Millionen Menschen zu durchdringen ganz andre Aufgaben stellt als hunderttausend. Die negativen Seiten der Zivilisation hängen zum größten Teil damit zusammen, daß diesem Volumen des sozialen Körpers seine Leitfähigkeit für Einflüsse nicht mehr entspricht. Man betrachte den Höhepunkt vor dem Krieg; Eisenbahn, Telegraph, Telephon, Flugmaschine, Zeitung, Buchhandel, Schul- und Fortbildungssystem, Wehrpflicht: alles völlig unzureichend. Der Unterschied zwischen Großstadt und schwarzgeistigem Land ist größer als der zwischen Rassen. Vollkommene Unmöglichkeit, selbst in der eigenen Schicht in die Voraussetzungen eines andren Gedankenkreises einzudringen außer unter ungeheurem Zeiteinsatz. Folge: schmale Gewissenhaftigkeit oder impetuose Oberflächlichkeit. Mit dem Wachstum der Zahl hält die geistige Organisation nicht Schritt: darauf sind achtundneunzig vom Hundert aller Zivilisationserscheinungen zurückzuführen. Keine Initiative vermag den sozialen Körper auf weitere Strecken zu durchdringen und empfängt Rückwirkung von seiner Totalität. Man kann tun, was man will, Christus könnte auf die Erde wieder niedersteigen: es ist ganz ausgeschlossen, daß er zur Wirkung käme. Die Frage auf Leben und Tod ist: geistige Organisationspolitik. Das ist die erste Aufgabe für Aktivist wie Sozialist; wird sie nicht gelöst, so sind alle andren Anstrengungen umsonst, denn sie ist die Voraussetzung dafür, daß die überhaupt wirken können.

XIV

Ich fasse mich zusammen; noch nie in meinem Leben habe ich nötig gehabt, es hinterdrein zu tun.

Ich habe also ein allgemein beliebtes Buch angegriffen.

Ich hatte mir versprochen – ich rezensiere ja nicht – am berühmten Einzelfall Zeitfehler zu demonstrieren. Oberflächlichkeit; Mantelwurf der Geistigkeit, unter dem die Gliederpuppe steckt; Überfließen einer lyrischen Ungenauigkeit in die Gevierte der Vernunft. Denn so groß auch z. B. der Unterschied zwischen dem explosiven Weltanschau[er?] ist, der zu »Ballungen« verdaut, was geistig in der Luft liegt, und dem Bücherwurm, der nach Wurmart täglich das Vielfache seines geistigen Eigengewichts frißt, Wissenschaften konsumiert und das natürlich nur in lockerer Form von sich geben kann –: es sind bloß konträre, dem Sinn nach aber gleiche Erscheinungen einer Zeit, die ihren Verstand nicht zu gebrauchen weiß. Die nicht zuviel Verstand hat, wie es immer heißt, sondern den Verstand nicht am rechten Flecke. Diese Zeit hat mit dem Expressionismus, um ein andres Beispiel von ihr zu geben, eine Urerkenntnis der Kunst veräußerlicht und verflacht, weil die nicht denken konnten, welche den Geist in die Dichtung einführen wollten. Sie konnten es nicht, weil sie in Luftworten denken, denen der Inhalt, die Kontrolle der Empirie fehlen; der Naturalismus gab Wirklichkeit ohne Geist, der Expressionismus Geist ohne Wirklichkeit: beides Ungeist. Auf der andren Seite aber kommt bei uns gleich die gewisse Dörrfischrationalität und die beiden Gegner sind einander würdig.

Ich weise noch einmal auf den Unterschied von ratioïd und nichtratioïd hin, den ich nicht erfunden, sondern nur so übel benannt habe. Hier steckt die Wurzel, aus der die verhängnisvolle Frage der Intuition wächst und des gefühlsmäßigen Erfassens, die nichts andres sind als Eigentümlichkeiten des nicht-ratioïden Gebiets, falsch verstanden. Hier liegt der Schlüssel zur »Bildung«. Hier sind der rachitische Idealismus unsrer Tage und ihr Gott ausgekommen. Hier wäre zu verstehn, warum der ergebnislose Kampf in der heutigen Zivilisation zwischen dem wissenschaftlichen Denken und den Ansprüchen der Seele nur durch ein Plus zu lösen ist, einen Plan, eine Arbeitsrichtung, eine andre Verwertung der Wissenschaft wie der Dichtung!

Und Oswald Spengler erkläre ich öffentlich und als Zeichen meiner Liebe, daß andre Schriftsteller bloß deshalb nicht so viele Fehler machen, weil sie gar nicht die beide Ufer berührende Spannweite haben, um so viele unterzubringen.


Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit

[1921] Zitiert aus dem Projekt-Gutenberg

I

Indem ich anhebe, die Frage des Nationalgefühls als eine Frage zu behandeln, während sie seit 1914 nur als Antwort zu existieren scheint, als leidenschaftliche, unbekümmerte Bejahung oder Verneinung, indem ich dies mitten in einem überaus kritischen Abschnitt unseres Schicksals versuche, wo scheinbar jeder Zweifel am Begriff der Nation vermieden sein sollte, muß ich dennoch die Entschuldigung abweisen, ich tue es, weil ich eine neue Antwort weiß und mich der Prophet treibt, sie zu verkünden. Ich kenne in der Tat nur Teilantworten oder Antworten, die nur zum Teil befriedigen. Aber gerade in diesem Mangel, der ungeachtet allen Bemühens, ihn zu beheben, bestehen bleibt, erkenne ich die Notwendigkeit, daß einer einmal nicht in fertiger Überzeugung von der Sache spricht, sondern aus der unverhohlenen Hilflosigkeit heraus, in der wir uns trotz aller Phrasen ihr gegenüber befinden.

II

Die, für welche die Nation einfach nicht existiert, machen es sich zu leicht. Dieser Geist, der sich im Namen des Geistes für exterritorial und übernational erklärt, treibt angesichts der auf uns allen lastenden Verachtung und Sklaverei Vogelstraußpolitik; er steckt den Kopf in den Sand, was nicht hindern kann, daß ihn die uns allen geltenden Schläge dort treffen werden, wo seine Straußfedern sitzen.

Dieser individualistische Separationsgeist übersieht aber noch eines: jenes bekannte Sommererlebnis im Jahre 1914, den sogenannten Aufschwung zur großen Zeit, und ich meine das durchaus nicht nur ironisch. Im Gegenteil, was man anfangs stammelte und später zur Phrase entarten ließ, daß der Krieg ein seltsames, dem religiösen verwandtes Erlebnis gewesen sei, kennzeichnet unzweifelhaft eine Tatsache; Entartung beweist nichts gegen den ursprünglichen Charakter. Es ist zu einer Phrase gemacht worden, in der üblichen Weise eben dadurch, daß man es ein religiöses Erlebnis nannte und ihm damit eine archaistische Maske gab, statt zu fragen, was da eigentlich an einem doch längst entschlafenen Vorstellungs- und Gefühlsbereich so heftig seltsam poche: dennoch läßt sich nicht leugnen, daß die Menschheit zu jener Zeit (und natürlich alle Völker in der gleichen Weise) von etwas Irrationalem, Unvernünftigem, aber Ungeheurem berührt worden ist, das fremd, nicht von der gewohnten Erde, war und deshalb, noch bevor die eigentlichen Kriegsenttäuschungen kamen, einfach weil es sich bei seiner atmosphärisch unbestimmten Natur nicht fassen und halten ließ, schon als eine Halluzination oder ein Gespenst erklärt wurde.

Darin war auch das berauschende Gefühl enthalten, zum erstenmal mit jedem Deutschen etwas gemeinsam zu haben. Man war plötzlich Teilchen geworden, demütig aufgelöst in ein überpersönliches Geschehen, und spürte, von ihr eingeschlossen, die Nation geradezu leibhaft; es war, als ob mystische Ureigenschaften, welche in einem Wort eingeschlossen die Jahrhunderte verschlafen hatten, plötzlich so real erwachten wie die Fabriken und Kontore am Morgen. Man muß schon ein kurzes Gedächtnis oder ein weites Gewissen haben, um über späterer Besinnung das zu vergessen. – Selbst die wenigen, die sich diesem ungeheuren Druck entziehen wollten, konnten es nicht durch ruhiges Beharren tun, sondern nur durch Gegenstoß. Wer schon zu Beginn Kriegsgegner war, mußte es fanatisch sein; er spie der Nation ins Gesicht, er meuchelte sie und bewies damit nur – die Konträrfaszination.

Will man nun glauben, daß es nichts gewesen sei, wenn Millionen Menschen, die zuvor nur für den Eigennutz und in übertünchter Angst vor dem Tode gelebt hatten, plötzlich mit Jubel dem Tod für die Nation entgegenliefen? Man muß schon ein sehr ungebildetes Ohr für das Leben haben, um über der pazifistischen Gewissensstimme diese Stimme des Geschehens nicht gehört zu haben. Und selbst wenn Millionen von Menschen sich, ihre Existenz, ihre Lebensziele, ihre Nächsten, ihren Gesamtbesitz an Heroismus bloß einem Phantom geopfert haben sollten: kann man denn da einfach wieder zu Bewußtsein erwachen, aufstehen und weggehen wie nach einem Rausch, das Ganze eine Trunkenheit, eine Psychose, eine Massensuggestion, ein Blendwerk des Kapitalismus, Nationalismus oder was immer nennend? – Man kann es ganz gewiß nicht, ohne dadurch ein Erlebnis zu unterdrücken, das nicht erledigt ist, und gerade dadurch die Ursprünge einer ungeheuerlichen Hysterie in die Seele der Nation zu senken!

III

Aber auch die, für welche die Idee der Übernationalität nicht existiert, machen es sich zu bequem. Braucht man das eigentlich zu sagen?

Wenn aber nicht, warum hört man dann so selten die Anklage gegen den Betrug erheben, der an uns beim Kriegsende durch Wilson und sein trojanisches Pferd der vierzehn Punkte begangen worden ist? Gewiß waren wir damals am Ende; aber in dem Augenblick, wo wir die zum Ekel gewordenen Waffen fallen ließen, hatte sie etwas uns aus der Hand geschlagen oder geschmeichelt? War nicht eine österliche Weltstimmung da: verfrüht wie ein warmer Februartag, die Überzeugung, daß eine neue Zeit für die Menschheit anhebt? Und auch sie war, verglichen mit dem erschütternden Dementi, das sie erlitt, nur eine Trunkenheit, eine Psychose, eine Massensuggestion, ein Blendwerk gewesen.

Wir haben also zwei große, einander entgegengesetzte Illusionen und beider Zusammenbruch erlebt, empfindlicher erlebt als andere Nationen: ist es zu verwundern, daß wir daran geistig niedergebrochen sind? Der wilde Haß, der in der deutschen Nation zwischen den zur Wiederermannung Eifernden und den dagegen Eifernden aufriß, die durcheinandergellenden Appelle an die nationale Erhebung von 1813 und an die internationale Erhebung von Moskau, der Kontrast zwischen den vor der Entente palmwedelnden Pazifisten und den Morden an unseren eigenen Politikern, die leidenschaftlichste Trauer um die verlorene Selbständigkeit der Nation gleichzeitig mit unerlaubten Auslandsgeschäften, Florieren der Schieber, der Tanzsäle und tausenderlei wenn selbst nicht unerlaubtem, so doch unangebrachtem Gedeihen, endlich die ungeheure seelische Ermattung und der Zerfall der Nation in müde, mürrische, einander fremd gewordene Teile: das entspricht nicht mehr bloß der Schwere erlittener materieller Verletzungen, sondern zeigt die geistige Erschütterung an.

IV

Zur Wiederaufrichtung gehört wohl eine klare und feste Seele; ist es richtig, daß jene Illusionen und ihr Zusammenbruch uns geschwächt haben, und daß wir eigentlich an einem seelischen Vakuum leiden, so haben wir wenig Dringenderes zu tun, als uns mit ihnen auseinanderzusetzen.

Wie falsch die leider oft in Deutschland zu hörende Schulbubenausrede: Wir haben's nicht getan! Sondern die Kaiser, die Generäle, die Diplomaten! Natürlich haben wir's getan: wir haben es gewähren lassen; es hat es getan, ohne daß es von uns gehindert worden wäre. Bei uns wie bei den andern. Wie falsch auch die andere oft zu hörende Rede: wir hätten bloß nicht genug Festigkeit gehabt und hätten uns betören lassen. Das übersieht das wahrhaft Neue, zu dem sich damals der Wille bilden wollte. Wenn man aber die Verhandlungen von Versailles in den französischen Blättern nachliest, so sieht man es sich listig, nein fast mechanisch, hilflos und mit Notwendigkeit gegenbilden, was diesen Willen bezweifelte, so wie er auch bei uns bezweifelt wird, verdächtig machte mit alten Erfahrungen und ihn mit einer Mentalität umfing, deren Apparat nicht anders konnte, als die junge Saat zerdrücken. Versailles war ein Brennspiegel des europäischen politischen Denkens. Der einzelne aber war der gleiche vor 1914, im Sommer 1914, bei Brest-Litowsk, bei den vierzehn Punkten, in Versailles; der gleiche in Frankreich und Deutschland; er hat bloß die entsetzlichsten Gegensätze erlebt, fast ohne die Übergänge zu merken; er hat sich bloß als zu allem fähig erwiesen und hat es gewähren lassen; bei voller Illusion eigenen Willens folgte er willenlos. Wir haben's getan, sie haben's getan; das ist keiner, das ist »Es«.

Betrachten wir dieses Es.

Daß der Wille der Gesamtheit nicht die Summe der Einzelwillen darstellt, ist nichts Neues; wenn nicht früher, so findet man bei Lagarde diesem Gedanken Wichtigkeit beigemessen, und seither ist er ein oft erörtertes und genau untersuchtes Thema geworden. Selbst eine Urabstimmung drückt nicht allein die Stimme der Befragten aus, sondern auch die des dazu aufgebotenen Apparats, und so sind alle Äußerungen eines Volks nicht nur es selbst, sondern sind mitbestimmt von seinen Apparaten der Bürokratie, der Gesetze, der Zeitungen, der wirtschaftlichen und ungezählter anderer Einrichtungen bis in die scheinbar individuellsten und doch teilweise abhängigen Leistungen der Literatur hinein. Ein Volk ist die Summe der einzelnen plus ihrer Organisation, und da diese Organisation in vieler Hinsicht ein selbständiges Leben führt, so ergibt sich – nimmt man noch die in hohem Maß zufällige Zusammensetzung der öffentlichen Ideenatmosphäre eines bestimmten Augenblicks hinzu – jenes Es, von dem die Rede war. Seine Bildung soll in der Folge als genügend bekannt und ungenügend durchschaut vorausgesetzt werden; es ist merkwürdig, wie wenig ausgenützt diese doch schon feststehenden Wahrheiten werden, und es würde nicht viel dazu beitragen, obgleich es sehr umfänglich wäre, wenn ich sie hier wiederzugeben versuchte.

Hingegen ist das ideologische Gewand, in dem dieses Es auftritt, im Zeitpunkt vor einer Erneuerung mit pflichtschuldigem Argwohn zu betrachten.

V

Es dürfte nicht viele Menschen geben, welche, direkt befragt, Nation mit Rasse gleichsetzen würden – alle Welt weiß schließlich, daß die Nationen Rassengemische sind –, aber merkwürdigerweise wird trotzdem im Leben immer wieder ganz unbefangen der Begriff der Rasse dem der Nation unterschoben, und es wird mit ihm hantiert, als wäre er so eindeutig wie der Begriff eines Würfels: darin liegt die Erscheinung, welche hier betrachtet werden soll. Es ist mir ferne, mich über die Rassenfrage verbreiten zu wollen, aber um zu ihrer ethischen Bedeutung zu gelangen, ist es allerdings nötig, an die theoretische Eigenart des Rassegedankens anzuknüpfen.

Wenn sich von einem bestimmten Augenblick ab die Tische durch Zeugung statt durch Bestellung vermehren würden, so würden wir alsbald aus den jetzt lebenden Tischen (und zwar mit der gleichen Evidenz, mit der wir in einem Friesen den Friesen erkennen) die Rassen der vierbeinig-rechteckigen, der einbeinig-ovalen und dergleichen mehr Tischrassen entstehen sehn. Es wäre gar nichts geschehn, als daß je zwei Tische einen dritten zeugten, der ihnen nach einem bestimmten Mischungsgesetz der Eigenheiten ähnelte und die Eigenschaft besäße, sich in der gleichen Weise weiter fortzupflanzen. Daß dabei ein Teil der Eigenschaften während mehrerer Generationen bloß in den Keimanlagen weitergereicht werden kann, ohne sonst in Erscheinung zu treten, ändert gar nichts daran, daß sich alles nur zwischen und an Individuen abspielt. Bei der ganzen Angelegenheit hat die Rasse nichts zu tun, als daß sie schließlich da ist, weil sie gar nirgends anders sein kann; so wie der Regen da ist, wenn Tropfen vom Himmel fallen. Sie selbst hat keine andere Möglichkeit, in das reale Sein einzutreten, als durch die Individuen, und keine andere[n] Wirkungen als die Wirkungen von Individuen; eine solche Existenz ist aber eben eine nur gedachte, ein Kollektivbegriff. Natürlich gibt es Rassen, aber die Individuen bilden die Rasse.

Ist das der Sachverhalt, so ist seine Umkehrung durchaus nicht berechtigt, und diese fast theologische Verdrehung lautet: das Individuum wird von Rassen gebildet. Bekanntlich ist gerade diese Formel die des Alltagsgebrauchs.

Es bleibt nach ihr von einem Menschen so wenig übrig wie von einem Strumpf nach Abzug der sich verkreuzenden Maschen. Meist mag es ja nur eine Bequemlichkeit der Verständigung sein, wonach ein Mensch zuerst durch seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe gekennzeichnet wird – kann es die Familie X sein, warum also nicht auch die germanische Rasse? –, und es klingt uns heute schon fast natürlich, wenn Bismarck sagt, »das Fällen von Bäumen ist kein germanischer, sondern ein slawischer Zug«, oder ein jüdischer Kritiker von Wassermanns Buch Mein Weg als Deutscher und Jude behauptet, »es ist für einen Juden unmöglich, ein rein deutscher Künstler zu werden«: trotzdem ist es gerade in den harmlosen Fällen ein gefährliches Zugeständnis an eine lasterhafte Denkgewohnheit. Man kennt ja jene Literatur, die sie verursacht hat und von ihr verursacht wurde. Sie hat nicht Schädelindizes, Augenfarbe und Skelettproportionen, was nur wenig Menschen anlockt, zum Gegenstand, sondern Eigenschaften wie religiösen Sinn, Rechtlichkeit, staatsbildende Kraft, Wissenschaftlichkeit, Intuition, Kunstbegabung oder Toleranz des Denkens, von denen wir insgesamt kaum anzugeben wissen, worin sie bestehn, und spricht sie mit Hilfe eines anthropologischen Küchenlateins den angeblichen Rassen zu oder ab, weil sie glaubt, der Nation Würde durchs Ohr flößen zu können, wenn sie mit der Stimme der Jahrtausende vor ihr bauchredet.

Man wird nicht leugnen können, daß ein gut Teil unseres nationalen Idealismus in dieser Denkkrankheit besteht.

Wohin das führen muß, ist nicht schwer zu sehen. Wenn im Guten und Bösen für alles nicht der einzelne verantwortlich gemacht wird, sondern die Rasse, wirkt das genau so, wie wenn man sich immer auf einen anderen ausredet; die Folge ist nicht nur, daß Wahrhaftigkeit und intellektuelle Feinheit abstumpfen, sondern eine Entartung aller Keimzellen der Moral. Wo die Tugend durch Prädestination zum Nationaleigentum erklärt wird, ist der Weinberg des Herrn expropriiert, und niemand braucht fortab in ihm zu arbeiten. Es wird dem einzelnen vorgeschmeichelt, er besitze alles Wünschenswerte, so er sich nur auf die Tugenden seiner Rasse besinne: offenbar ein moralisches Schlaraffenland, unser glückliches Deutschland, wo die gebratenen Tugenden ins Maul fliegen!

Schwieriger scheint sich erkennen zu lassen, woher es kommt. Man sagt Antisemitismus, aber das ist fast nur ein anderes Wort für die Erscheinung selbst; das Wesentliche ist, daß sich hinter ihr ein echter Idealismus birgt, ein typischer Fall jenes regressiven Ideenbedürfnisses, das jeden Gedanken auf ältere, ewige, für erhaben geltende zurückbezieht statt ihn auszudenken; kurz eben das, was hierzulande für Idealismus gilt. Das erzeugt den Menschen mit dem festen Rezept und den erhaben einfachen Regeln, der sich des geistigen Erlebens überhebt, den Pharisäer. Es ist bei uns ein sonderbares und äußerst gefährliches Verhältnis entstanden: die Respektlosigkeit vor dem Geist im Namen des deutschen Geistes. Weite – und fast möchte man sagen die bestwilligen – Kreise unseres Volks haben es verlernt, eine Leistung nach ihrem Gehalt zu empfinden, und prüfen sie nur nach ihrer Herkunft und darauf, wie sie ins System der Vorurteile paßt; es wird das Weite am Engen gemessen, der mannigfaltige Geist an einer seiner Ausgeburten; die Aufmerksamkeit hat sich von den Werten zu ihren Nebenumständen abgewendet, von der Wirklichkeit zur Hypothese, und es hat sich derer, die zu folgen berufen sind, eine sektiererisch anmaßende Besserwisserei bemächtigt. Da mit etwas so Urtümlichem, wie es die Rasse ist, überdies nur urtümliche Tugenden verknüpft sein können, werden schließlich auch die Geister, welche sich des gleichen Bluts berühmen dürfen wie ihre Richter, nicht mehr ans Ohr der Nation gelassen, falls sie nicht so schreiben wie Herr Walter Bloem oder so denken wie Herr Hilthy [= Carl Hilty?], also nicht treu, tapfer, keusch sind und mit weiteren fünf deutschen Indianertugenden ihr Auslangen finden. Auf diesem Wege des Idealismus ist der Rassengedanke zur deutschen Selbstbeschädigung geworden und saugt der Nation in jahrzehntelangem Mißbrauch das Mark aus.

VI

Unter allen ideologischen Bekleidungsstücken der Nation ist aber der Staat das leibhafteste. Fast möchte man schlechtweg sagen: er ist ihr Leib; aber er ist ja mehr, er ist ja leider fast auch ihre Seele. Siehe das alte kaiserliche Reich, siehe aber auch das neue Rußland. Er ist eine alle inneren Teile durch und durch wuchernde Schutzkapsel.

Es ist überaus merkwürdig, wie in der Geschichte des Denkens von den Griechen bis auf den heutigen Tag maßlose Hochstellung des Staates mit maßloser Tiefstellung fast in der Regelmäßigkeit von Pendelschwingungen wechseln. Er wird bald für die höchste menschliche Erziehungsanstalt oder den Inbegriff aller Güter angesehn, bald für den alles Höhere verschlingenden Leviathan, und wenn schon für unentbehrlich, so doch für ein unentbehrliches Übel. Es ist klar, daß so hartnäckige Widersprüche nicht nur theoretischer Natur sein können, sonst hätte sich im Lauf der Zeit, wie bei allen Verstandesfragen, ein Ausgleich herausgebildet. Sie erweisen sich auch als unabhängig von den großen Weltanschauungstypen; Hellas, das katholische Mittelalter und die Aufklärungszeit mußten gleichermaßen beiden Auffassungen in sich Raum geben. Da er nicht zu schlichten ist, hängt der Streit wahrscheinlich mit einem Gefühlsverhältnis zusammen; da er sich aber auch den tiefsten Unterschieden des Weltgefühls gegenüber als unbeeinflußbar erweist, dürfte er auf einen noch tieferen Unterschied hinabreichen; es liegt nahe, diesen in dem Gegensatz von Einzel- und Gesellschaftswesen zu suchen, der vor die Anfänge der menschlichen in die tierische Gesellschaft hinabreicht und von jedem in sich getragen wird. Jeder einzelne ist gespalten in Liebe und Haß der Gesellschaft gegenüber, wenn auch die Lebensumstände eines von beiden oft nicht bemerken lassen oder beide zur Gleichgültigkeit abschwächen.

Dieses widerspruchsvolle Verhältnis des Menschen zum Staat äußert sich nun auch in dem folgenden fürchterlichen Rechenexempel: Die einzelnen Menschen sind, wenn man auf die Übertreibungen der Rassenidee verzichtet, in den verschiedenen Staaten einander nahezu gleich; die Staaten sind, wenn man sie als Apparate miteinander vergleicht, auch nahezu immer dieselben – dennoch ergibt einzelne plus Staat jene vernichtenden Gegensätze, die sich in Kriegen entladen und zu Friedenszeiten in dem seltsamen Zeremoniell von Gesandtschaften, Noten, Empfängen und Demarchen äußern, das so genau dem ähnelt, nach welchem Hunde auf der Straße einander begegnen. Sucht man diesen Widerspruch, daß die gleichen Menschen, in gleicher Weise organisiert, einen dauernden Gegensatz bilden, aufzulösen, so kann seine Ursache nur in der Art der Organisation zu suchen sein. Schon die flüchtigste Prüfung unter dieser Fragestellung ergibt vor allem, daß der Staat so etwas wie eine verhärtete Haut ist, eine geschlossene Fläche, welche den größeren Teil der in ihrem Raum wirkenden Kräfte nach innen zurückwirft und nur den weitaus kleineren durchläßt; ein Isolator; Meinungsaustausch, Verkehr, geistige Organisation, kirchliche Gemeinschaft, selbst Sozialismus, dieser aller »Kraftfelder« sind außen sehr viel verdünnter als innen. Es kommt dies daher, daß nahezu nur der Staat wirksame »Organe« ausgebildet hat; die Nation hat ja fast keine; die, welche sie hat, sind der Staat. Deshalb denkt, fühlt, entscheidet, handelt er in den meisten Fällen für die einzelnen mit einer Generalprokura, die sich jeder Kontrolle entzieht; denn die Kontrolle ist, wenn man den Begriff des Staates nur in genügend weitem Sinn nimmt, wieder er selbst. Es bilden ja nicht nur die Regierung und die Exekutive diesen Apparat des sogenannten gemeinsamen Willens, sondern auch die Parteien und die Interessenvertretungen jeder Art; es besteht da ein durchgehendes, sozusagen histologisches Aufbaugesetz, wonach die Elemente der Organisation wieder nur Organisationen sind, und es wird anscheinend desto fühlbarer, je weiter ins Demokratische die Entwicklung geht. Demokratie ist nicht Herrschaft des Demos, sondern seiner Teilorganisationen.

Immer aber, wenn eine Gruppe für die einzelnen handelt, wird ein Rest zu finden sein, ein Opfer, eine Duldung; nur dann nicht, wenn ein starker Schwung, die Einstellung auf eine besondere Leistung, ein erregter Herzschlag sie wegspült, nicht zu Bewußtsein läßt. In so großen, inhomogenen, gealterten Gruppen, wie sie die Staaten sind, wird das nur in besonders gehobenen Augenblicken geschehn; gewöhnlich »drückt« der Staat den Menschen, wo er mit ihm in Berührung kommt. Man braucht also kein Antietatist zu sein und kann die große Bedeutung des Staates voll anerkennen, so bleibt es doch angesichts dieser Verhältnisse eine tatsachenwidrige Ideologie, in ihm den Vertreter der höchsten, weil allen gemeinsamen Güter zu sehn und ihm dafür eine Art Überwillen zuzusprechen oder ihn für irgendeine Art menschlicher Vervollkommnungsanstalt zu halten. Das ist ein Ideenrest aus der Zeit des Obrigkeitsstaats, der sich in die Sprüchlein der Erzieher des jungen Deutschen Reichs gerettet hatte und leider auf dem besten Wege ist, im Sozialismus wieder aufzuleben, dessen Ethik im Altruismus einer Brüderschaft steckenzubleiben scheint. Es ist auch ein Fall jenes »Überwälzungsidealismus«, der die Würde, die der Mensch für sein persönliches Leben nicht zu gewinnen vermag, auf dessen Hintergrund überträgt, auf die Rasse, auf seinen Kaiser, auf einen Verein, auf die Erhabenheit des Sittengesetzes oder sonst eine Tapete.

VII

Das gewöhnliche Verhältnis des einzelnen zu einer so großen Organisation, wie sie der Staat darstellt, ist das Gewährenlassen; überhaupt repräsentiert dieses Wort eine der Formeln der Zeit. Das Zusammenleben der Menschen ist so breit und dick geworden, und die Beziehungen sind so unübersehbar verflochten, daß kein Auge und kein Wille mehr größere Strecken zu durchdringen vermag, und jeder Mensch außerhalb seines engsten Funktionskreises unmündig auf andere angewiesen bleibt; noch nie war der Untertanenverstand so beschränkt wie jetzt, wo er alles schafft. Ob er möchte oder nicht, muß der einzelne gewähren lassen und tut nicht. Es ließ der Engländer und Amerikaner nicht die Kinder in Mitteleuropa verhungern, sondern er ließ es bloß zu, und wir selbst haben unseren Teil an den Greueln nicht getan, selbst wenn wir die Täter waren, sondern wir haben ihn bloß zugelassen. Wenn man das ändern will, muß man sich aber auch klarmachen, wie notwendig es ist. Wer glaubt – und es scheinen nicht wenig und gerade die eifrigsten Seelen zu sein –, daß da etwas statt durch kaltblütige Organisation von der Wärme des Herzens her zu richten wäre, der schlage an einem beliebigen Morgen seine Zeitung auf und lese, was es alles darin an einem einzigen Tag an Leid und Unglück gibt, das zu verhindern möglich wäre: und wenn er das alles nicht zulassen wollte, ja wenn er bloß die Fähigkeit besäße, es sich leibhaft deutlich zu machen, nein, nur so weit deutlich zu machen, wie es das Wort »mitfühlend« von jedem Menschen verlangt – er würde ein Narr werden! – Das aktive Gegenstück zu diesem Gewährenlassen ist die summarische, allgemeine, aktenmäßige Behandlung menschlicher Fälle; der Akt ist das Symbol der indirekten Beziehung zwischen Staat und Mensch. Er ist das geruch-, geschmack- und gewichtslos gewordene Leben, der Knopf, den man drückt, und wenn deshalb ein Mensch stirbt, so hat man es nicht getan, weil das ganze Bewußtsein von der schwierigen Handhabung des Knopfes erfüllt war; der Akt, das ist das Gerichtsurteil, der Gasangriff, das gute Gewissen unserer Peiniger, er spaltet den Menschen aufs unseligste in die Privatperson und den Funktionär, aber seine Indirektheit der Beziehung ist unter heutigen Verhältnissen eine anscheinend unentbehrliche Hygiene.

Der einfache Mensch korrigiert das darauf ruhende Mißgebilde, indem er stiehlt und auf belieb[ige] Weise die ihm gemachten Vorschriften hintergeht. In der Tat bleiben außerhalb dieses Systems eigentlich nur illegitime und fast als unerlaubt anrüchige Einflüsse: der freie Wirtschafts-, Meinungs- und Lebensverkehr. Es bilden sich immer wieder trotz aller Widerstände Gedanken, die schließlich der Entwicklung eine kleine Änderung geben; auf die verstaatlichte Kirche wirken Häretiker ein, auf den verstaatlichten Geist das freie Schrifttum, und vor allem sind es die Süchte, – darunter beherrschend und regelnd die nach dem Geld –, welche das menschliche Gegengewicht zur Organisation bilden. Sie sollten nicht nur angeklagt, sondern verstanden werden als das luziferische Korrektiv zu dem sehr unvollkommenen Gotte Staat. Augustinus schied zwischen dem Staat und der civitas dei, der Sphäre des Gottesreichs, wo sich der einzelne Mensch jedem Zugriff der Allgemeinheit entzieht. Heute stürzt sich die civitas dei ins Kino, gibt die Existenz hin für den Jimmy und schiebt mit Devisen unbekümmert den Staat an den Rand des Grabs. Das ist natürlich Entartung; es ist aber wichtiger, sich einzugestehn, daß es nach der anderen Seite bloß Kehrseite des Staates ist, etwas in seinem Wesen Begründetes, das in den Dombau eingemauerte spukende Menschenopfer.

Die Existenz der Nation war weder als Rasse noch in der Form des Staates zu finden; in diesen beiden hat man sie aber tatsächlich gesucht: der deutsche Gedanke stützte sich entweder auf Rassenphantasien oder auf eine Aufopferungsphilosophie für die Summe aller Summen, welche der Staat sein sollte, fast auf eine Art individueller Erbsündigkeit, die nur durch das Aufgehen im Ganzen abgelöst werden könne. Es blieb außerhalb dieser beiden als Drittes die civitas dei, und ihr entspricht als dritte der Fassungen, eben schon berührt, die Nation als Geist. Unsere Ciceros sagen: die überpersönlichen ideellen Güter, der Gemeinschaftsgeist, die dem gemeinsamen Willen entsprossenen Einrichtungen, die gemeinsame Kulturtradition (worin der Komplex Staat nur einen Teil ausmacht) integrierten die Nation. Ohne das leugnen zu müssen, was viel Richtiges enthält, ist es erlaubt, dem ein doch wohl richtigeres Bild entgegenzustellen. Welcher Geist ist denn etwa einer Universität mit einem Zuchthaus gemeinsam – und es sind doch zwei Anstalten, in denen heute die Exponenten der beiden am stärksten entwickelten Tüchtigkeiten stecken? Welcher Geist Herrn Anton Wildgans mit Nietzsche? Gewiß einer, aber das wird so schwer festzustellen sein, daß man ihn besser beiseite läßt. Man achte lieber darauf, daß es da zuhauf viele Millionen Einzelner gibt, die innerhalb eines recht auseinanderklaffenden Zeitraums den Kopf in eine Welt gesteckt haben, welche sie dem Grad und der Art nach sehr verschieden verstehen, von der sie ganz Verschiedenes wollen, von der sie nicht viel mehr sehen als den Faden ihres Erwerbs und einen großen, beziehungslosen Lärm hören, in dem hie und da etwas anklingt, das sie die Ohren spitzen macht. Diese ungeheure, ungleichartige Masse, der sich nichts ganz eindrücken kann, die sich nicht ganz ausdrücken kann, deren Zusammensetzung täglich ebenso wechselt wie die der sie treffenden Reize, diese zwischen fest und flüssig schwankende Masse, Nicht-Masse, dieses Nichts ohne feste Gefühle, Gedanken und Entschluß ist, wenn auch nicht die Nation, so doch die ihr Leben eigentlich erhaltende Substanz.

Von ihr selbst wird jene ideelle Einkleidung als ein falsches »Wir« empfunden. Es ist ein Wir, dem die Wirklichkeit nicht entspricht. Wir Deutsche, das ist die Fiktion einer Gemeinsamkeit zwischen Handarbeitern und Professoren, Schiebern und Idealisten, Dichtern und Kinoregisseuren, die es nicht gibt. Das wahre Wir ist: Wir sind einander nichts. Wir sind Kapitalisten, Proletarier, Geistige, Katholiken . . . und in Wahrheit viel mehr in unsere Sonderinteressen und über alle Grenzen weg verflochten als untereinander. Der deutsche Bauer steht dem französischen Bauern näher als dem deutschen Städter, wenn es darauf ankommt, was reell ihre Seelen bewegt. Wir – jede Nation für sich allein – verstehen einander wenig und bekämpfen oder betrügen uns wo wir können. Unter einen Hut sind wir allerdings dann zu bringen, wenn er auf dem Kopf einer anderen Nation eingetrieben werden soll; dann freilich sind wir beseligt und haben ein mystisches Gemeinsamkeitserlebnis; aber man darf annehmen, daß die Mystik dieses Erlebnisses darin besteht, daß es so selten für uns eine Realität ist. Noch einmal: das gilt ebensogut für die anderen wie für uns Deutsche; aber wir Deutsche haben in unseren Krisen den unschätzbaren Vorteil, daß wir die wahre Zusammensetzung deutlicher erkennen können als sie, und auf diese Wahrheit sollten wir unser Vaterlandsgefühl aufbaun und nicht auf die Einbildung, daß wir das Volk von Goethe und Schiller oder von Voltaire und Napoleon sind.

Es bleibt immer und zu allen Zeiten ein Gefühl mangelnder Deckung zwischen öffentlichem und eigentlichem Leben; kann aber überhaupt irgend etwas von öffentlichem Geschehen dessen wahrer Ausdruck sein? Bin denn selbst ich Einzelner das, was ich tue, oder ist es ein Kompromiß zwischen unartikulierten Kräften in mir und bereitstehenden, umformenden Formen für die Verwirklichung? Beim Verhältnis zum Ganzen gewinnt diese kleine Differenz vertausendfachte Bedeutung. Eine unnatürliche Interessenverknüpfung kann außer durch träges Beharren nur durch gemeinsames Interesse an der Gewalt gegen andre zusammengehalten werden, es muß nicht gerade die Gewalt des Kriegs sein. Wenn man aber sagt, in den Zeiten von Kriegsausbrüchen seien Massensuggestionen im Spiel, so ist das nur als das Zerbersten einer Ordnung an ihren ungewollten vernachlässigten Spannungen zu verstehn. Dieser explosive Aufschwung, mit dem sich der Mensch befreite und, in der Luft fliegend, sich mit seinesgleichen fand, war die Absage an das bürgerliche Leben, der Wille lieber zur Unordnung als zur alten Ordnung, der Sprung ins Abenteuer, mochte es noch so moralische Namen erhalten. Der Krieg ist die Flucht vor dem Frieden.

VIII

Gerade gesprochen, ist die Nation eine Einbildung, in allen Fassungen, die man ihr gab.

Es fällt nicht leicht, sich das einzugestehn in einer Zeit, wo andere Nationen sich in ihrer Illusion blähen und uns Menschen deutscher Sprache die Solidarität der Entrechtung, Ausbeutung und Verschleppung in Sklaverei auferlegt haben. Man wird daher einwerfen, selbst wenn Vaterlandsgefühl, Nation und dergleichen nur Illusionen sein sollten, so bliebe dies doch jetzt besser verschwiegen. Unabhängig davon, ob es eine Nation gibt oder nicht, hat die Annahme, daß es sie gebe, einen Wert, ja gerade, weil nicht geleugnet werden kann, daß es in der Praxis mit der Einheitlichkeit der Nation nicht weit her sei, könne gar nicht suggestiv genug von ihrem Vorhandensein gesprochen werden. Es werden das besonders jene sagen, welche in der Nation ein Ideal sehen, das nur in ferner Zukunft verwirklicht werden kann und von Zeit zu Zeit dem Volk gezeigt werden muß, damit es dieses läutere. Aber ein Ideal wie dieses, das sich in Wirklichkeit zu einer läuternden Suggestion sozusagen nur an Feiertagen entfaltet hat und bei Gelegenheiten vom Rang einer Mobilisierung, hat das gleiche Verhältnis zum Menschen wie ein Haus, in dem ein Mann nur alle Schaltjahrspfingsten schläft, während er es sonst vorzieht, auf der sumpfigen Wiese daneben zu schlafen; etwas, das so wirkt, kann nicht unbedingt gut und geeignet sein.

Ja, man kann sagen, alles, was wir bisher sehen mußten, war eigentlich nur ein Spezialfall eines falschen Gebrauchs vom Idealen! So wie die Annahme einer Rasse nicht progressiv aufgefaßt wurde als etwas, worauf man zielen kann, sondern regressiv als ein mystischer Fetisch, wurde der Staat erhöht, indem man ihn dem Verlangen entrückte, ihn für respektlos verbesserbar wie eine Wohnungseinrichtung zu halten, und es wurde der Begriff der Nation nicht institutiv als etwas zu Bildendes zugegeben, sondern konstitutiv als etwas Vorhandenes behauptet, das sich bloß nicht rein äußert. Das ist ein Gebrauch, den wir von allen unseren Idealen machen, wahrscheinlich Rest aus Zeiten, wo es noch schwer war, den einfachsten Regeln Beachtung anders zu schaffen, als indem man sie für tabu erklärte. Dieses prähistorische Tabugepräge trägt noch heute unsere Ethik. Wir stabilisieren unsere Ideale wie die platonisch-pythagoräischen Ideen, unverrückbar und unveränderlich, und wenn die Wirklichkeit ihnen nicht folgt, so sind wir imstande, dies gerade als das Kennzeichnende der Idealität anzusprechen, daß die Wirklichkeit nur ihre »unreine« Verwirklichung ist. Der schwer berechenbaren Kurve des Seins bemühen wir uns das starre Vieleck, das durch unsere moralischen Fixpunkte geht, zu unterlegen, indem wir in immer neuen Ecken die Geradheit unserer Grundsätze brechen, ohne doch je die Kurve zu gewinnen. Mag sein, daß das innere Leben ein ebensolches Bedürfnis nach festen Beziehungspunkten hat wie das Denken; aber als Ideale haben uns diese dahin geführt, wo es weiter kaum mehr geht, da man – wie jedermann weiß – jedem Ideal so viele Einschränkungen und Widerrufe auferlegen muß, um es der Wirklichkeit zu nähern, daß kaum noch etwas von ihm übrigbleibt. Wenn ein weißer Grund ganz von dunklen Flecken bedeckt ist, wird der Augenblick kommen, wo man mit einem dunklen Grund und weißen Flecken in Gedanken arbeitet; auf ethischem Gebiet ist man noch weit davon. Dieses »Paktieren« mit der Wirklichkeit ist leider gerade das Gegenteil von dem, worin unsere Idealisten die Idealität erblicken. Ich nenne es Idealismus, die Wirklichkeit nach Ideen zu formen (und nur in zweitem Grade Idealismus, den durchgesetzten Ideen zu folgen so lange, bis die nächste Verwirklichungsstufe erreicht ist); wenn daher das Leben einem System von Idealen nicht folgt, so vermag ich in ihnen nicht viel Idealismus zu erkennen. Man sehe nur endlich ein, daß das Leben nicht aus Unfolgsamkeit nicht folgt, wie in der Schule, sondern daß die Fehler bei den Idealen liegen müssen.

Eine Moral, die heute nicht bloß ein Flickwerk sein will – meinethalben eine bloß »zivilisatorische« Moral mit Verzicht auf den schönen Atavismus Kultur, dessen Widerlegung man sich beiläufig aus dem Vorhergehenden ableiten kann –, muß sich auf der Ungestalt aufbaun, welche die europäische Zivilisation und das ungeheure Wachstum ihrer Beziehungen dem Menschen gegeben haben. Ich glaube, daß das seit 1914 Erlebte die meisten gelehrt haben wird, daß der Mensch ethisch nahezu etwas Gestaltloses, unerwartet Plastisches, zu allem Fähiges ist; Gutes und Böses schlagen bei ihm gleich weit aus, wie der Zeiger einer empfindlichen Waage. Es wird voraussichtlich damit noch ärger werden, und die Menschen werden den heute um sie gelegten, ohnedies halb ohnmächtigen ethischen Klammern immer mehr entgleiten. Denn man darf sich den Menschen wohl ursprünglich als ein Geschöpf denken, das ebenso gern gut wie bös ist, nämlich sozial wie egoistisch (beiseite gelassen, ein wie großer Einschlag von Egoismus noch zum Sozialen gehört); aber die Interessen, in welche er heute verflochten wird, sind zu viele, und die Undurchdringlichkeit um ihn, die ungenügende geistige Reizleitungsfähigkeit des sozialen Körpers bringt es mit sich, daß im Augenblick jeder Handlung immer nur ein kleiner Bruchteil der möglichen ethischen Determinanten auf ihn einwirkt. Darum hat heute jedes ethische Geschehen, wenn es wirklich erlebt wird, »Seiten«; nach der einen ist es gut, nach der anderen bös, nach einer dritten irgend etwas, von dem erst recht nicht feststeht, ob es gut oder bös ist. Gut erscheint nicht als Konstante, sondern als variable Funktion. Es ist einfach eine Schwerfälligkeit des Denkens, daß wir für diese Funktion noch keinen logischen Ausdruck gefunden haben, der dem Bedürfnis nach Eindeutigkeit genügt, ohne die Vieldeutigkeit der Tatsachen zu drücken; die Sittlichkeit wird so wenig an ihm zusammenbrechen wie die Mathematik daran gestorben ist, daß die gleiche Zahl das Quadrat zweier verschiedener Zahlen sein kann.

IX

Diese Moral, die unsren Tatsachen gewachsen wäre, haben wir natürlich nicht. Immerhin fordert schon das Bewußtsein des Übergangs, weder Staat noch Nation als Ideale zu behandeln, sondern einfach als Gegenstände, welche ihren Zwecken zu entsprechen haben. Über diese Zwecke, welche sich mit der Zeit ändern, kann aber kein einzelner Bindendes sagen, außer: man überlasse es der Zivilisation, sie aus sich selbst zu entwickeln. Das heißt aber, wenn man in menschlichen Angelegenheiten den richtigen optimistischen Pessimismus hat – und weder glaubt, daß mit Mythos, Intuition und Klassizität einem Geschlecht von Maschinenbauern und ‑händlern zu helfen ist, noch die Kräfte übersieht, welche sogar in den Mißbräuchen dieser Zivilisation toben –, es den Menschen selbst zu überlassen, soweit es nur irgend mit dem Zusammenleben verträglich ist, sich ihren Weg für sich zu suchen und ihren eigenen Interessen zu folgen. Es ist das ein Prinzip, das wir doch schon in der Kinderschule anwenden, weil sich gezeigt hat, daß man dadurch bessere Schüler erzieht, und das wir nur endlich einmal auf die Mündigen zu übertragen brauchten. Proletarier, Kapitalisten, Ichthyologen, Maler und so weiter, das sind schon heute die natürlichen Weltverbände, die in sprachlich nationalem Zusammenschluß eigentlich bloß einen Unterverband darstellen. Die Auffassung, daß das Wirtschaftsleben eine internationale Einheit bildet, und daß staatsegoistische Wirtschaftspolitik statt Arbeitsorganisation im großen treiben, eine kurzsichtige Schikane darstellt, beginnt sich langsam durchzusetzen; braucht man Beweise für die tatsächlich bestehende Internationalität der geistigen Interessen hinzuzufügen? Diplomatische Konferenzen zwischen den Staaten über den Abbau ihrer Gegensätze weisen ein derart lächerliches Mißverhältnis zwischen Erfolg und Aufwand auf, daß man wirklich auf die Idee kommen muß, diese Organisationen seien nicht geeignet, die Entwicklung über den bisher erreichten Zustand hinauszuführen, und der Völkerbund in seiner jetzigen Form eines Staatskonviviums erweist sich immer mehr als eine Groteske. Den Staat abzuwerfen, gelänge aber nur durch die Weltrevolution: ist das Programm für das Leben nach diesem Tode der alten Ordnung fertig, oder erwartet man nicht fast, daß durch recht langes revolutionäres Denken die Evolution einem die Verantwortung der Entscheidung abnehmen werde? Einer natürlichen Gliederung der menschlichen Gesellschaft steht aber nichts ärger im Weg als die Überhebung der beiden Ideale Nation und Staat über den Menschen. Es bleibt nichts übrig, als an der Verstärkung des an ihnen sich vorbei Entwickelnden zu arbeiten und den Gedanken an ihre Überholtheit zu wecken und wach zu erhalten.

Man kann einwenden, daß überall dort, wo internationale Verbindungen sich zur Bedeutung durchkämpfen, schwerste materielle Interessen hinter ihnen stehn, und daß jede Organisation, da sie großer Mittel bedarf, auch nur dort zustande kommen kann, wo ein großer materieller Erfolg im Spiel steht. Man braucht ferner nur einen Blick auf die innere Politik zu werfen, um zu sehen, wie alles Ideelle nicht geht, wie nur die dicksten Interessen die Menschen zusammenzuhalten vermögen, und wie lästerlich gepaart in unsren politischen Parteien sich gealterte Ideenschönheiten von stofflichen Bedürfnissen aushalten lassen. Man sagt sich endlich, daß selbst die innere Rechtsordnung, welche der Ursprung jeder Zivilisation ist, nur durch eine sie ursprünglich setzende Gewalt geschaffen werden konnte, und daß sich auch im Bolschewismus die Gewalt zur Trägerin der Idee machen zu müssen glaubt. Möglich, daß auch die Seite einer zeitgemäßen Lebensform, von der hier die Rede ist, nicht ohne Gewalt zu erreichen sein wird. Aber Ideen weisen der Zukunft überhaupt nicht den Weg, sondern nur die Richtung; sie sind Netze, die einfangend über die Zukunft geworfen werden, von der sie immer zum Teil und nie ganz zerrissen werden. Welche Zukunft haben wir denn? Uns mit der Zeit über erlittene Unbill durch Wiederdickwerden zu trösten? Revanche, ohne die uns entrückten weltpolitischen Ziele? Oder: ein weltpolitisches Ziel zu schaffen! Bei Kriegsausbruch hat die Kirche versagt, hat der Sozialismus versagt, beide unter dem Druck einer Entweder-oder-Ideologie, die eine Aberideologie war. Das Volk, welches am frühsten beginnt, aus der Sackgasse des Imperial-Nationalismus herauszufinden zu einer neuen möglichen Weltordnung und allen seinen Maßnahmen diesen Atem der Zukunft zu leihen vermag, wird bald die Führung der Welt haben und seine berechtigten Wünsche durchsetzen können. Heute kann niemand noch den Weg dahin im einzelnen vorzeichnen; wohl aber gilt es, die Gesinnung zu schaffen, die auf den Weg führt.


Das hilflose Europa

oder: Reise vom Hundertsten ins Tausendste

[1922] Zitiert aus dem Projekt Gutenberg

Der Autor ist bescheidener und weniger hilfsbereit als der Titel glauben macht. Ich bin nicht nur überzeugt, daß das, was ich sage, falsch ist, sondern auch das, was man dagegen sagen wird. Trotzdem muß man anfangen, davon zu reden; die Wahrheit liegt bei einem solchen Gegenstand nicht in der Mitte, sondern rundherum wie ein Sack, der mit jeder neuen Meinung, die man hineinstopft, seine Form ändert, aber immer fester wird.

1

Ich beginne mit einem Symptom.

Zweifellos machen wir seit zehn Jahren Weltgeschichte im grellsten Stil und können es doch eigentlich nicht wahrnehmen. Wir sind nicht eigentlich geändert worden; ein bißchen Überhebung vordem, ein bißchen Katzenjammer nachdem; wir waren früher betriebsame Bürger, sind dann Mörder, Totschläger, Diebe, Brandstifter und ähnliches geworden: und haben doch eigentlich nichts erlebt. Oder ist es nicht so? Das Leben geht doch genau so dahin wie früher, bloß etwas geschwächter und mit etwas Krankenvorsicht; der Krieg wirkte mehr karnevalisch als dionysisch, und die Revolution hat sich parlamentarisiert. Wir waren also vielerlei und haben uns dabei nicht geändert, wir haben viel gesehen und nichts wahrgenommen.

Darauf gibt es, glaube ich, nur eine Antwort: Wir besaßen nicht die Begriffe, um das Erlebte in uns hineinzuziehn. Oder auch nicht die Gefühle, deren Magnetismus sie dazu aktiviert. Zurückgeblieben ist nur eine sehr erstaunte Unruhe, ein Zustand, als hätten sich vom Erlebnis her Nervenbahnen zu bilden begonnen und wären vorzeitig abgerissen worden.

Eine Unruhe. Deutschland wimmelt von Sekten. Man blickt nach Rußland, nach Ostasien, nach Indien. Man klagt die Wirtschaft an, die Zivilisation, den Rationalismus, den Nationalismus, man sieht einen Untergang, ein Nachlassen der Rasse. Alle Wölbungen sind vom Krieg eingedrückt worden. Selbst der Expressionismus stirbt. Und das Kino ist am Vormarsch (Rom vor dem Untergang).

In Frankreich, in England, in Italien – soweit man es als Nichtspezialist bei unsrem sehr schlechten Nachrichtendienst beurteilen kann – scheint die Unsicherheit nicht geringer zu sein, mögen auch die Einzelerscheinungen abweichen.

2

So sieht also Weltgeschichte in der Nähe aus; man sieht nichts.

Freilich wird man einwenden, man sei zu nah. Das ist aber ein Gleichnis. Hergenommen vom Gesichtssinn; man kann zu nah an einem Ding sein, um es überblicken zu können. Kann man aber zu nah an einer Erkenntnis sein, um sie fassen zu können? Das Gleichnis stimmt nicht. Wir wüßten genug, um uns ein Urteil über Gegenwärtiges und Jüngstvergangenes zu bilden, wir wissen jedenfalls mehr, als spätere Zeiten wissen werden. Eine andre Wurzel des Gleichnisses heißt, noch zu beteiligt sein. Aber wir waren ja gar nicht beteiligt?

Die berühmte historische Distanz besteht darin, daß von hundert Tatsachen fünfundneunzig verlorengegangen sind, weshalb sich die verbliebenen ordnen lassen, wie man will. Darin aber, daß man diese fünf nun ansieht wie eine Mode von vor zwanzig Jahren oder ein lebhaftes Gespräch zwischen Menschen, die man nicht hört, bekundet sich die Objektivität. Man erschrickt über die Groteskheit menschlicher Handlungen, sobald sie nur ein wenig ausgetrocknet sind, und sucht sie aus allen Umständen zu erklären, die man nicht selbst ist, das ist aus den historischen.

Historisch ist das, was man selbst nicht tun würde; der Gegensatz dazu ist das Lebendige. Wenn unsre Zeit eine »Epoche« wäre, so dürfte man wohl fragen, ob wir uns am Anfang, am Ende oder in der Mitte befinden? Wenn es einen gotischen Menschen mit einer Vor-, Früh-, Hoch- und Spätzeit gegeben hat: in welcher Lage zu seinem Zenith befindet sich der moderne? Wenn es eine deutsche oder eine weiße Rasse gibt: in welcher biologischen Phase? Soll solcher Auf- und Niedergang nicht nur eine nachträgliche und recht billige Feststellung sein, so müßte man ein symptomatologisches Bild davon haben, wie solche Auf- und Niedergänge im allgemeinen aussehn. Das wäre eine andre Objektivität, aber daran fehlt es noch weit. Und vielleicht sind die lebendigen historischen Tatsachen gar nicht eindeutig, sondern erst die toten? Am Ende ist die lebendige Geschichte gar keine Geschichte, nämlich nichts, das sich mit den historischen Vulgärkategorien einfangen ließe?

Es ist da nämlich ein merkwürdiges Gefühl von Zufall mitbeteiligt.

3

Es ist ein sehr aktuelles Gefühl von Zufall mit bei allem, was geschah. Es hieße den Glauben an die Notwendigkeit der Geschichte doch beträchtlich überspannen, wollte man in allen Entscheidungen, die wir erlebt haben, den Ausdruck einer einheitlichen Bedeutung sehn. Leicht vermag man hinterdrein im Versagen der deutschen Diplomatie oder Feldherrnkunst zum Beispiel eine Notwendigkeit zu erkennen: aber jeder weiß doch, daß es ebensogut auch anders hätte kommen können, und daß die Entscheidung oft an einem Haar hing. Es sieht beinahe aus, als ob das Geschehen gar nicht notwendig wäre, sondern die Notwendigkeit erst nachträglich duldete.

Ich will nicht Philosophie treiben – Gott behüte mich, in einer so seriösen Zeit –, aber ich muß an den berühmten Mann denken, der unter dem berüchtigten Dach vorübergeht, von dem der Ziegel fällt. War das notwendig? – Gewiß ja und gewiß nein. Daß der berühmte Ziegel sich lockerte, und daß der berüchtigte Mann vorbeikam, trug sich – wollen wir sagen, unter Nachlaß der Lehre vom freien und unfreien Willen, bei der sich die ganze Geschichte noch einmal wiederholt – ganz gewiß mit Gesetz und Notwendigkeit zu; daß aber beides just zur selben Zeit geschah, tat es nicht, wenn man nicht an den lieben Gott glaubt oder an das Walten einer noch höheren Vernunft in der Geschichte. Weshalb man die Unglücksfälle zwar aus Gott oder einer Ordnung ableiten kann, aber nicht Gott oder die Ordnung aus den Unglücksfällen.

Schlicht gesagt: Was man geschichtliche Notwendigkeit nennt, ist bekanntlich keine gesetzliche Notwendigkeit, wo zu einem bestimmten p ein bestimmtes v gehört, sondern ist so notwendig, wie es die Dinge sind, »wo eins das andere gibt«. Gesetze mögen schon dabei sein – etwa der Zusammenhang geistiger Entwicklungen mit wirtschaftlichen oder der Stellungsfaktor in der bildenden Kunst –, aber doch ist immer auch etwas dabei, das so nur einmal und diesmal da ist. Und nebenbei bemerkt, zu diesen einmaligen Tatsachen gehören zum Teil auch wir Menschen.

4

Das Weltbild verliert dadurch an sogenannter Erhabenheit. Trösten wir uns durch einen Ausblick.

Ein grüner Jäger schießt im grünen Wald den braunen Hirsch. Versuchen wir, das rückgängig zu machen. Die Kugel fuhr aus dem Gewehr, der Blitz folgte, der Donner kam nach, der Hirsch brach ein, fiel zur Seite, sein Geweih prallte auf, dann lag er da. Rückfahrt: Der Hirsch richtet sich auf – aber er dürfte nicht aufstehn, sondern müßte in die Höhe »fallen«, sein Geweih müßte zuvor einen Spiegeltanz der Bewegungen des Aufprallens ausführen, und er müßte mit der Endgeschwindigkeit beginnen, aber mit der Anfangsgeschwindigkeit enden. Die Kugel müßte mit dem breiten Ende voran zurückfliegen, die Pulvergase müßten sich mit einem Knall in fester Form niederschlagen, und so weiter. Um auch nur einen Schritt davon zurückzunehmen, genügte nicht das Rückgängigmachen des Geschehenen, sondern man müßte dazu die umfänglichsten Vollmachten zum Umbau der gesamten Welt haben. Die Schwerkraft müßte nach aufwärts wirken, in der Luft müßte eine Vertikalebene aus Erde sein, die Ballistik müßte sich in einer ganz unausdenkbaren Weise ändern, kurz, wenn man eine Melodie von hinten nach vorn spielt, so ist es keine Melodie mehr, und man müßte Zeit und Raum erschüttern, damit das anders würde.

In Wahrheit muß, um auch nur einen erschossenen Hirsch wieder auf die Beine zu bringen, etwas ganz Neues geschehn, nicht bloß eine Umkehrung und Wiedergutmachung! Die Welt ist voll eines unbändigen Willens zum Neuen, voll einer Zwangsidee des Andersmachens, des Fortschritts!

5

Es gibt Leute, welche sagen, wir haben die Moral verloren. Andere sagen, wir haben die Unschuld verloren und uns mit dem Apfel im Paradiese die störende Intellektualität einverleibt. Wieder andre sagen, daß wir durch die Zivilisation hindurch zur Kultur gelangen müßten, wie sie die Griechen hatten. Und so mehreres.

6

Eine historische Betrachtungsweise, welche das Geschehen in aufeinanderfolgende Epochen zerlegt und dann so tut, als entspräche jeder ein bestimmter historischer Typus Mensch – also etwa der griechische oder der gotische oder der moderne –, und ferner so tut, als gäbe es da einen Auf- und Abstieg (etwa also der frühgriechische – der griechische – der hochgriechische – der spät- und verfallsgriechische – der nichtgriechische Mensch), und es wäre da etwas aufgeblüht und verwelkt, nicht bloß eine Entfaltung, sondern ein Wesen, das sich entfaltete, eine Menschenart, eine Rasse, eine Gesellschaft, ein real wirkender Geist, ein Mysterium: eine solche Betrachtungsweise, die heute nicht nur in der Essayistik üblich ist, sondern vielfach auch in der historischen Forschung selbst, arbeitet mit einer Hypothese.

Gegeben ist von der ganzen Sache nur das Phänomenale; eine bestimmte Art von Bauten, Dichtungen, Bildwerken, Handlungen, Ereignissen, Lebensformen und ihr deutliches Beisammensein und Zueinandergehören. Daß dieses phänomenale Substrat einer bestimmten Zeitspanne, Epoche, Kultur auf den ersten Blick als eine einmalige Einheit erscheinen mag, die nur dann und dort auftrat, hindert nicht zu bemerken, daß dies nicht ganz richtig ist; orientalische Lebenselemente wirken bekanntlich ins Hellenische hinein, und hellenische durchsetzen das Leben bis auf den heutigen Tag. Im Gegenteil, ähnliche Lebensäußerungen (und in der Geschichte handelt es sich ja doch nur um Ähnlichkeiten und Analogien) bilden durchaus, über Zeit und Ort verteilt, ein Kontinuum, das sich nur an bestimmten Stellen auffallend verdichtet, man könnte fast sagen, an bestimmten Umständen niederschlägt.

Ein solches phänomenales Bild erinnert den, der mit der statistischen Seite der äußeren oder inneren Natur ein wenig zu tun gehabt hat, an die Verschränkung einer dauernden, sagen wir ganz allgemein Determinante mit wechselnden, und ist die menschliche Konstitution diese dauernde Determinante, so kann sie nicht zugleich die Ursache der verschiedenen Epochen, Gesellschaften und dergleichen sein – im Sinne von tatsächlich wirkenden Wesenheiten genommen, und nicht bloß als harmlos deskriptive Sammelausdrücke –, sondern die Ursachen müssen in den Umständen liegen.

Die Botanik unterscheidet z. B. in einem so kleinen Land wie Niederösterreich ungefähr dreitausend Formen der wilden Rose und weiß nicht, ob sie diese in dreihundert oder in dreißig Arten zusammenfassen soll; so unsicher ist die Vorstellung von dem, was eine Art ist, selbst dort, wo so viele eindeutige Merkmale zur Verfügung stehn. Die Geschichte hingegen sollte es sich mit so durchaus nicht eindeutigen und so gewiß nicht »wesentlichen« Merkmalen zu tun vermessen, wie es die komplizierten Erscheinungen von Bauten, Werken und Lebensformen sind? Es handelt sich bei solchen Bedenken nicht darum, die phänomenale Existenz verschiedener Epochen zu leugnen, und in gewissem Sinn liegt auch jeder ein andrer Mensch zugrunde: aber es handelt sich um diesen Sinn!

7

Der Mensch hat sich seit 1914 als eine überraschend viel bildsamere Masse erwiesen, als man gemeinhin annahm.

Aus religiösen, moralischen und politischen Gründen hatte man vordem eine solche Erkenntnis nie recht wahrhaben wollen. Ich erinnere mich noch recht gut des sympathischen Aufsatzes eines repräsentativen deutschen Dichters, in dem dieser darüber staunte, daß der Mensch doch nicht so sei, wie er ihn, sondern so bös wie Dostojewski ihn gesehen habe. Andre mögen sich vielleicht der Bedeutung erinnern, welche in unsren Moralsystemen dem »Charakter« zukommt, das ist der Forderung, daß der Mensch mit sich als mit einer Konstanten rechnen lasse, während eine kompliziertere moralische Mathematik nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich nötig ist: Von einem Denken, das an die Fiktion des konstanten seelischen Habitus gewöhnt ist, ist der Schritt zur Annahme des Typus, der Epoche und dergleichen nicht weit.

Diese starre Einteilung widerspricht jedoch den Erfahrungen der Psychologie und unsres Lebens. Die Psychologie zeigt, daß die Phänomene vom übernormalen bis zum unternormalen Menschen stetig und ohne Sprung sich aneinanderbreiten, und die Erfahrung des Kriegs hat es in einem ungeheuren Massenexperiment allen bestätigt, daß der Mensch sich leicht zu den äußersten Extremen und wieder zurück bewegen kann, ohne sich im Wesen zu ändern. Er ändert sich, aber er ändert nicht sich.

8

Die Formel für diese Erfahrungen müßte ungefähr lauten: Große Amplitude der Äußerung, kleine im Innern. Es gehört gar nicht so viel dazu, um aus dem gotischen Menschen oder dem antiken Griechen den modernen Zivilisationsmenschen zu machen. Ein kleines, dauernd in einer bestimmten Richtung wirkendes Übergewicht von Umständen, von Außerseelischem, von Zufälligkeiten, Hinzugefallenem genügt dafür. Dieses Wesen ist ebenso leicht fähig der Menschenfresserei wie der Kritik der reinen Vernunft. Man soll nicht immer denken, daß es das tut, was es ist, sondern es wird das, was es – aus Gott weiß welchen Gründen – tut. Die Leute machen sich ihre Kleider, aber auch die Kleider machen Leute, und die Physiognomie ist eine unter dem Druck von innen und außen bewegliche Membran.

Es soll damit natürlich nicht der Unterschied zwischen primitiven Kulturen und entwickelten Gesellschaften geleugnet sein; er liegt in einer größeren Versa[ti]lität des Gehirns, die sich nur durch Generationen entwickelt – aber genau so wie das Kinn zurücktritt und der Gang aufrecht wird, nämlich als ein wirklicher physiologischer Unterschied, funktionell bedingt –, während es gar keinen funktionellen Unterschied ausmacht, ob man sein Gehirn aristotelisch oder kantisch turnen läßt. Wenn man Aufstieg, Höhe, Verfall einer bestimmten Menschenart oder Gesellschaft ohne solche Einschränkungen annimmt, so verlegt man das Entscheidende und Treibende zu sehr ins Zentrum; man muß es mehr, als es gewöhnlich geschieht, an der Peripherie suchen, bei den Um-ständen, beim »Ans-Ruder-Kommen« bestimmter Menschen- oder Anlagengruppen innerhalb eines im ganzen ziemlich gleichen Gemischs, beim Zufall oder, richtiger gesagt, bei der »ungesetzlichen Notwendigkeit«, wo eins das andre gibt, nicht zufällig, aber doch in der durchreichenden Aneinanderkettung von keinem Gesetz beherrscht.

(Um ein Beispiel zu geben: Wir wären ja wohl imstande, mit unsrer technischen und kommerziellen Organisation einen gotischen Dom in ein paar Jahren, und wenn es auf den Rekord ankäme, mit neuen Arten von Gilbrethgerüsten und »wissenschaftlicher Betriebsführung« in Wochen zu bauen. Er würde einheitlich nach einem Plan aufschießen, und wenn wir dazu selbst einen Originalplan verwendeten, würde es eine kahle Arbeit bleiben, weil die Zeit dabei fehlt, der Wechsel der Generationen, die Inkonsequenz, das organisch Gewordene, welches eben das unorganisch Zustandegekommene ist, und dergleichen. Die befremdlich lange Dauer von Willensimpulsen, die im Ausdruck der gotischen Seele liegt, entsteht so aus der langsamen, festhalten müssenden Technik der Verwirklichung, und Technisches, Kaufmännisches, Geistiges, Politisches verwirrt sich zu einem tausendfachen Gestrüpp von Ursachen schon in diesem einen Beispiel, wenn man es weiter verfolgt.)

9

Man nimmt häufig an, daß ein Hang zu solcher Betrachtungsweise grob mechanistisch, zivilisatorisch unkultiviert und zynisch sei. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß in ihm ein ungeheurer Optimismus steckt. Denn hängen wir mit unsrem Sein nicht an der Spule irgendwelcher Schicksalspopanze, sondern sind bloß mit einer Unzahl kleiner, wirr untereinander verknüpfter Gewichte behangen, so können wir selbst den Ausschlag geben.

Und dieses Gefühl ist uns verlorengegangen.

10

Wodurch?

Es ist wohl zum letztenmal in der Zeit der Aufklärung dagewesen; in jenem ausgehenden 18. Jahrhundert glaubten die Menschen an etwas in uns, das nur befreit zu werden brauche, um emporzuschnellen. Sie nannten es die »Vernunft« und hofften auf eine »natürliche Religion«, eine »natürliche Moral«, eine »natürliche Erziehung«, ja selbst auf eine »natürliche Wirtschaft«; sie schätzten Überlieferung gering und trauten sich zu, die Welt aus dem Geist neu aufzubaun. Der Versuch, auf einer viel zu schmalen Denkensgrundlage unternommen, brach zusammen und hinterließ einen platten Schutthaufen. Die Gegenwart fand das Entsetzen vor ihm (genauer vor einer im 19. Jahrhundert unternommenen, abgeschwächten naturwissenschaftlichen Wiederholung) noch den Büchern von Flaubert aufgeprägt, von Dostojewski, ja selbst noch von Hamsun; der »Rationalismus« war bei seinem Ende verächtlich und lächerlich geworden.

Es ist begreiflich, daß nach einem Fehlschlag des rational Konstruktiven ein Bedürfnis nach dem Irrationalen, nach Tatsachenfülle, nach Wirklichkeit folgt. Es kam auf zwei Wegen; ein Weg dieser Gegenwelle war: Geschichte. In gewissem Sinn war das plötzlich erwachende Interesse für sie ein Zurücksinken von der Anmaßlichkeit des Manns zum Lauschen des Kindes; Weite, Ruhe, Geführtwerden, die Vernunft aus den Dingen in den Menschen wachsen lassen: an die Stelle ethisch-aktivistischer Schroffheit tritt eine universalere, versöhnlichere, aber unbestimmtere Denkweise. Und, ach, die Tatsachenfülle wuchs zur Überfülle, die Geschichtsforschung wurde, einem Übermaß von Tatsachen gegenüber, notgedrungen immer pragmatischer und exakter: Ergebnis ein Alpdruck, ein stündlich wachsender Berg von Tatsachen, Gewinn an Wissen, Verlust an Leben, ein seelischer Fehlschlag, den zu vermeiden übrigens gar nicht ihr allein anheimgegeben war.

Denn die Geschichte hatte seit der Generation unsrer Großväter etwa, also in einer Zeit steigender Pragmatisierung des gesamten Denkens, wo sich die Philosophie hütete zu philosophieren, deren Aufgabe der Lebensauslegung im Nebenamt übernehmen müssen und erscheint daher gleich mit zwei schlechten Gewissen behaftet; einem pragmatischen, das über das Unzeitgemäße einer Geschichtsphilosophie spottet, und einem philosophischen, das über den seelenlosen Pragmatismus stöhnt, weil es ohne große ordnende Gesichtspunkte eben nicht geht.

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Es sei hier eine Abschweifung gestattet, weil es noch immer zum Prestige der Schriftsteller gehört, auf den öden Pragmatismus böse zu sein.

Bekannt ist, daß schon »unsre großen klassischen Geistesheroen«, so der Ausdruck verstattet ist, die Ohren zurücklegten, wenn diese Geistesrichtung sich hören machte. Goethe, der Kant bewunderte, Spinoza liebte und ein Naturforscher war, stand sich besser mit dem Verstand als die Goetheseelein von heute (mit seiner Intuition wird Mißbrauch getrieben; in den naturwissenschaftlichen Schriften findet sich durchaus nicht jene »andre Art des Erkennens«, für die er so oft als Eideshelfer angerufen wird); wohl aber hatte die Klassik keine Freundlichkeit für englische Webstühle, für Mathematik, für Mechanik und, wenn ich mich recht erinnere, auch nicht für Locke und Hume, deren – nun, man sagt Skepsis, sie ablehnte, aber es war wohl eigentlich nur eine Form jenes Geistes der Positivität, der mit den Naturwissenschaften, der Mathematik und der Industrie heraufkam und von der Klassik instinktiv als sie zersetzend empfunden wurde. (Noch Hebbel, der sonst wie ein Mittler zwischen damals und heute steht, ist darin ganz klassisch.) Wenn ich mir unsre großen Humanisten richtig vorstelle, so war es ihnen – wenn auch mit Einschluß alles möglichen Wirren der Menschenbrust – doch irgendwie um einen Kosmos, eine ruhende Ordnung, ein geschlossenes Gesetzbuch zu tun; jedenfalls hätten sie das Maß von geistiger Unordnung und Häßlichkeit, mit dem wir heute zu rechnen haben, als unerträglich erniedrigend empfunden.

Aber dieser abgelehnte Geist der selbstgenügsamen Faktizität in der Wissenschaft, der Statistik, der Maschinen, der Mathematik, des Pragmatismus und der Zahl, dieser Sandhaufen der Tatsachen und Ameisenhaufen der Menschlichkeit hat heute gesiegt.

Leider oder nicht: die nachgeborenen Goetheseelein und Goetheselein müssen mit ihm rechnen lernen.

Er grub den zweiten Weg, in den die aus einem zu engen Bett der Verstandeskonstruktion sich wieder befreiende Gegenwelle einbog; er hatte aber schon lang vor der Aufklärungszeit begonnen und wuchs hinter ihr bloß verstärkt weiter fort.

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Jedoch wenn hier die Worte Pragmatismus und Positivismus gebraucht werden, so mögen sie nicht zu genau und nicht als philosophische Spezialbezeichnungen genommen werden. Gemeint ist keine Theorie, sondern eine Erscheinung des Lebens.

Seit in der Renaissance sich die Physik von der scholastischen Spekulation weg zur Feststellung der Tatsachen und ihrer funktionalen Zusammenhänge gewandt hat, ist nicht etwa der Rationalismus entstanden – denn die Scholastik war ja auch rationalistisch –, sondern es fand einfach eine restitutio in integrum statt; die spekulativ entartete Rationalität wurde wieder auf den festen Antäusboden der Tatsachen gestellt, wobei sie allerdings eine Richtung erhielt, in der die Probleme für die Philosophie, ja selbst für die Mathematik vorwiegend durch die quantifizierenden Naturwissenschaften angeregt wurden. Gleich zu Beginn tritt die quantitative, die – um heute beliebte Bezeichnungen dafür anzuwenden – unheilige und ungeistige Betrachtungsweise wie ein Feuer auf. »Wahres Erkennen ist nur dort, wo Quanta erkannt werden«, schreibt Kepler. Der Portugiese Sanchez – gestorben im Jahr, wo Locke geboren wurde – fordert den aggressiven Geist der Beobachtung und des Experiments auch für die Philosophie. Der große Galilei – in der Auffassung vielseitiger als Kepler und im Beispiel eine Zeitwende –, selbst ein Künstler wie da Vinci teilen diesen Furor der Abkehr zur Positivität, zur Sachlichkeit, zur Nüchternheit und zum Zeugnis des Verstandes und der Sinne.

Man muß das trennen von der Überspitzung, die es bald erhielt (Descartes), und muß sich heute, wo die Geisteswelt über die Fesseln einer »öden Mechanistik« klagt, mit aller Eindringlichkeit vergegenwärtigen, daß es einst und für große Menschen die Gewalt und das Feuer eines neuen erlösenden Erlebnisses gehabt hat.

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Die Formel dafür lautet etwa: Mach Dir nichts vor. Verlaß Dich auf Deine eigenen Sinne. Greif immer bis auf den Stein! Es ist eine gewaltige Abstinenzbewegung von der Seele, durch die ein gewaltiger Seelenschwung in neuer Richtung entstand, und man darf sich nicht über das Feuer, die Kraft täuschen, die er noch in sich trägt.

Zwar ging auch hier die Entwicklung mehr in die Breite als in die Tiefe; die Tatsachenwissenschaften teilten sich bis zur Zersplitterung des Spezialistentums, die theoretischen Synthesen, trotzdem sie im einzelnen zu sehr großen Leistungen führten, hielten nicht Schritt, fast könnte man sagen, es etablierten sich alle Nachteile einer Demokratie von Tatsachen; der Berg, der Alpdruck schüttete sich auch hier auf, der schon die menschliche Leistung der Geschichte begrub. Aber es wird das fast immer ganz falsch so dargestellt, als sei es ein bloß negatives Kennzeichen unsrer Zeit, daß sie – abgekürzt zu sprechen – keine Philosophie habe, bloß als ob sie keine hervorzubringen vermöchte; es ist weit mehr ein auch positiv zu wertendes Zeichen, denn der pragmatische Mensch, der Kletterer an den festen Griffen der Tatsachen, verlacht, was ihm von den Kustoden als Philosophie angeboten wird. Diese Zeit hat keine Philosophie, weniger weil sie keine hervorzubringen vermag, als weil sie Angebote ausschlägt, die nicht zu den Tatsachen stimmen. (Wer ein Beispiel haben will, lese das zurückhaltend als naturphilosophischer Versuch bezeichnete Buch Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand des jungen Berliner Philosophen Wolfgang Köhler, und wenn er die Kenntnisse hat, um es zu verstehen, so wird er erleben, wie sich vom Boden der Tatsachenwissenschaften aus die Lösung uralter metaphysischer Schwierigkeiten schon andeutet.)

Darin verwandt trotz allem Trennenden sind dem führenden geistigen Typus der Zeit die führenden praktischen, der Kaufmann und der Politiker. Auch der Kapitalismus hat als seelische Grundlage das nur mit den Tatsachen Rechnen, das sich nur auf sich selbst Verlassen, den Griff, das Arbeiten in festem Stein, die Selbständigkeit des so dastehenden Menschen; und die Öde außer Dienst. Die Politik gar, wie sie heute verstanden wird, ist die reinste Gegnerschaft gegen den Idealismus, fast seine Perversion. Der mit dem Menschen à la baisse spekulierende Mensch, der sich Realpolitiker nennt, hält für real nur die Niedrigkeiten des Menschen, das heißt, nur sie betrachtet er als verläßlich; er baut nicht auf Überzeugung, sondern stets nur auf Zwang und List. Was davon sich aber während des Kriegs und nachher in der scheußlichsten Fratze gezeigt hat, ist im Grunde kein andrer Geist als der, in welchem auch Ministerien eines und desselben Staats untereinander verkehren, sobald sie in einer Frage nicht die gleichen Interessen haben, und der, in welchem der smarte Kaufmann stets mit seinesgleichen umgeht. Am tiefsten Punkt dieser Hölle liegt – dem einzelnen gar nicht mehr bewußt – wie die Spitze eines Kegels die luziferische Mißachtung der Ohnmacht des Idealismus, die nicht nur den verkommenen, sondern so oft auch den stärksten Menschen unsrer Zeit eigentümlich ist.

Es ist ebensoviel von dem tiefsten Selbstvertrauen der Zeit in ihr wie von der verzweifelten Situation. Es ist ein Unterwasserschwimmen in einem Meer von Realität, ein verbissenes Noch-etwas-länger-den-Atem-Anhalten: freilich mit der Gefahr behaftet, daß der Schwimmer nie wieder auftaucht.

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Das Amt, diesen Menschen zu bändigen und zu Gleichmaß und Stete zu führen, in diesem Chaos Ordnung zu schaffen, das Amt der Sinngebung, der Lebensausdeutung zu übernehmen, war – im Nebenamt! – nichts als die Geschichte da. Sie besaß nicht die Begriffe dafür. Geschichtsphilosophie wird abgelehnt, rein historische Kategorien haben sich noch nicht zur Genüge gebildet: die Ordnungsbegriffe des Lebens fehlen; daher werden hinten herum und unkontrolliert subjektive, gemutmaßte Bestandstücke der Geschichtsphilosophie wieder eingeführt. Begriffe wie Vernunft, Fortschritt, Humanität, Notwendigkeit beherrschten spukend das Lebensbild, gemeinsam mit ungeeichten oder höchstens von der opinio communis geeichten ethischen Wertschätzungen; Ordnungsschein über einem Chaos. So konnte anfangs die bekannte Wendung zur historischen Immanenz wie eine Erlösung wirken. Es erschien anfangs wie ein Fortschritt, was die Geschichte jetzt lehrte, den »Zeiten« überhaupt keine bestimmte Denkweise entgegenzubringen, sondern »Urteil und Maß lediglich aus ihnen selbst zu gewinnen«. Versenken, einleben, Erscheinungen aus ihrer eigenen Sphäre heraus verstehn, keine Synthese von außen aufdrängen: Nie war eine Zeit so bereit und geschickt, das zu tun, wie unsre. Die Folge war – mit Eucken zu sprechen – Abschwächung des eignen Wollens und Wesens durch Beflissenheit, sich fremder Art anzuschmiegen. Just das Rechte in einem Entwicklungsabschnitt, der drängend voll eigner Probleme ist!

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Wir haben den laufenden Tag eingeholt. Das Leben, das uns umfängt, ist ohne Ordnungsbegriffe. Die Tatsachen der Vergangenheit, die Tatsachen der Einzelwissenschaften, die Tatsachen des Lebens überdecken uns ungeordnet. Die Populärphilosophie und die Tagesdiskussion begnügten sich entweder mit den liberalen Fetzen eines ungegründeten Vernunft- und Fortschrittsglaubens oder sie erfanden die bekannten Fetische der Epoche, der Nation, der Rasse, des Katholizismus, des Intuitionsmenschen, welchen allen negativ gemeinsam ist eine sentimentale Nörgelei am Verstand und positiv das Bedürfnis nach einem Halt, nach gigantischen Knochengespenstern, an die man die Impressionen hängen kann, aus denen man nur noch bestand. (Dies ist, nebenbei gesagt, der Kern des literarischen Streits über Kultur oder Zivilisation; und ein Hauptgrund, weshalb der Expressionismus nicht viel mehr als eine Clownerie wurde; er konnte auf einem wesentlich impressionistisch gebliebenen Boden nicht weiterführen.) Man ist dabei so mutlos im direkten Beurteilen und Gestalten geworden, daß man die Gewohnheit annahm, selbst die Gegenwart historisch zu sehn; sobald ein neuer Ismus auftritt, glaubt man, ein neuer Mensch sei da, und mit Schluß jedes Schuljahrs hebt eine neue Epoche an! Alles, was zum Geist gehört, befindet sich daher heute in größter Unordnung. Der Geist der Tatsachen und der Zahlen wird bekämpft – traditionell und kaum mehr der Gründe bewußt –, ohne daß man ihm mehr als die Negation entgegensetzt. Denn wenn man verkündet – und wer verkündete nicht etwas davon?! –, unsrer Zeit fehle die Synthese oder die Kultur oder die Religiosität oder die Gemeinschaft, so ist das kaum mehr als ein Lob der »guten alten Zeit«, da niemand zu sagen vermöchte, wie eine Kultur oder eine Religion oder eine Gemeinschaft heute aussehen müßten, falls sie die Laboratorien und Flugmaschinen und den Mammutgesellschaftskörper wirklich in ihre Synthese aufnehmen und nicht bloß als überwunden voraussetzen wollten. Man verlangt damit bloß, daß sich die Gegenwart selbst aufgeben soll. Unsicherheit, Energielosigkeit, pessimistische Farbe zeichnet alles aus, was heute Seele ist.

Naturgemäß spiegelt sich das in einer unerhörten geistigen Einzelkrämerei. Unsre Zeit beherbergt nebeneinander und völlig unausgeglichen die Gegensätze von Individualismus und Gemeinschaftssinn, von Aristokratismus und Sozialismus, von Pazifismus und Martialismus, von Kulturschwärmerei und Zivilisationsbetrieb, von Nationalismus und Internationalismus, von Religion und Naturwissenschaft, von Intuition und Rationalismus und ungezählt viele mehr. Man verzeihe das Gleichnis, aber der Zeitmagen ist verdorben und stößt in tausend Mischungen immer wieder Brocken der gleichen Speisen auf, ohne sie zu verdauen. Schon äußerlich betrachtet, läßt solche Antitypik – solches Entfalten der Probleme in Paare von Gegensätzen, solche Vielheit von Entweder-Oder-Fragestellungen – erkennen, daß hier nicht genug geistige Arbeit geleistet wird; es liegt in jedem Entweder-Oder eine gewisse Naivität, wie sie wohl dem wertenden Menschen ansteht, aber nicht dem denkenden, dem sich die Gegensätze in Reihen von Übergängen auflösen. Und in der Tat entspricht diesen Fragestellungen praktisch ein aufs äußerste getriebener Grüppchenkollektivismus in unsrem geistigen Bild. Jede Lesegemeinschaft hat ihren Dichter; die politischen Parteien der Landwirte und der Handarbeiter haben verschiedene Philosophien; es gibt vielleicht hundert Verlage in Deutschland mit einem gefühlhaft mehr oder weniger fest organisierten Leserkreis; der Klerus hat sein Netz, aber auch die Steinerianer haben ihre Millionen, und die Universitäten ihre Geltung: ich habe in der Tat einmal in einem Gewerkschaftsblatt der Kellner etwas von der Weltanschauung der Gasthausgehilfen gelesen, die immer hochgehalten werden müsse.

Es ist ein babylonisches Narrenhaus; aus tausend Fenstern schreien tausend verschiedene Stimmen, Gedanken, Musiken gleichzeitig auf den Wanderer ein, und es ist klar, daß das Individuum dabei der Tummelplatz anarchischer Motive wird, und die Moral mit dem Geist sich zersetzt.

Im Keller dieses Narrenhauses aber hämmert der hephaistische Schaffenswille, Urträume der Menschheit werden verwirklicht wie der Flug, der Siebenmeilenstiefel, das Hindurchblicken durch feste Körper und unerhört viele solcher Phantasien, die in früheren Jahrhunderten seligste Traummagie waren; unsere Zeit schafft diese Wunder, aber sie fühlt sie nicht mehr.

Sie ist eine Zeit der Erfüllung, und Erfüllungen sind immer Enttäuschungen; es fehlt ihr an Sehnsucht, an etwas, das sie noch nicht kann, während es ihr am Herzen nagt.

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Ich glaube, daß der Krieg ausbrach wie eine Krankheit an diesem Gesellschaftskörper; eine ungeheure, ohne Zugang zur Seele arbeitende Energie brach sich diesen brandigen Fistelgang zu ihr hin. Ich habe allerdings eine Warnung vor solcher Auffassung des Kriegs als einer europäischen Kulturkrisis gelesen, was eine spezifisch deutsche Anschauung sein soll ([Ernst] Robert Curtius unter Berufung auf andre in dem sehr lesenswerten Heft: Der Syndikalismus der geistigen Arbeiter in Frankreich), aber es kommt doch wohl darauf an, welchen Inhalt man dieser Vorstellung gibt. Der Krieg mag tausend verschiedene Ursachen gehabt haben, aber es ist gewiß nicht zu leugnen, daß jede von ihnen – Nationalismus, Patriotismus, wirtschaftlicher Imperialismus, Mentalität der Generale und Diplomaten wie auch alle andren – an bestimmte geistige Voraussetzungen geknüpft ist, die doch eine gemeinsame und dann eben mitentscheidende Situation kennzeichnen.

Vor allem war ein sehr bezeichnendes Symptom der Katastrophe zugleich Ausdruck einer bestimmten ideologischen Lage: das völlige Gewährenlassen gegenüber den an der Staatsmaschine stehenden Gruppen von Spezialisten, so daß man wie im Schlafwagen fuhr und erst durch den Zusammenstoß erwachte. An dieses Gewährenlassen sind nicht nur die »denkenden Bürger« gegenüber den »handelnden Organen« des Staats gewöhnt, sondern auch die nebeneinander dahinlebenden Ideologien, welche sich gegenseitig anbellen, aber nicht beißen. Es ist die Kehrseite der Einordnung des einzelnen in die Gesellschaft, und man würde ein Narr vor Überbürdung, wenn man jede Gewissensfrage selbst lösen wollte; aber andrerseits gibt es deren welche, die man so wenig dem »Fachmann« überläßt wie das Heiraten oder die Ewigkeit, und solche Fälle müssen sich durch ein deutlich wahrnehmbares Signal auszeichnen. So lag auch in der Art, wie die Welt auf den Krieg zutrieb, vor allem ein Mangel an geistiger Organisation; das Nichternstnehmen der Anzeichen und hintreibenden Kräfte, ebenso wie auch der gegenwirkenden Kräfte ging aus einer Situation hervor, wo ideologische Fragen in ihrer Unordnung und Windigkeit für »schöngeistig« galten, während die realpolitischen Mächte wenigstens eine gewisse bürgerliche Rechtsfähigkeit vor ihnen voraus hatten.

Ein andres Kennzeichen war der Umfang, den die Katastrophe sofort annahm. Dieses plötzliche, ungeheure Umsichfressen des Feuers erscheint nur möglich, wo alles vorbereitet war und sich nach Erdbeben, Feuersbrunst und Gefühlsstürmen sehnte; wer den Ausbruch des Kriegs in voller Stärke erlebt hat, versteht ihn als die Flucht vor dem Frieden.

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Es wäre natürlich unsinnig, eine so umfassende Katastrophe auf eine individuelle Formel zurückführen zu wollen. Wir wissen überhaupt noch wenig von der Soziologie des Kriegs, es hat Kriege in allen Kulturen gegeben, und schon deshalb ist es schwer, einen bestimmten Krieg als die Katastrophe einer bestimmten kulturellen Situation anzusehn; zweifellos wird Krieg als etwas Traditionelles, man kann fast sagen als eine periodische Institution hingenommen. Anders steht es jedoch um die Frage, wie ein Krieg in einer Zeit ausbrechen kann, deren Geist – ausgenommen die Knockabouts – entschieden pazifistisch war. Ferner gibt es unter den Kriegen viele, die sozusagen nur geduldet waren, und von ihnen sozial verschieden sind jene, die wie Brände um sich fraßen. Heute sind schlichtende Kräfte aus dem Bereich des common sense am Werk, um den Krieg als nutzlos und unvernünftig zu entwerten, und das sind gewiß schwere Argumente in einer auf Nutzen und Vernunft gerichteten Zeit; aber ich glaube, diese Art Pazifisten unterschätzt das explosiv-seelische Moment, das zu Kriegen jener zweiten Art gehört, das offenbar menschliche Bedürfnis, von Zeit zu Zeit das Dasein zu zerreißen und in die Luft zu schleudern, sehend, wo es bleibe. Dieses Bedürfnis nach »metaphysischem Krach«, wenn der Ausdruck erlaubt ist, häuft sich in Friedenszeiten als unbefriedigter Rest an. Ich vermag darin in Fällen, wo weit und breit keine Unterdrückung, keine wirtschaftliche Verzweiflung, sondern rings nur Gedeihen vorhanden war, nichts zu sehen, als eine Revolution der Seele gegen die Ordnung; in manchen Zeiten führt sie zu religiösen Erhebungen, in andren zu kriegerischen.

Sieht man die Erscheinung von dieser Seite an, so muß man hinzufügen, daß es sich nicht (nämlich nur scheinbar) um den Zusammenbruch einer bestimmten Ideologie und Mentalität handelt – etwa der bürgerlichen jetzt oder 1618 der katholischen –, um den Inhalt einer Ideologie also, sondern um das periodische Zusammenbrechen aller Ideologien. Sie befinden sich stets in einem Mißverhältnis zum Leben, und dieses befreit sich in wiederkehrenden Krisen von ihnen wie wachsende Weichtiere von ihren zu eng gewordenen Panzern.

Das ist heute, trotz der Müdigkeit nach dem kaum überwundenen Krieg, schon wieder nahen zu sehn. Nicht nur der französische Geist zeigt seinen Machthabern gegenüber ein schlimmeres »Gewährenlassen« als je einer vor dem Krieg, auch bei uns haben sich durch die neuen Erlebnisse nur die Inhalte geändert, die verworrene unsichere Art der Reaktion und Aktion ist die gleiche geblieben.

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Keine Werte standen fest, in nichts lag Verantwortung, das Leben wurde mit Wollust in die Flammen geworfen: es scheint dennoch falsch zu sein, daß man mit einer Wiedergutmachung, einer restitutio in integrum, mit der Forderung von mehr Verantwortung, Güte, Christentum, Menschlichkeit, kurz mit irgendeinem Mehr von dem, was vorher zu wenig war, die Situation bessern könne; denn es fehlte nicht an der Idealität, sondern schon an den Vorbedingungen für sie. Dies ist nach meinem Glauben die Erkenntnis, welche sich unsre Zeit einbrennen müßte! Die Lösung liegt weder im Warten auf eine neue Ideologie, noch im Kampf der einander heute bestreitenden, sondern in der Schaffung gesellschaftlicher Bedingungen, unter denen ideologische Bemühungen überhaupt Stabilität und Tiefgang haben. Es fehlt uns an der Funktion, nicht an Inhalten!

Niemals wieder wird eine einheitliche Ideologie, eine »Kultur« in unsrer weißen Gesellschaft von selbst kommen; mag sie in Frühzeiten dagewesen sein (obgleich man sich das wahrscheinlich zu schön vorstellt): das Wasser fließt den Berg hinab, aber nicht hinauf. Eine gedeihende Gesellschaft befindet sich geistig in einem fortschreitenden Selbstzersetzungsprozeß. Immer mehr Menschen und Meinungen beteiligen sich an der allgemeinen Ideenbildung, und immer neue Ideenquellen werden durch Eindringen in frühere Zeiten und Verbindung zwischen entlegenen Ursprungsörtern aufgeschlossen. Was man Zivilisation im üblichen Sinn nennt, ist ja hauptsächlich nichts als die Belastung des einzelnen mit Fragen, von denen er kaum die Worte kennt (man denke an die politische Demokratie oder an die Zeitung), weshalb es ganz natürlich ist, daß er in einer vollkommen pathologischen Weise darauf reagiert; wir muten heute einem beliebigen Kaufmann geistige Entscheidungen zu, deren gewissenhafte Wahl einem Leibniz nicht möglich wäre! Da aber kaum bestritten werden kann, daß jeder der von da und dort sich kreuzenden Ideen ein gewisser Lebenswert einwohnt, Unterdrückung Verlust, und nur Aufnahme Gewinn ist, so liegt ein ungeheures Organisationsproblem darin beschlossen, daß man die Auseinandersetzung und Verknüpfung ideologischer Elemente nicht dem Zufall überlasse, sondern fördere. Diese notwendige Funktion der Gesellschaft existiert heute nur auf wissenschaftlichem, also reinem Verstandesgebiet; auf geistigem Gebiet ist sie nicht einmal von den Schaffenden als nötig erkannt.

Im Gegenteil, es ist gerade in geistigen Kreisen (wie hier abgekürzt im Gegensatz zur eindeutigen Verstandesarbeit gesagt werden möge) kein Vorurteil so hartnäckig wie dieses, daß an aller Mißentwicklung der Zivilisation und vor allem an der seelischen Zersetzung der Verstand schuld sei, dem sie fröne. Nun mag man dem Verstand alle möglichen Einseitigkeiten und schlimmen Nebenwirkungen nachsagen, wenn man aber behauptet, daß er zersetzend wirke, so meint man damit nie etwas andres, als daß er Werte, die ehedem ohne Riß und gefühlssicher galten, allmählich auflöst: aber das kann er nur dort, wo sie in ihren Gefühlsvoraussetzungen ohnedies schon gespalten sind; es ist nichts, was in seiner Natur läge, sondern es liegt in ihrer! Er selbst ist seinem Wesen nach ebenso bindend wie zerlegend, ja er ist wohl die stärkste bindende Kraft in den menschlichen Beziehungen, was merkwürdig oft von schöngeistigen Anklägern übersehen wird. Es kann sich also gar nicht um anderes handeln, als um ein Mißverhältnis, ein Aneinandervorbeileben von Verstand und Seele. Wir haben nicht zuviel Verstand und zuwenig Seele, sondern wir haben zuwenig Verstand in den Fragen der Seele. Der Mißstand, dessen er geziehen wird, heißt in Wahrheit: es geht der Gewohnheitsweg unsrer Gedanken unter Ausschaltung des Ich von Gedanke zu Gedanke und Tatsache zu Tatsache, wir denken und handeln nicht über unser Ich. Darin liegt ja das Wesen unserer Objektivität, sie verbindet die Dinge untereinander, und selbst wo sie uns zu ihnen in Beziehung setzt oder – wie in der Psychologie – uns selbst zum Gegenstand hat, tut sie es unter Ausschluß der Persönlichkeit. Es gibt die Objektivität gewissermaßen das Innerliche an den Dingen preis, das Allgemeingültige ist unpersönlich oder – nach einer sehr glücklichen indirekten Kennzeichnung von Walter Strich [s. S. 228: Der Fluch des objektiven Geistes, 1919] –: für eine Wahrheit kann man nicht mit der Person einstehn. Objektivität stiftet daher keine menschliche Ordnung, sondern nur eine sachliche.

In der Tat tritt schon in jener früher erwähnten breiten Übergangszone zur Neuzeit, während deren das Tatsachendenken seinen Aufschwung nahm, dieser Protest dagegen mit aller Heftigkeit auf; Religion sei nicht Theologie, sagen ungefähr Schwenckfeld, Sebastian Franck und Valentin Weigel gemeinsam gegen den abgeirrten Mystiker Luther, sondern sie sei »Erneuerung des ganzen Menschen«. Es ist das der Protest des Gefühls, Willens, Lebenden, Wechselbaren, insgesamt der Menschlichkeit, was sich da gegen die Theologie, das Wissen, als den festen und erstarrten Niederschlag abgrenzt. Und dieses ist auch immer – wenn man sie aller theologischen Verbindungen und mit ihnen angenommenen Spezialitäten entkleidet – die Triebfeder aller Mystik gewesen; alle jene Worte wie Liebe, Schau, Erweckung und ihresgleichen in ihrer tiefen Unbestimmtheit und zarten Fülle bezeichnen nichts als eine tiefere Einbettung des Denkens in die Gefühlssphäre, eine persönlichere Beziehung zum Erlebenden.

Einen verwandten Erlebensgehalt und ein ähnliches Verhältnis zum Verstand hat aber auch das ganze Schrifttum unmystischer Lebensweisheit von Kungfutse bis Emerson und weiter, ja man kann behaupten, daß an dieser Linie auch eine Grenze zwischen Moral und Ethik läuft. Moral ist ihrem Wesen als Vorschrift nach an wiederholbare Erlebnisse gebunden, und ebensolche sind es, welche die Rationalität kennzeichnen, denn der Begriff kann sich nur an der Eindeutigkeit und – in übertragenem Sinn – Wiederholbarkeit ansetzen; so besteht ein tiefer Zusammenhang zwischen dem zivilisatorischen Charakter der Moral und des Verstandes, während das eigentlich ethische Erlebnis wie das der Liebe oder der Einkehr oder der Demut selbst dort, wo es sozial ist, etwas sehr schwer zu Übertragendes, ganz Persönliches und fast Unsoziales ist. »Auch in Christus war ein äußerer und ein innerer Mensch, und alles, was er in bezug auf äußere Dinge tat, tat er vom äußeren Menschen aus, und stand dabei der innere Mensch in unbeweglicher Abgeschiedenheit«, sagt Eckehart. Was man in unsrer heutigen Literatur Ethik nennt, ist gewöhnlich ein schmales Fundament von Ethik und ein hohes Haus von Moral darüber.

Was es tatsächlich heute an Ethik gibt, lebt sehr unzulänglich in der Kunst, in der Essayistik und im Chaos privater Beziehungen. Die Musik wälzt Gefühle hin und her, in denen die Gedanken von Welt und Seele wurzeln, die Malerei sucht vom »Objekt« – dem Bazillenträger der Rationalität – sich loszuheben, die Dichtung bietet das Bild eines stagnierenden, in immer wiederholten Ansätzen fortschrittslosen Zustands der Seele, alles in allem ist es eine dumpfe, sich zu unbeständigen Erscheinungen überspitzende Unzufriedenheit, eine gärende Masse, in der immer wieder die gleichen Brocken an die Oberfläche stoßen, ohne daß der Chemiker käme und die Mischung klärte.

Unsre Geistesart ist vorläufig noch gar nicht darauf eingestellt, diesen Zustand zu ändern. Die Geschichte – wie gesagt, selbst der Hilfe durch Ordnungsbegriffe bedürftig – ist nur mißbrauchtes Hilfsmittel, sie zu schaffen, und der Humanismus, den wir treiben, ist ebenso höchstens im Nebenamt vergleichend, Lebenselemente herauslösend, ethisch, sucht vielmehr möglichst das Ganze von Persönlichkeiten, Zeiten und Kulturen zu verstehn und als Muster aufzustellen. Wenn man Goethe oder Lessing kennen lehrt als die in sich geschlossenen einmaligen Totalitäten, so hat das Exemplarische dieser großen Existenzen gewiß »Bildungswert«, aber allein vermittelt ist es im Grunde doch nichts andres, als wenn man in der Physik nur die Biographien Keplers oder Newtons vorbrächte. Der wesentliche Sachwert wird vernachlässigt, neben dem Biographischen fehlt das bewußt Ideographische und wird mehr oder weniger wie im Leben so in der Schule der persönlichen Willkür und Neigung überlassen. Wenn Goethe aber gedichtet hat: »Ist auf deinem Psalter / Vater der Liebe ein Ton / Seinem Ohr vernehmlich, / So erquicke sein Herz!« so steht das doch nicht nur allein da, und nicht nur im Zusammenhang mit dem jungen, etwas lästigen Herrn Plessing und der sonstigen Goethebiographie, und nicht nur in der Klassik und der literarischen Tradition, sondern es bildet auch eine Masche in der Reihe der Menschenliebe oder der Güte, welche Reihen durch die Vorstellungswelt von Anbeginn bis heute laufen, und durch den Platz in dieser Reihe wird es erst wesentlich bestimmt.

Solche Ordnung der Kunst, Ethik und Mystik, das ist der Gefühls- und Ideenwelt, vergleicht allerdings und analysiert und faßt zusammen und ist insoweit rational und den stärksten Instinkten unsrer Zeit wesensverwandt, aber sie ist kein Widerspruch gegen die Seele; sie hat ihr eigenes Ziel, und dieses ist nicht jene Eindeutigkeit, bei der sich etwa Ethos zur Moral verdichtet oder Gefühl zur kausalen Psychologie, sondern eine Übersicht der Gründe, der Verknüpfungen, der Einschränkungen, der fließenden Bedeutungen menschlicher Motive und Handlungen – eine Auslegung des Lebens.

Es mag dieser Ausklang einer Betrachtung unserer Situation in die Forderung einer Disziplin sonderbar sein: aber eine Zeit, die solche Arbeit nicht geleistet und solche Disziplin nicht erworben hat, wird nie zur Lösung großer Ordnungsaufgaben fähig werden.

Europäertum, Krieg, Deutschtum
[1914]

Der Krieg, in andren Zeiten ein Problem, ist heute Tatsache. Viele der Arbeiter am Geiste haben ihn bekämpft, solange er nicht da war. Viele ihn belächelt. Die meisten bei Nennung seines Namens die Achseln gezuckt, wie zu Gespenstergeschichten. Es galt stillschweigend für unmöglich, daß die durch eine europäische Kultur sich immer enger verbindenden großen Völker heute noch zu einem Krieg gegeneinander sich hinreißen lassen könnten. Das dem widersprechende Spiel des Allianzensystems erschien bloß wie eine diplomatisch sportliche Veranstaltung.

Tagelang, da der phantastische Ausbruch des Hasses wider uns und Neides ohne unsre Schuld Wirklichkeit geworden war, lag es über vielen Geistern noch wie ein Traum. Kaum einer, der sein Weltbild, sein inneres Gleichgewicht, seine Vorstellung von menschlichen Dingen nicht irgendwo entwertet fühlte. Man darf vielleicht gerade diese Erschütterung, die sich jedem so deutlich einprägte, nicht überschätzen; denn fühlt einer sein letztes Stündlein in der Nähe, denkt er anders über seine Pläne und faßt Vorsätze, die auszuführen später keinen Sinn hat, weil man wieder für das Leben lebt und nicht für den Tod. Trotzdem bleibt ungeheuer, wie die plötzlich erwiesene Möglichkeit eines Krieges in unser moralisches Leben von allen Seiten umändernd eingreift, und wenn heute auch nicht der Zeitpunkt ist, über diese Fragen nachzudenken, wollen wir, vielleicht auf lange hinaus letzten Europäer, in ernster Stunde doch auch nicht auf Wahrheiten baun, die für uns keine mehr waren, und haben, bevor wir hinausziehn, unser geistiges Testament in Ordnung zu bringen.

Treue, Mut, Unterordnung, Pflichterfüllung, Schlichtheit, – Tugenden dieses Umkreises sind es, die uns heute stark, weil auf den ersten Anruf bereit machen zu kämpfen. Wir wollen nicht leugnen, daß diese Tugenden einen Begriff von Heldenhaftigkeit umschreiben, der in unsrer Kunst und unsren Wünschen eine geringe Rolle gespielt hat. Teils ohne unsre Schuld, denn wir haben nicht gewußt, wie schön und brüderlich der Krieg ist, teils mit unsrer Absicht, denn es schwebte uns ein Ideal des europäischen Menschen vor, das über Staat und Volk hinausging und sich durch die gegenwärtigen Lebensformen wenig gebunden fühlte, die ihm nicht genügten. Ein kleines äußerliches, aber in seiner Gefühlswirkung nicht unbeträchtliches Zeichen dafür war, daß die wertvollsten Geister jeder Nation meist schon in die Sprache anderer Völker übersetzt wurden, bevor sie in ihrem eigenen eine breite Wirkung erlangten. Geist war die Angelegenheit einer oppositionellen europäischen Minderheit und nicht das von dem Willen der Nachfolgenden getragene und mit Dankbarkeit ermunterte Vorausgehn eines Führers vor seinem eigenen Volke.

Daß die, welche eine neue Ordnung schauten, wenig Liebe für die bestehende hatten, lag in der Linie ihrer Aufgaben und Pflichten. Die wertvollen der seelischen Leistungen aus den letzten dreißig Jahren sind fast alle gegen die herrschende gesellschaftliche Ordnung und die Gefühle gerichtet, auf die sie sich stützt; selten als Anklage, sehr oft aber als gleichgültiges Darüberwegschauen zu den Problemen für vorausgeartete Menschen, als Enthaltung vom Gefühlsurteil und desillusionierende Konstatierung dessen, was ist. Das Wenden, Durchblicken und zu diesem Zweck Durchlöchern überkommener, eingesessener und verläßlicher seelischer Haltungen: es besteht kein Grund zu verschweigen, daß dies eine der Haupterscheinungen unserer Dichtung war. Dichtung ist im Innersten der Kampf um eine höhere menschliche Artung; sie ist zu diesem Zweck Untersuchung des Bestehenden und keine Untersuchung ist etwas wert ohne die Tugend des kühnen Zweifels. Unsere Dichtung war eine Kehrseitendichtung, eine Dichtung der Ausnahmen von der Regel und oft schon der Ausnahmen von den Ausnahmen. In ihren stärksten Vertretern. Und sie war gerade dadurch in ihrer Art von dem gleichen kriegerischen und erobernden Geist belebt, den wir heute in seiner Urart verwundert und beglückt in uns und um uns fühlen.

Als gieriger mit jeder neuen Stunde Todesfinsternis um unser Land aufzog und wir, das Volk im Herzen Europas und mit dem Herzen Europas, erkennen mußten, daß von allen Rändern dieses Weltteils eine Verschwörung herbrach, in der unsre Ausrottung beschlossen worden war, wurde ein neues Gefühl geboren: – die Grundlagen, die gemeinsamen, über denen wir uns schieden, die wir sonst im Leben nicht eigens empfanden, waren bedroht, die Welt klaffte in Deutsch und Widerdeutsch, und eine betäubende Zugehörigkeit riß uns das Herz aus den Händen, die es vielleicht noch für einen Augenblick des Nachdenkens festhalten wollten. Gewiß, wir wollen nicht vergessen, daß stets auch die andern das gleiche erleben; wahrscheinlich sind die, welche drüben unsre Freunde waren, genau so in ihr Volk hineingerissen, vielleicht vermögen sie sogar das Unrecht ihres Volkes zu durchschaun und es zieht sie doch mit. Unsre Skepsis verlangt diese Vorstellungen. Wir wissen nicht, was es ist, das uns in diesen Augenblicken von ihnen trennt und das wir trotzdem lieben; und doch fühlen wir gerade darin, wie wir von einer unnennbaren Demut geballt und eingeschmolzen werden, in der der einzelne plötzlich wieder nichts ist außerhalb seiner elementaren Leistung, den Stamm zu schützen. Dieses Gefühl muß immer dagewesen sein und wurde bloß wach; jeder Versuch, es zu begründen, wäre matt und würde aussehn, als müßte man sich überreden, während es sich doch um ein Glück handelt, über allem Ernst um eine ungeheure Sicherheit und Freude. Der Tod hat keine Schrecken mehr, die Lebensziele keine Lockung. Die, welche sterben müssen oder ihren Besitz opfern, haben das Leben und sind reich: das ist heute keine Übertreibung, sondern ein Erlebnis, unüberblickbar aber so fest zu fühlen wie ein Ding, eine Urmacht, von der höchstens Liebe ein kleines Splitterchen war.