Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit
[1921] Zitiert aus dem Projekt-Gutenberg
I
Indem ich anhebe, die Frage des Nationalgefühls als eine Frage zu behandeln, während sie seit 1914 nur als Antwort zu existieren scheint, als leidenschaftliche, unbekümmerte Bejahung oder Verneinung, indem ich dies mitten in einem überaus kritischen Abschnitt unseres Schicksals versuche, wo scheinbar jeder Zweifel am Begriff der Nation vermieden sein sollte, muß ich dennoch die Entschuldigung abweisen, ich tue es, weil ich eine neue Antwort weiß und mich der Prophet treibt, sie zu verkünden. Ich kenne in der Tat nur Teilantworten oder Antworten, die nur zum Teil befriedigen. Aber gerade in diesem Mangel, der ungeachtet allen Bemühens, ihn zu beheben, bestehen bleibt, erkenne ich die Notwendigkeit, daß einer einmal nicht in fertiger Überzeugung von der Sache spricht, sondern aus der unverhohlenen Hilflosigkeit heraus, in der wir uns trotz aller Phrasen ihr gegenüber befinden.
II
Die, für welche die Nation einfach nicht existiert, machen es sich zu leicht. Dieser Geist, der sich im Namen des Geistes für exterritorial und übernational erklärt, treibt angesichts der auf uns allen lastenden Verachtung und Sklaverei Vogelstraußpolitik; er steckt den Kopf in den Sand, was nicht hindern kann, daß ihn die uns allen geltenden Schläge dort treffen werden, wo seine Straußfedern sitzen.
Dieser individualistische Separationsgeist übersieht aber noch eines: jenes bekannte Sommererlebnis im Jahre 1914, den sogenannten Aufschwung zur großen Zeit, und ich meine das durchaus nicht nur ironisch. Im Gegenteil, was man anfangs stammelte und später zur Phrase entarten ließ, daß der Krieg ein seltsames, dem religiösen verwandtes Erlebnis gewesen sei, kennzeichnet unzweifelhaft eine Tatsache; Entartung beweist nichts gegen den ursprünglichen Charakter. Es ist zu einer Phrase gemacht worden, in der üblichen Weise eben dadurch, daß man es ein religiöses Erlebnis nannte und ihm damit eine archaistische Maske gab, statt zu fragen, was da eigentlich an einem doch längst entschlafenen Vorstellungs- und Gefühlsbereich so heftig seltsam poche: dennoch läßt sich nicht leugnen, daß die Menschheit zu jener Zeit (und natürlich alle Völker in der gleichen Weise) von etwas Irrationalem, Unvernünftigem, aber Ungeheurem berührt worden ist, das fremd, nicht von der gewohnten Erde, war und deshalb, noch bevor die eigentlichen Kriegsenttäuschungen kamen, einfach weil es sich bei seiner atmosphärisch unbestimmten Natur nicht fassen und halten ließ, schon als eine Halluzination oder ein Gespenst erklärt wurde.
Darin war auch das berauschende Gefühl enthalten, zum erstenmal mit jedem Deutschen etwas gemeinsam zu haben. Man war plötzlich Teilchen geworden, demütig aufgelöst in ein überpersönliches Geschehen, und spürte, von ihr eingeschlossen, die Nation geradezu leibhaft; es war, als ob mystische Ureigenschaften, welche in einem Wort eingeschlossen die Jahrhunderte verschlafen hatten, plötzlich so real erwachten wie die Fabriken und Kontore am Morgen. Man muß schon ein kurzes Gedächtnis oder ein weites Gewissen haben, um über späterer Besinnung das zu vergessen. – Selbst die wenigen, die sich diesem ungeheuren Druck entziehen wollten, konnten es nicht durch ruhiges Beharren tun, sondern nur durch Gegenstoß. Wer schon zu Beginn Kriegsgegner war, mußte es fanatisch sein; er spie der Nation ins Gesicht, er meuchelte sie und bewies damit nur – die Konträrfaszination.
Will man nun glauben, daß es nichts gewesen sei, wenn Millionen Menschen, die zuvor nur für den Eigennutz und in übertünchter Angst vor dem Tode gelebt hatten, plötzlich mit Jubel dem Tod für die Nation entgegenliefen? Man muß schon ein sehr ungebildetes Ohr für das Leben haben, um über der pazifistischen Gewissensstimme diese Stimme des Geschehens nicht gehört zu haben. Und selbst wenn Millionen von Menschen sich, ihre Existenz, ihre Lebensziele, ihre Nächsten, ihren Gesamtbesitz an Heroismus bloß einem Phantom geopfert haben sollten: kann man denn da einfach wieder zu Bewußtsein erwachen, aufstehen und weggehen wie nach einem Rausch, das Ganze eine Trunkenheit, eine Psychose, eine Massensuggestion, ein Blendwerk des Kapitalismus, Nationalismus oder was immer nennend? – Man kann es ganz gewiß nicht, ohne dadurch ein Erlebnis zu unterdrücken, das nicht erledigt ist, und gerade dadurch die Ursprünge einer ungeheuerlichen Hysterie in die Seele der Nation zu senken!
III
Aber auch die, für welche die Idee der Übernationalität nicht existiert, machen es sich zu bequem. Braucht man das eigentlich zu sagen?
Wenn aber nicht, warum hört man dann so selten die Anklage gegen den Betrug erheben, der an uns beim Kriegsende durch Wilson und sein trojanisches Pferd der vierzehn Punkte begangen worden ist? Gewiß waren wir damals am Ende; aber in dem Augenblick, wo wir die zum Ekel gewordenen Waffen fallen ließen, hatte sie etwas uns aus der Hand geschlagen oder geschmeichelt? War nicht eine österliche Weltstimmung da: verfrüht wie ein warmer Februartag, die Überzeugung, daß eine neue Zeit für die Menschheit anhebt? Und auch sie war, verglichen mit dem erschütternden Dementi, das sie erlitt, nur eine Trunkenheit, eine Psychose, eine Massensuggestion, ein Blendwerk gewesen.
Wir haben also zwei große, einander entgegengesetzte Illusionen und beider Zusammenbruch erlebt, empfindlicher erlebt als andere Nationen: ist es zu verwundern, daß wir daran geistig niedergebrochen sind? Der wilde Haß, der in der deutschen Nation zwischen den zur Wiederermannung Eifernden und den dagegen Eifernden aufriß, die durcheinandergellenden Appelle an die nationale Erhebung von 1813 und an die internationale Erhebung von Moskau, der Kontrast zwischen den vor der Entente palmwedelnden Pazifisten und den Morden an unseren eigenen Politikern, die leidenschaftlichste Trauer um die verlorene Selbständigkeit der Nation gleichzeitig mit unerlaubten Auslandsgeschäften, Florieren der Schieber, der Tanzsäle und tausenderlei wenn selbst nicht unerlaubtem, so doch unangebrachtem Gedeihen, endlich die ungeheure seelische Ermattung und der Zerfall der Nation in müde, mürrische, einander fremd gewordene Teile: das entspricht nicht mehr bloß der Schwere erlittener materieller Verletzungen, sondern zeigt die geistige Erschütterung an.
IV
Zur Wiederaufrichtung gehört wohl eine klare und feste Seele; ist es richtig, daß jene Illusionen und ihr Zusammenbruch uns geschwächt haben, und daß wir eigentlich an einem seelischen Vakuum leiden, so haben wir wenig Dringenderes zu tun, als uns mit ihnen auseinanderzusetzen.
Wie falsch die leider oft in Deutschland zu hörende Schulbubenausrede: Wir haben's nicht getan! Sondern die Kaiser, die Generäle, die Diplomaten! Natürlich haben wir's getan: wir haben es gewähren lassen; es hat es getan, ohne daß es von uns gehindert worden wäre. Bei uns wie bei den andern. Wie falsch auch die andere oft zu hörende Rede: wir hätten bloß nicht genug Festigkeit gehabt und hätten uns betören lassen. Das übersieht das wahrhaft Neue, zu dem sich damals der Wille bilden wollte. Wenn man aber die Verhandlungen von Versailles in den französischen Blättern nachliest, so sieht man es sich listig, nein fast mechanisch, hilflos und mit Notwendigkeit gegenbilden, was diesen Willen bezweifelte, so wie er auch bei uns bezweifelt wird, verdächtig machte mit alten Erfahrungen und ihn mit einer Mentalität umfing, deren Apparat nicht anders konnte, als die junge Saat zerdrücken. Versailles war ein Brennspiegel des europäischen politischen Denkens. Der einzelne aber war der gleiche vor 1914, im Sommer 1914, bei Brest-Litowsk, bei den vierzehn Punkten, in Versailles; der gleiche in Frankreich und Deutschland; er hat bloß die entsetzlichsten Gegensätze erlebt, fast ohne die Übergänge zu merken; er hat sich bloß als zu allem fähig erwiesen und hat es gewähren lassen; bei voller Illusion eigenen Willens folgte er willenlos. Wir haben's getan, sie haben's getan; das ist keiner, das ist »Es«.
Betrachten wir dieses Es.
Daß der Wille der Gesamtheit nicht die Summe der Einzelwillen darstellt, ist nichts Neues; wenn nicht früher, so findet man bei Lagarde diesem Gedanken Wichtigkeit beigemessen, und seither ist er ein oft erörtertes und genau untersuchtes Thema geworden. Selbst eine Urabstimmung drückt nicht allein die Stimme der Befragten aus, sondern auch die des dazu aufgebotenen Apparats, und so sind alle Äußerungen eines Volks nicht nur es selbst, sondern sind mitbestimmt von seinen Apparaten der Bürokratie, der Gesetze, der Zeitungen, der wirtschaftlichen und ungezählter anderer Einrichtungen bis in die scheinbar individuellsten und doch teilweise abhängigen Leistungen der Literatur hinein. Ein Volk ist die Summe der einzelnen plus ihrer Organisation, und da diese Organisation in vieler Hinsicht ein selbständiges Leben führt, so ergibt sich – nimmt man noch die in hohem Maß zufällige Zusammensetzung der öffentlichen Ideenatmosphäre eines bestimmten Augenblicks hinzu – jenes Es, von dem die Rede war. Seine Bildung soll in der Folge als genügend bekannt und ungenügend durchschaut vorausgesetzt werden; es ist merkwürdig, wie wenig ausgenützt diese doch schon feststehenden Wahrheiten werden, und es würde nicht viel dazu beitragen, obgleich es sehr umfänglich wäre, wenn ich sie hier wiederzugeben versuchte.
Hingegen ist das ideologische Gewand, in dem dieses Es auftritt, im Zeitpunkt vor einer Erneuerung mit pflichtschuldigem Argwohn zu betrachten.
V
Es dürfte nicht viele Menschen geben, welche, direkt befragt, Nation mit Rasse gleichsetzen würden – alle Welt weiß schließlich, daß die Nationen Rassengemische sind –, aber merkwürdigerweise wird trotzdem im Leben immer wieder ganz unbefangen der Begriff der Rasse dem der Nation unterschoben, und es wird mit ihm hantiert, als wäre er so eindeutig wie der Begriff eines Würfels: darin liegt die Erscheinung, welche hier betrachtet werden soll. Es ist mir ferne, mich über die Rassenfrage verbreiten zu wollen, aber um zu ihrer ethischen Bedeutung zu gelangen, ist es allerdings nötig, an die theoretische Eigenart des Rassegedankens anzuknüpfen.
Wenn sich von einem bestimmten Augenblick ab die Tische durch Zeugung statt durch Bestellung vermehren würden, so würden wir alsbald aus den jetzt lebenden Tischen (und zwar mit der gleichen Evidenz, mit der wir in einem Friesen den Friesen erkennen) die Rassen der vierbeinig-rechteckigen, der einbeinig-ovalen und dergleichen mehr Tischrassen entstehen sehn. Es wäre gar nichts geschehn, als daß je zwei Tische einen dritten zeugten, der ihnen nach einem bestimmten Mischungsgesetz der Eigenheiten ähnelte und die Eigenschaft besäße, sich in der gleichen Weise weiter fortzupflanzen. Daß dabei ein Teil der Eigenschaften während mehrerer Generationen bloß in den Keimanlagen weitergereicht werden kann, ohne sonst in Erscheinung zu treten, ändert gar nichts daran, daß sich alles nur zwischen und an Individuen abspielt. Bei der ganzen Angelegenheit hat die Rasse nichts zu tun, als daß sie schließlich da ist, weil sie gar nirgends anders sein kann; so wie der Regen da ist, wenn Tropfen vom Himmel fallen. Sie selbst hat keine andere Möglichkeit, in das reale Sein einzutreten, als durch die Individuen, und keine andere[n] Wirkungen als die Wirkungen von Individuen; eine solche Existenz ist aber eben eine nur gedachte, ein Kollektivbegriff. Natürlich gibt es Rassen, aber die Individuen bilden die Rasse.
Ist das der Sachverhalt, so ist seine Umkehrung durchaus nicht berechtigt, und diese fast theologische Verdrehung lautet: das Individuum wird von Rassen gebildet. Bekanntlich ist gerade diese Formel die des Alltagsgebrauchs.
Es bleibt nach ihr von einem Menschen so wenig übrig wie von einem Strumpf nach Abzug der sich verkreuzenden Maschen. Meist mag es ja nur eine Bequemlichkeit der Verständigung sein, wonach ein Mensch zuerst durch seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe gekennzeichnet wird – kann es die Familie X sein, warum also nicht auch die germanische Rasse? –, und es klingt uns heute schon fast natürlich, wenn Bismarck sagt, »das Fällen von Bäumen ist kein germanischer, sondern ein slawischer Zug«, oder ein jüdischer Kritiker von Wassermanns Buch Mein Weg als Deutscher und Jude behauptet, »es ist für einen Juden unmöglich, ein rein deutscher Künstler zu werden«: trotzdem ist es gerade in den harmlosen Fällen ein gefährliches Zugeständnis an eine lasterhafte Denkgewohnheit. Man kennt ja jene Literatur, die sie verursacht hat und von ihr verursacht wurde. Sie hat nicht Schädelindizes, Augenfarbe und Skelettproportionen, was nur wenig Menschen anlockt, zum Gegenstand, sondern Eigenschaften wie religiösen Sinn, Rechtlichkeit, staatsbildende Kraft, Wissenschaftlichkeit, Intuition, Kunstbegabung oder Toleranz des Denkens, von denen wir insgesamt kaum anzugeben wissen, worin sie bestehn, und spricht sie mit Hilfe eines anthropologischen Küchenlateins den angeblichen Rassen zu oder ab, weil sie glaubt, der Nation Würde durchs Ohr flößen zu können, wenn sie mit der Stimme der Jahrtausende vor ihr bauchredet.
Man wird nicht leugnen können, daß ein gut Teil unseres nationalen Idealismus in dieser Denkkrankheit besteht.
Wohin das führen muß, ist nicht schwer zu sehen. Wenn im Guten und Bösen für alles nicht der einzelne verantwortlich gemacht wird, sondern die Rasse, wirkt das genau so, wie wenn man sich immer auf einen anderen ausredet; die Folge ist nicht nur, daß Wahrhaftigkeit und intellektuelle Feinheit abstumpfen, sondern eine Entartung aller Keimzellen der Moral. Wo die Tugend durch Prädestination zum Nationaleigentum erklärt wird, ist der Weinberg des Herrn expropriiert, und niemand braucht fortab in ihm zu arbeiten. Es wird dem einzelnen vorgeschmeichelt, er besitze alles Wünschenswerte, so er sich nur auf die Tugenden seiner Rasse besinne: offenbar ein moralisches Schlaraffenland, unser glückliches Deutschland, wo die gebratenen Tugenden ins Maul fliegen!
Schwieriger scheint sich erkennen zu lassen, woher es kommt. Man sagt Antisemitismus, aber das ist fast nur ein anderes Wort für die Erscheinung selbst; das Wesentliche ist, daß sich hinter ihr ein echter Idealismus birgt, ein typischer Fall jenes regressiven Ideenbedürfnisses, das jeden Gedanken auf ältere, ewige, für erhaben geltende zurückbezieht statt ihn auszudenken; kurz eben das, was hierzulande für Idealismus gilt. Das erzeugt den Menschen mit dem festen Rezept und den erhaben einfachen Regeln, der sich des geistigen Erlebens überhebt, den Pharisäer. Es ist bei uns ein sonderbares und äußerst gefährliches Verhältnis entstanden: die Respektlosigkeit vor dem Geist im Namen des deutschen Geistes. Weite – und fast möchte man sagen die bestwilligen – Kreise unseres Volks haben es verlernt, eine Leistung nach ihrem Gehalt zu empfinden, und prüfen sie nur nach ihrer Herkunft und darauf, wie sie ins System der Vorurteile paßt; es wird das Weite am Engen gemessen, der mannigfaltige Geist an einer seiner Ausgeburten; die Aufmerksamkeit hat sich von den Werten zu ihren Nebenumständen abgewendet, von der Wirklichkeit zur Hypothese, und es hat sich derer, die zu folgen berufen sind, eine sektiererisch anmaßende Besserwisserei bemächtigt. Da mit etwas so Urtümlichem, wie es die Rasse ist, überdies nur urtümliche Tugenden verknüpft sein können, werden schließlich auch die Geister, welche sich des gleichen Bluts berühmen dürfen wie ihre Richter, nicht mehr ans Ohr der Nation gelassen, falls sie nicht so schreiben wie Herr Walter Bloem oder so denken wie Herr Hilthy [= Carl Hilty?], also nicht treu, tapfer, keusch sind und mit weiteren fünf deutschen Indianertugenden ihr Auslangen finden. Auf diesem Wege des Idealismus ist der Rassengedanke zur deutschen Selbstbeschädigung geworden und saugt der Nation in jahrzehntelangem Mißbrauch das Mark aus.
VI
Unter allen ideologischen Bekleidungsstücken der Nation ist aber der Staat das leibhafteste. Fast möchte man schlechtweg sagen: er ist ihr Leib; aber er ist ja mehr, er ist ja leider fast auch ihre Seele. Siehe das alte kaiserliche Reich, siehe aber auch das neue Rußland. Er ist eine alle inneren Teile durch und durch wuchernde Schutzkapsel.
Es ist überaus merkwürdig, wie in der Geschichte des Denkens von den Griechen bis auf den heutigen Tag maßlose Hochstellung des Staates mit maßloser Tiefstellung fast in der Regelmäßigkeit von Pendelschwingungen wechseln. Er wird bald für die höchste menschliche Erziehungsanstalt oder den Inbegriff aller Güter angesehn, bald für den alles Höhere verschlingenden Leviathan, und wenn schon für unentbehrlich, so doch für ein unentbehrliches Übel. Es ist klar, daß so hartnäckige Widersprüche nicht nur theoretischer Natur sein können, sonst hätte sich im Lauf der Zeit, wie bei allen Verstandesfragen, ein Ausgleich herausgebildet. Sie erweisen sich auch als unabhängig von den großen Weltanschauungstypen; Hellas, das katholische Mittelalter und die Aufklärungszeit mußten gleichermaßen beiden Auffassungen in sich Raum geben. Da er nicht zu schlichten ist, hängt der Streit wahrscheinlich mit einem Gefühlsverhältnis zusammen; da er sich aber auch den tiefsten Unterschieden des Weltgefühls gegenüber als unbeeinflußbar erweist, dürfte er auf einen noch tieferen Unterschied hinabreichen; es liegt nahe, diesen in dem Gegensatz von Einzel- und Gesellschaftswesen zu suchen, der vor die Anfänge der menschlichen in die tierische Gesellschaft hinabreicht und von jedem in sich getragen wird. Jeder einzelne ist gespalten in Liebe und Haß der Gesellschaft gegenüber, wenn auch die Lebensumstände eines von beiden oft nicht bemerken lassen oder beide zur Gleichgültigkeit abschwächen.
Dieses widerspruchsvolle Verhältnis des Menschen zum Staat äußert sich nun auch in dem folgenden fürchterlichen Rechenexempel: Die einzelnen Menschen sind, wenn man auf die Übertreibungen der Rassenidee verzichtet, in den verschiedenen Staaten einander nahezu gleich; die Staaten sind, wenn man sie als Apparate miteinander vergleicht, auch nahezu immer dieselben – dennoch ergibt einzelne plus Staat jene vernichtenden Gegensätze, die sich in Kriegen entladen und zu Friedenszeiten in dem seltsamen Zeremoniell von Gesandtschaften, Noten, Empfängen und Demarchen äußern, das so genau dem ähnelt, nach welchem Hunde auf der Straße einander begegnen. Sucht man diesen Widerspruch, daß die gleichen Menschen, in gleicher Weise organisiert, einen dauernden Gegensatz bilden, aufzulösen, so kann seine Ursache nur in der Art der Organisation zu suchen sein. Schon die flüchtigste Prüfung unter dieser Fragestellung ergibt vor allem, daß der Staat so etwas wie eine verhärtete Haut ist, eine geschlossene Fläche, welche den größeren Teil der in ihrem Raum wirkenden Kräfte nach innen zurückwirft und nur den weitaus kleineren durchläßt; ein Isolator; Meinungsaustausch, Verkehr, geistige Organisation, kirchliche Gemeinschaft, selbst Sozialismus, dieser aller »Kraftfelder« sind außen sehr viel verdünnter als innen. Es kommt dies daher, daß nahezu nur der Staat wirksame »Organe« ausgebildet hat; die Nation hat ja fast keine; die, welche sie hat, sind der Staat. Deshalb denkt, fühlt, entscheidet, handelt er in den meisten Fällen für die einzelnen mit einer Generalprokura, die sich jeder Kontrolle entzieht; denn die Kontrolle ist, wenn man den Begriff des Staates nur in genügend weitem Sinn nimmt, wieder er selbst. Es bilden ja nicht nur die Regierung und die Exekutive diesen Apparat des sogenannten gemeinsamen Willens, sondern auch die Parteien und die Interessenvertretungen jeder Art; es besteht da ein durchgehendes, sozusagen histologisches Aufbaugesetz, wonach die Elemente der Organisation wieder nur Organisationen sind, und es wird anscheinend desto fühlbarer, je weiter ins Demokratische die Entwicklung geht. Demokratie ist nicht Herrschaft des Demos, sondern seiner Teilorganisationen.
Immer aber, wenn eine Gruppe für die einzelnen handelt, wird ein Rest zu finden sein, ein Opfer, eine Duldung; nur dann nicht, wenn ein starker Schwung, die Einstellung auf eine besondere Leistung, ein erregter Herzschlag sie wegspült, nicht zu Bewußtsein läßt. In so großen, inhomogenen, gealterten Gruppen, wie sie die Staaten sind, wird das nur in besonders gehobenen Augenblicken geschehn; gewöhnlich »drückt« der Staat den Menschen, wo er mit ihm in Berührung kommt. Man braucht also kein Antietatist zu sein und kann die große Bedeutung des Staates voll anerkennen, so bleibt es doch angesichts dieser Verhältnisse eine tatsachenwidrige Ideologie, in ihm den Vertreter der höchsten, weil allen gemeinsamen Güter zu sehn und ihm dafür eine Art Überwillen zuzusprechen oder ihn für irgendeine Art menschlicher Vervollkommnungsanstalt zu halten. Das ist ein Ideenrest aus der Zeit des Obrigkeitsstaats, der sich in die Sprüchlein der Erzieher des jungen Deutschen Reichs gerettet hatte und leider auf dem besten Wege ist, im Sozialismus wieder aufzuleben, dessen Ethik im Altruismus einer Brüderschaft steckenzubleiben scheint. Es ist auch ein Fall jenes »Überwälzungsidealismus«, der die Würde, die der Mensch für sein persönliches Leben nicht zu gewinnen vermag, auf dessen Hintergrund überträgt, auf die Rasse, auf seinen Kaiser, auf einen Verein, auf die Erhabenheit des Sittengesetzes oder sonst eine Tapete.
VII
Das gewöhnliche Verhältnis des einzelnen zu einer so großen Organisation, wie sie der Staat darstellt, ist das Gewährenlassen; überhaupt repräsentiert dieses Wort eine der Formeln der Zeit. Das Zusammenleben der Menschen ist so breit und dick geworden, und die Beziehungen sind so unübersehbar verflochten, daß kein Auge und kein Wille mehr größere Strecken zu durchdringen vermag, und jeder Mensch außerhalb seines engsten Funktionskreises unmündig auf andere angewiesen bleibt; noch nie war der Untertanenverstand so beschränkt wie jetzt, wo er alles schafft. Ob er möchte oder nicht, muß der einzelne gewähren lassen und tut nicht. Es ließ der Engländer und Amerikaner nicht die Kinder in Mitteleuropa verhungern, sondern er ließ es bloß zu, und wir selbst haben unseren Teil an den Greueln nicht getan, selbst wenn wir die Täter waren, sondern wir haben ihn bloß zugelassen. Wenn man das ändern will, muß man sich aber auch klarmachen, wie notwendig es ist. Wer glaubt – und es scheinen nicht wenig und gerade die eifrigsten Seelen zu sein –, daß da etwas statt durch kaltblütige Organisation von der Wärme des Herzens her zu richten wäre, der schlage an einem beliebigen Morgen seine Zeitung auf und lese, was es alles darin an einem einzigen Tag an Leid und Unglück gibt, das zu verhindern möglich wäre: und wenn er das alles nicht zulassen wollte, ja wenn er bloß die Fähigkeit besäße, es sich leibhaft deutlich zu machen, nein, nur so weit deutlich zu machen, wie es das Wort »mitfühlend« von jedem Menschen verlangt – er würde ein Narr werden! – Das aktive Gegenstück zu diesem Gewährenlassen ist die summarische, allgemeine, aktenmäßige Behandlung menschlicher Fälle; der Akt ist das Symbol der indirekten Beziehung zwischen Staat und Mensch. Er ist das geruch-, geschmack- und gewichtslos gewordene Leben, der Knopf, den man drückt, und wenn deshalb ein Mensch stirbt, so hat man es nicht getan, weil das ganze Bewußtsein von der schwierigen Handhabung des Knopfes erfüllt war; der Akt, das ist das Gerichtsurteil, der Gasangriff, das gute Gewissen unserer Peiniger, er spaltet den Menschen aufs unseligste in die Privatperson und den Funktionär, aber seine Indirektheit der Beziehung ist unter heutigen Verhältnissen eine anscheinend unentbehrliche Hygiene.
Der einfache Mensch korrigiert das darauf ruhende Mißgebilde, indem er stiehlt und auf belieb[ige] Weise die ihm gemachten Vorschriften hintergeht. In der Tat bleiben außerhalb dieses Systems eigentlich nur illegitime und fast als unerlaubt anrüchige Einflüsse: der freie Wirtschafts-, Meinungs- und Lebensverkehr. Es bilden sich immer wieder trotz aller Widerstände Gedanken, die schließlich der Entwicklung eine kleine Änderung geben; auf die verstaatlichte Kirche wirken Häretiker ein, auf den verstaatlichten Geist das freie Schrifttum, und vor allem sind es die Süchte, – darunter beherrschend und regelnd die nach dem Geld –, welche das menschliche Gegengewicht zur Organisation bilden. Sie sollten nicht nur angeklagt, sondern verstanden werden als das luziferische Korrektiv zu dem sehr unvollkommenen Gotte Staat. Augustinus schied zwischen dem Staat und der civitas dei, der Sphäre des Gottesreichs, wo sich der einzelne Mensch jedem Zugriff der Allgemeinheit entzieht. Heute stürzt sich die civitas dei ins Kino, gibt die Existenz hin für den Jimmy und schiebt mit Devisen unbekümmert den Staat an den Rand des Grabs. Das ist natürlich Entartung; es ist aber wichtiger, sich einzugestehn, daß es nach der anderen Seite bloß Kehrseite des Staates ist, etwas in seinem Wesen Begründetes, das in den Dombau eingemauerte spukende Menschenopfer.
Die Existenz der Nation war weder als Rasse noch in der Form des Staates zu finden; in diesen beiden hat man sie aber tatsächlich gesucht: der deutsche Gedanke stützte sich entweder auf Rassenphantasien oder auf eine Aufopferungsphilosophie für die Summe aller Summen, welche der Staat sein sollte, fast auf eine Art individueller Erbsündigkeit, die nur durch das Aufgehen im Ganzen abgelöst werden könne. Es blieb außerhalb dieser beiden als Drittes die civitas dei, und ihr entspricht als dritte der Fassungen, eben schon berührt, die Nation als Geist. Unsere Ciceros sagen: die überpersönlichen ideellen Güter, der Gemeinschaftsgeist, die dem gemeinsamen Willen entsprossenen Einrichtungen, die gemeinsame Kulturtradition (worin der Komplex Staat nur einen Teil ausmacht) integrierten die Nation. Ohne das leugnen zu müssen, was viel Richtiges enthält, ist es erlaubt, dem ein doch wohl richtigeres Bild entgegenzustellen. Welcher Geist ist denn etwa einer Universität mit einem Zuchthaus gemeinsam – und es sind doch zwei Anstalten, in denen heute die Exponenten der beiden am stärksten entwickelten Tüchtigkeiten stecken? Welcher Geist Herrn Anton Wildgans mit Nietzsche? Gewiß einer, aber das wird so schwer festzustellen sein, daß man ihn besser beiseite läßt. Man achte lieber darauf, daß es da zuhauf viele Millionen Einzelner gibt, die innerhalb eines recht auseinanderklaffenden Zeitraums den Kopf in eine Welt gesteckt haben, welche sie dem Grad und der Art nach sehr verschieden verstehen, von der sie ganz Verschiedenes wollen, von der sie nicht viel mehr sehen als den Faden ihres Erwerbs und einen großen, beziehungslosen Lärm hören, in dem hie und da etwas anklingt, das sie die Ohren spitzen macht. Diese ungeheure, ungleichartige Masse, der sich nichts ganz eindrücken kann, die sich nicht ganz ausdrücken kann, deren Zusammensetzung täglich ebenso wechselt wie die der sie treffenden Reize, diese zwischen fest und flüssig schwankende Masse, Nicht-Masse, dieses Nichts ohne feste Gefühle, Gedanken und Entschluß ist, wenn auch nicht die Nation, so doch die ihr Leben eigentlich erhaltende Substanz.
Von ihr selbst wird jene ideelle Einkleidung als ein falsches »Wir« empfunden. Es ist ein Wir, dem die Wirklichkeit nicht entspricht. Wir Deutsche, das ist die Fiktion einer Gemeinsamkeit zwischen Handarbeitern und Professoren, Schiebern und Idealisten, Dichtern und Kinoregisseuren, die es nicht gibt. Das wahre Wir ist: Wir sind einander nichts. Wir sind Kapitalisten, Proletarier, Geistige, Katholiken . . . und in Wahrheit viel mehr in unsere Sonderinteressen und über alle Grenzen weg verflochten als untereinander. Der deutsche Bauer steht dem französischen Bauern näher als dem deutschen Städter, wenn es darauf ankommt, was reell ihre Seelen bewegt. Wir – jede Nation für sich allein – verstehen einander wenig und bekämpfen oder betrügen uns wo wir können. Unter einen Hut sind wir allerdings dann zu bringen, wenn er auf dem Kopf einer anderen Nation eingetrieben werden soll; dann freilich sind wir beseligt und haben ein mystisches Gemeinsamkeitserlebnis; aber man darf annehmen, daß die Mystik dieses Erlebnisses darin besteht, daß es so selten für uns eine Realität ist. Noch einmal: das gilt ebensogut für die anderen wie für uns Deutsche; aber wir Deutsche haben in unseren Krisen den unschätzbaren Vorteil, daß wir die wahre Zusammensetzung deutlicher erkennen können als sie, und auf diese Wahrheit sollten wir unser Vaterlandsgefühl aufbaun und nicht auf die Einbildung, daß wir das Volk von Goethe und Schiller oder von Voltaire und Napoleon sind.
Es bleibt immer und zu allen Zeiten ein Gefühl mangelnder Deckung zwischen öffentlichem und eigentlichem Leben; kann aber überhaupt irgend etwas von öffentlichem Geschehen dessen wahrer Ausdruck sein? Bin denn selbst ich Einzelner das, was ich tue, oder ist es ein Kompromiß zwischen unartikulierten Kräften in mir und bereitstehenden, umformenden Formen für die Verwirklichung? Beim Verhältnis zum Ganzen gewinnt diese kleine Differenz vertausendfachte Bedeutung. Eine unnatürliche Interessenverknüpfung kann außer durch träges Beharren nur durch gemeinsames Interesse an der Gewalt gegen andre zusammengehalten werden, es muß nicht gerade die Gewalt des Kriegs sein. Wenn man aber sagt, in den Zeiten von Kriegsausbrüchen seien Massensuggestionen im Spiel, so ist das nur als das Zerbersten einer Ordnung an ihren ungewollten vernachlässigten Spannungen zu verstehn. Dieser explosive Aufschwung, mit dem sich der Mensch befreite und, in der Luft fliegend, sich mit seinesgleichen fand, war die Absage an das bürgerliche Leben, der Wille lieber zur Unordnung als zur alten Ordnung, der Sprung ins Abenteuer, mochte es noch so moralische Namen erhalten. Der Krieg ist die Flucht vor dem Frieden.
VIII
Gerade gesprochen, ist die Nation eine Einbildung, in allen Fassungen, die man ihr gab.
Es fällt nicht leicht, sich das einzugestehn in einer Zeit, wo andere Nationen sich in ihrer Illusion blähen und uns Menschen deutscher Sprache die Solidarität der Entrechtung, Ausbeutung und Verschleppung in Sklaverei auferlegt haben. Man wird daher einwerfen, selbst wenn Vaterlandsgefühl, Nation und dergleichen nur Illusionen sein sollten, so bliebe dies doch jetzt besser verschwiegen. Unabhängig davon, ob es eine Nation gibt oder nicht, hat die Annahme, daß es sie gebe, einen Wert, ja gerade, weil nicht geleugnet werden kann, daß es in der Praxis mit der Einheitlichkeit der Nation nicht weit her sei, könne gar nicht suggestiv genug von ihrem Vorhandensein gesprochen werden. Es werden das besonders jene sagen, welche in der Nation ein Ideal sehen, das nur in ferner Zukunft verwirklicht werden kann und von Zeit zu Zeit dem Volk gezeigt werden muß, damit es dieses läutere. Aber ein Ideal wie dieses, das sich in Wirklichkeit zu einer läuternden Suggestion sozusagen nur an Feiertagen entfaltet hat und bei Gelegenheiten vom Rang einer Mobilisierung, hat das gleiche Verhältnis zum Menschen wie ein Haus, in dem ein Mann nur alle Schaltjahrspfingsten schläft, während er es sonst vorzieht, auf der sumpfigen Wiese daneben zu schlafen; etwas, das so wirkt, kann nicht unbedingt gut und geeignet sein.
Ja, man kann sagen, alles, was wir bisher sehen mußten, war eigentlich nur ein Spezialfall eines falschen Gebrauchs vom Idealen! So wie die Annahme einer Rasse nicht progressiv aufgefaßt wurde als etwas, worauf man zielen kann, sondern regressiv als ein mystischer Fetisch, wurde der Staat erhöht, indem man ihn dem Verlangen entrückte, ihn für respektlos verbesserbar wie eine Wohnungseinrichtung zu halten, und es wurde der Begriff der Nation nicht institutiv als etwas zu Bildendes zugegeben, sondern konstitutiv als etwas Vorhandenes behauptet, das sich bloß nicht rein äußert. Das ist ein Gebrauch, den wir von allen unseren Idealen machen, wahrscheinlich Rest aus Zeiten, wo es noch schwer war, den einfachsten Regeln Beachtung anders zu schaffen, als indem man sie für tabu erklärte. Dieses prähistorische Tabugepräge trägt noch heute unsere Ethik. Wir stabilisieren unsere Ideale wie die platonisch-pythagoräischen Ideen, unverrückbar und unveränderlich, und wenn die Wirklichkeit ihnen nicht folgt, so sind wir imstande, dies gerade als das Kennzeichnende der Idealität anzusprechen, daß die Wirklichkeit nur ihre »unreine« Verwirklichung ist. Der schwer berechenbaren Kurve des Seins bemühen wir uns das starre Vieleck, das durch unsere moralischen Fixpunkte geht, zu unterlegen, indem wir in immer neuen Ecken die Geradheit unserer Grundsätze brechen, ohne doch je die Kurve zu gewinnen. Mag sein, daß das innere Leben ein ebensolches Bedürfnis nach festen Beziehungspunkten hat wie das Denken; aber als Ideale haben uns diese dahin geführt, wo es weiter kaum mehr geht, da man – wie jedermann weiß – jedem Ideal so viele Einschränkungen und Widerrufe auferlegen muß, um es der Wirklichkeit zu nähern, daß kaum noch etwas von ihm übrigbleibt. Wenn ein weißer Grund ganz von dunklen Flecken bedeckt ist, wird der Augenblick kommen, wo man mit einem dunklen Grund und weißen Flecken in Gedanken arbeitet; auf ethischem Gebiet ist man noch weit davon. Dieses »Paktieren« mit der Wirklichkeit ist leider gerade das Gegenteil von dem, worin unsere Idealisten die Idealität erblicken. Ich nenne es Idealismus, die Wirklichkeit nach Ideen zu formen (und nur in zweitem Grade Idealismus, den durchgesetzten Ideen zu folgen so lange, bis die nächste Verwirklichungsstufe erreicht ist); wenn daher das Leben einem System von Idealen nicht folgt, so vermag ich in ihnen nicht viel Idealismus zu erkennen. Man sehe nur endlich ein, daß das Leben nicht aus Unfolgsamkeit nicht folgt, wie in der Schule, sondern daß die Fehler bei den Idealen liegen müssen.
Eine Moral, die heute nicht bloß ein Flickwerk sein will – meinethalben eine bloß »zivilisatorische« Moral mit Verzicht auf den schönen Atavismus Kultur, dessen Widerlegung man sich beiläufig aus dem Vorhergehenden ableiten kann –, muß sich auf der Ungestalt aufbaun, welche die europäische Zivilisation und das ungeheure Wachstum ihrer Beziehungen dem Menschen gegeben haben. Ich glaube, daß das seit 1914 Erlebte die meisten gelehrt haben wird, daß der Mensch ethisch nahezu etwas Gestaltloses, unerwartet Plastisches, zu allem Fähiges ist; Gutes und Böses schlagen bei ihm gleich weit aus, wie der Zeiger einer empfindlichen Waage. Es wird voraussichtlich damit noch ärger werden, und die Menschen werden den heute um sie gelegten, ohnedies halb ohnmächtigen ethischen Klammern immer mehr entgleiten. Denn man darf sich den Menschen wohl ursprünglich als ein Geschöpf denken, das ebenso gern gut wie bös ist, nämlich sozial wie egoistisch (beiseite gelassen, ein wie großer Einschlag von Egoismus noch zum Sozialen gehört); aber die Interessen, in welche er heute verflochten wird, sind zu viele, und die Undurchdringlichkeit um ihn, die ungenügende geistige Reizleitungsfähigkeit des sozialen Körpers bringt es mit sich, daß im Augenblick jeder Handlung immer nur ein kleiner Bruchteil der möglichen ethischen Determinanten auf ihn einwirkt. Darum hat heute jedes ethische Geschehen, wenn es wirklich erlebt wird, »Seiten«; nach der einen ist es gut, nach der anderen bös, nach einer dritten irgend etwas, von dem erst recht nicht feststeht, ob es gut oder bös ist. Gut erscheint nicht als Konstante, sondern als variable Funktion. Es ist einfach eine Schwerfälligkeit des Denkens, daß wir für diese Funktion noch keinen logischen Ausdruck gefunden haben, der dem Bedürfnis nach Eindeutigkeit genügt, ohne die Vieldeutigkeit der Tatsachen zu drücken; die Sittlichkeit wird so wenig an ihm zusammenbrechen wie die Mathematik daran gestorben ist, daß die gleiche Zahl das Quadrat zweier verschiedener Zahlen sein kann.
IX
Diese Moral, die unsren Tatsachen gewachsen wäre, haben wir natürlich nicht. Immerhin fordert schon das Bewußtsein des Übergangs, weder Staat noch Nation als Ideale zu behandeln, sondern einfach als Gegenstände, welche ihren Zwecken zu entsprechen haben. Über diese Zwecke, welche sich mit der Zeit ändern, kann aber kein einzelner Bindendes sagen, außer: man überlasse es der Zivilisation, sie aus sich selbst zu entwickeln. Das heißt aber, wenn man in menschlichen Angelegenheiten den richtigen optimistischen Pessimismus hat – und weder glaubt, daß mit Mythos, Intuition und Klassizität einem Geschlecht von Maschinenbauern und ‑händlern zu helfen ist, noch die Kräfte übersieht, welche sogar in den Mißbräuchen dieser Zivilisation toben –, es den Menschen selbst zu überlassen, soweit es nur irgend mit dem Zusammenleben verträglich ist, sich ihren Weg für sich zu suchen und ihren eigenen Interessen zu folgen. Es ist das ein Prinzip, das wir doch schon in der Kinderschule anwenden, weil sich gezeigt hat, daß man dadurch bessere Schüler erzieht, und das wir nur endlich einmal auf die Mündigen zu übertragen brauchten. Proletarier, Kapitalisten, Ichthyologen, Maler und so weiter, das sind schon heute die natürlichen Weltverbände, die in sprachlich nationalem Zusammenschluß eigentlich bloß einen Unterverband darstellen. Die Auffassung, daß das Wirtschaftsleben eine internationale Einheit bildet, und daß staatsegoistische Wirtschaftspolitik statt Arbeitsorganisation im großen treiben, eine kurzsichtige Schikane darstellt, beginnt sich langsam durchzusetzen; braucht man Beweise für die tatsächlich bestehende Internationalität der geistigen Interessen hinzuzufügen? Diplomatische Konferenzen zwischen den Staaten über den Abbau ihrer Gegensätze weisen ein derart lächerliches Mißverhältnis zwischen Erfolg und Aufwand auf, daß man wirklich auf die Idee kommen muß, diese Organisationen seien nicht geeignet, die Entwicklung über den bisher erreichten Zustand hinauszuführen, und der Völkerbund in seiner jetzigen Form eines Staatskonviviums erweist sich immer mehr als eine Groteske. Den Staat abzuwerfen, gelänge aber nur durch die Weltrevolution: ist das Programm für das Leben nach diesem Tode der alten Ordnung fertig, oder erwartet man nicht fast, daß durch recht langes revolutionäres Denken die Evolution einem die Verantwortung der Entscheidung abnehmen werde? Einer natürlichen Gliederung der menschlichen Gesellschaft steht aber nichts ärger im Weg als die Überhebung der beiden Ideale Nation und Staat über den Menschen. Es bleibt nichts übrig, als an der Verstärkung des an ihnen sich vorbei Entwickelnden zu arbeiten und den Gedanken an ihre Überholtheit zu wecken und wach zu erhalten.
Man kann einwenden, daß überall dort, wo internationale Verbindungen sich zur Bedeutung durchkämpfen, schwerste materielle Interessen hinter ihnen stehn, und daß jede Organisation, da sie großer Mittel bedarf, auch nur dort zustande kommen kann, wo ein großer materieller Erfolg im Spiel steht. Man braucht ferner nur einen Blick auf die innere Politik zu werfen, um zu sehen, wie alles Ideelle nicht geht, wie nur die dicksten Interessen die Menschen zusammenzuhalten vermögen, und wie lästerlich gepaart in unsren politischen Parteien sich gealterte Ideenschönheiten von stofflichen Bedürfnissen aushalten lassen. Man sagt sich endlich, daß selbst die innere Rechtsordnung, welche der Ursprung jeder Zivilisation ist, nur durch eine sie ursprünglich setzende Gewalt geschaffen werden konnte, und daß sich auch im Bolschewismus die Gewalt zur Trägerin der Idee machen zu müssen glaubt. Möglich, daß auch die Seite einer zeitgemäßen Lebensform, von der hier die Rede ist, nicht ohne Gewalt zu erreichen sein wird. Aber Ideen weisen der Zukunft überhaupt nicht den Weg, sondern nur die Richtung; sie sind Netze, die einfangend über die Zukunft geworfen werden, von der sie immer zum Teil und nie ganz zerrissen werden. Welche Zukunft haben wir denn? Uns mit der Zeit über erlittene Unbill durch Wiederdickwerden zu trösten? Revanche, ohne die uns entrückten weltpolitischen Ziele? Oder: ein weltpolitisches Ziel zu schaffen! Bei Kriegsausbruch hat die Kirche versagt, hat der Sozialismus versagt, beide unter dem Druck einer Entweder-oder-Ideologie, die eine Aberideologie war. Das Volk, welches am frühsten beginnt, aus der Sackgasse des Imperial-Nationalismus herauszufinden zu einer neuen möglichen Weltordnung und allen seinen Maßnahmen diesen Atem der Zukunft zu leihen vermag, wird bald die Führung der Welt haben und seine berechtigten Wünsche durchsetzen können. Heute kann niemand noch den Weg dahin im einzelnen vorzeichnen; wohl aber gilt es, die Gesinnung zu schaffen, die auf den Weg führt.