Musil Robert: Der Mann ohne Eigenschaften - Musil über Spengler

Beitragsseiten

Geist und Erfahrung

Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind

[1921] Zitiert aus Projekt Gutenberg

I

Schiller in der Abhandlung über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen: »Belletristische Willkürlichkeit im Denken ist freylich etwas sehr Übles.«

Mathematische Kapitel aber haben vor andren den Vorzug, daß sie diese bei belletristischen Geistern sich auf jedem Wissensgebiet rasch einstellende imitatorische Belesenheit von Sachlichkeit leicht unterscheiden lassen. Spengler schreibt: irgend etwas »mag in den populären Teilen einer Mathematik weniger hervortreten, aber die Zahlengebilde höherer Ordnung, zu denen jede von ihnen . . . alsbald aufsteigt, wie das indische Dezimalsystem, die antiken Gruppen der Kegelschnitte, der Primzahlen und der regelmäßigen Polyeder, im Abendland der Zahlkörper, die mehrdimensionalen Räume, die höchst transzendenten Gebilde der Transformations- und Mengenlehre, die Gruppe der nichteuklidischen Geometrien . . .« usw. und das klingt so gewiegt, daß ein Nichtmathematiker sofort durchschaut, so kann nur ein Mathematiker reden. Aber in Wahrheit ist, wie Spengler da Zahlengebilde höherer Ordnung aufzählt, nicht fachkundiger als ob ein Zoologe zu Vierfüßlern die Hunde, Tische, Stühle und Gleichungen vierten Grades zusammenfassen würde! Oder Spengler schreibt: »Aus dieser großartigen Intuition . . . folgt die letzte und abschließende Fassung der . . . abendländischen Mathematik, die Erweiterung und Vergeistigung der Funktionentheorie zur Gruppentheorie.« Aber in Wirklichkeit ist die Gruppentheorie gar keine Erweiterung der Funktionentheorie! Oder Spengler definiert: »Gruppen sind . . .«, aber was er definiert, sind keine »Gruppen«, sondern unter Umständen eine »Menge« und sonst überhaupt nichts Präzises! Definiert er aber eine »Menge«, nämlich »den Inbegriff einer Menge gleichartiger Elemente«, irrt er sich und glaubt, daß dies die Definition eines Zahlkörpers sei! Oder er schreibt: »Innerhalb der Funktionentheorie dagegen ist der Begriff der Transformation von Gruppen von entscheidender Bedeutung und der Musiker wird bestätigen, daß analoge Bildungen einen wesentlichen Teil der neueren Kompositionslehre ausmachen«, aber natürlich gibt es den Begriff Transformation von Gruppen in der Funktionentheorie überhaupt nicht, sondern es gibt nur den geistigen Gegenstand Transformationsgruppen und den nicht in der Funktionentheorie, sondern in der Gruppentheorie. Was gleichzeitig ein Beispiel für die Universalität und den Stil der Beweisführung ist.

II

Man kann nach solchen Beispielen wohl nicht glauben, daß ich mich auf Buchstabengerechtsame versteife. Aber man wird es tun. Denn es besteht in – ich möchte das Wort geistig gebrauchen – sagen wir also in geistigen Kreisen, – ich meine aber die der Literatur, ein günstiges Vorurteil über Verstöße gegen Mathematik, Logik und Genauigkeit; sie werden unter den Verbrechen wider den Geist gern zu den ehrenvollen politischen gezählt, wo der öffentliche Ankläger eigentlich in die Rolle des Angeklagten gerät. Seien wir also generös. Spengler meint es quasi, arbeitet mit Analogien und in irgendeinem Sinne kann man da immer recht haben. Wenn ein Autor die Begriffe durchaus mit falschen Namen belegen oder selbst verwechseln will, so kann man sich schließlich daran gewöhnen. Aber ein Chiffrenschlüssel, irgendeine zuletzt eindeutige Verbindung des Gedankens mit dem Wort muß durchgehalten werden. Auch diese fehlt. Die vorgeführten, ohne lang suchen zu müssen aus vielen herausgegriffenen Beispiele sind nicht Irrtümer in Einzelheiten, sondern eine Art des Denkens!

Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen; in gewissem Sinn kann man also sagen: Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese. Falter wie Chinesen sind bekannt als Sinnbilder der Wollust. Zum erstenmal wird hier der Gedanke gefaßt an die noch nie beachtete Übereinstimmung des großen Alters der Lepidopterenfauna und der chinesischen Kultur. Daß der Falter Flügel hat und der Chinese keine, ist nur ein Oberflächenphänomen. Hätte ein Zoologe je auch nur das geringste von den letzten und tiefsten Gedanken der Technik verstanden, müßte nicht erst ich die Bedeutung der Tatsache erschließen, daß die Falter nicht das Schießpulver erfunden haben; eben weil das schon die Chinesen taten. Die selbstmörderische Vorliebe gewisser Nachtfalterarten für brennendes Licht ist ein dem Tagverstand schwer zugänglich zu machendes Relikt dieses morphologischen Zusammenhangs mit dem Chinesentum. –

Was mit solchen Mitteln bewiesen werden soll, ist ja eigentlich ganz gleich; ich wollte am Beispiel der Mathematik zeigen, von dem Spengler selbst sagt, daß es das einzige sei, an dem sich seine Beweisführung erhärten lasse, welches Vertrauen sie verdient.

III

Ich übergehe zu den erkenntnistheoretischen Schlüssen, die Spengler aus der Betrachtung der Physik zieht.

Er behauptet, »daß schon Worte wie Größe, Lage, Prozeß, Zustandsänderung spezifisch abendländische Bilder darstellen, die den Charakter der wissenschaftlichen Tatsachen, die Art des Erkanntwerdens beherrschen, ganz zu schweigen von komplexen Begriffen wie Arbeit, Spannung, Wirkungsquantum, Wärmemenge, Wahrscheinlichkeit, welche jeder für sich eine physikalische Gesamtanschauung in nuce enthalten«. »Das Experiment, die systematische Handhabung der Erfahrung ist höchst dogmatisch; ein spezieller Naturaspekt ist schon vorausgesetzt.« »Der in sich geschlossene, höchst überzeugende Komplex unumstößlicher Wahrheiten ist in einem sehr bedeutsamen Sinne von dem Entwicklungsgang, den allgemeinen, nationalen und privaten Schicksalen . . . abhängig. Jeder große Physiker, der als Persönlichkeit seinen Entdeckungen doch immer eine eigene Richtung und Farbe gibt, jede Hypothese, die ohne einen individuellen Beigeschmack ganz unmöglich ist, jedes Problem, das in die Hände gerade dieses und keines andren Forschers geriet, bedeuten ebensoviele Schicksalsfügungen für die Gestalt der Lehre. Wer das bestreitet, der ahnt nicht, wie viel Bedingtes in den absoluten Momenten der Mechanik steckt.«

Mit solchen Bemerkungen hat Spengler, von einigen Zweideutigkeiten abgesehen, vollkommen recht. Er irrt sich nur darin, daß er sie für neu hält; ihr Inhalt ist jedem, der von den erkenntnistheoretischen Arbeiten der letzten fünfzig Jahre etwas weiß, geläufig.

Wenn er aber daraus folgert, es handle sich bei physikalischen Entscheidungen »um Stilfragen . . . Es gibt physikalische Systeme, wie es Tragödien und Sinfonien gibt. Es gibt hier Schulen, Traditionen, Manieren, Konventionen wie in der Malerei«: so macht er aus einem gallus Mattiae einen Gallimathias.

Spengler sagt: Es gebe keine Wirklichkeit. Natur sei eine Funktion der Kultur. Kulturen seien die letzte uns erreichbare Wirklichkeit. Der Skeptizismus unserer letzten Phase müsse historisch sein. Warum haben aber die Hebel zur Zeit des Archimedes oder die Keile im Paläolithikum genau so gewirkt wie heute? Warum vermag sogar ein Affe einen Hebel oder einen Stein so zu gebrauchen, als wüßte er von Statik und Festigkeitslehre, und ein Panther aus der Spur auf die Beute zu schließen, als wüßte er von der Kausalität? Will man nicht annehmen, daß eine gemeinsame Kultur auch Affe, Steinmensch, Archimedes und Panther verbindet, so bleibt wohl nichts anderes übrig als ein gemeinsames Regulativ anzunehmen, das außerhalb der Subjekte liegt, also eine Erfahrung, die der Erweiterung und Verfeinerung fähig sein könnte, die Möglichkeit eines Erkennens, irgendeine Fassung von Wahrheit, des Fortschritts, Aufstiegs, kurz gerade jene Mischung subjektiver und objektiver Erkenntnisfaktoren, deren Trennung die mühselige Sortierarbeit der Erkenntnistheorie ausmacht, von der sich Spengler dispensiert hat, weil sie dem freien Flug der Gedanken ganz entschieden hinderlich ist.

Spengler hebt einmal hervor, die Erkenntnis sei nicht nur ein Inhalt, sondern auch ein lebendiger Akt: was er in ungeheuerlichem Maß vernachlässigt, ist, daß sie auch ein Inhalt ist. Was unsre geistige Lage kennzeichnet und bestimmt, ist aber gerade der nicht mehr zu bewältigende Reichtum an Inhalten, das angeschwollene Tatsachenwissen (einschließlich der moralischen Tatsachen), dieses Auseinanderfließen der Erfahrung an der Oberfläche der Natur, das Unübersehbare, das Chaos des Nichtwegzuleugnenden. Wir werden daran zugrunde gehn oder als ein seelisch stärkerer Menschenschlag es überwinden. Darum hat es auch menschlich keinen Sinn, diese ungeheure Gefahr und Hoffnung wegzueskamotieren, indem man durch eine falsche Skepsis den Tatsachen das Gewicht ihrer Tatsächlichkeit stiehlt.

IV

Da ein großer Teil der Naturgesetze das Ergebnis räumlicher Messungen ist, wäre es natürlich ein verblüffender Erfolg, wenn es gelänge, am Wesen des Raums zu zeigen, daß er in jeder Kultur nicht nur anders erlebt wird, sondern etwas anderes ist; die Behauptung, daß die Natur eine Funktion der Kultur sei, wäre damit gewissermaßen samt der Wurzel herausgehoben.

Tatsächlich beansprucht Spengler, »die Illusion des einen, bleibenden, alle Menschen umgebenden Raums, über den man sich begrifflich restlos verständigen könnte, zerstört« und »eine Ausgedehntheit an sich . . . unabhängig vom spezifischen Formgefühl des Erkennenden« als »eine Illusion« erwiesen zu haben.

Er verweist auf die Existenz nichteuklidischer Geometrien. Aus ihr folgt, daß es mehrere Raumbegriffe gibt, die eben dadurch definiert sind, daß diese Geometrien in ihnen gelten. Nennen wir sie mathematische Räume. Sie sind dadurch entstanden, daß gewisse Eigenschaften des überlieferten euklidischen Raumbegriffs variiert worden sind, und wir fügen hinzu, daß sie sich trotzdem für den rechnungsmäßigen Ausdruck physikalischer, also wirklicher Tatsachen verwenden lassen. Gewöhnlich unterscheidet man da aber: Der für die Darstellung gewählte Raum ist, genau so wie andre mathematische Symbole, zunächst nur eine begriffliche Brücke für Vorgänge in einem andren Raum, dem der profanen Wirklichkeit. Nennen wir ihn den empirisch-metrischen, denn er ist nichts als der Erfahrungsraum unter dem vorwaltenden Aspekt des Messens, wovon man sich leicht überzeugen kann, indem man sich vergegenwärtigt, daß es neben und in gewissem Sinn vor dem empirisch-metrischen Raum noch gesehene, getastete und gehörte Räume in allen Abstufungen vom primären Eindruck bis zur vollbewußten Wahrnehmung gibt. Diese Räume sind durchaus nicht euklidisch, im Sehraum z. B. schneiden sich Parallele[n], die Länge ist abhängig von der relativen Lage einer Strecke, die drei Dimensionen sind nicht gleichwertig und es treten spezifische Täuschungen auf, die sich oft erst durch das Zusammentreffen mit Erfahrungen aus andrem Sinnesgebiet als Täuschung erweisen. Es ist nicht meine Absicht, das weiter auszuführen und zu zeigen, wie daraus der volle Erfahrungsraum entsteht, warum dieser für euklidisch gilt und mit welcher Kompetenz vertiefte mathematisch-physikalische Erfahrung es wieder in Frage stellt. Es genügt mir festzustellen, daß dies den Inhalt zahlreicher erkenntnistheoretischer und psychologischer Arbeiten bildet, deren Ergebnisse die Lösung zwar noch nicht bedeuten, wohl aber voraussehen lassen. Spengler hat also nicht nur darin recht, daß es eine Mehrzahl mathematisch-physikalischer Räume gibt, sondern es gibt in der Tat auch die von ihm behauptete »Mehrheit variabler Anschauungsgebilde« und er irrt sich nur darin, daß er dies für eine neue Grundlage der Raumtheorie hält. Er hat auch hier den Ausgangspunkt einer Denkarbeit für ihr Ende gehalten. Würde er die »albernsten Methoden der experimentellen Psychologie« nicht für einen seiner unwürdigen »Jagdgrund mittelmäßiger Köpfe« und erkenntnistheoretische Arbeiten nicht für »akademische Belanglosigkeiten« erachten, so wäre ihm das nicht so leicht gefallen. Ich übergehe die analogen Betrachtungen über die Zeit, ebenso das »Geheimnis der Raumwerdung« zugunsten eines weiteren Zusammenhangs, da sich im einzelnen doch immer bloß das gleiche Bild wiederholt.

V

Vorher eine Zwischenanmerkung.

Es ist bisher wiederholt die Instanz der Erfahrung angerufen worden. Es gibt Menschen, die darauf mit Achselzucken antworten: empiristische Philosophie! Also eine philosophische Richtung, die eben auch nur eine unter vielen und nicht besonders privilegiert zum Besitz der Wahrheit ist. Spengler würde das Pochen auf Tatsächlichkeit nachsichtig als ein westliches Zivilisationssymptom abtun. Der Chor der Geistkämpfer und Seelenvollen aber – von angeblich Goethe bis zum kleinsten geistigen Moritz und Gottseibeimir von heute – hat längst einstimmig intuitiert: es gibt überhaupt nichts Erbärmlicheres als Empirismus.

Bevor ich antworte, will ich aber sagen, daß ich es für unerlaubt hielte, ein Werk mit Bedeutung und eignem Leben – als ein solches empfinde ich auch Spenglers Buch – erst wegen seiner Schwächen lächerlich zu machen und dann das eigne Töpfchen an den Herd zu rücken und rasch das eigne Besserwissen darin zu kochen; noch viel oberflächlicher natürlich, als es der Autor tat, weil Raum, Zeit und Bewußtsein der Wichtigkeit knapp sind. Ich stelle daher fest, daß ich Spengler nicht abwäge, sondern daß ich ihn angreife. Ich greife ihn an, wo er typisch ist. Wo er oberflächlich ist. Wenn man Spengler angreift, greift man die Zeit an, der er entspringt und gefällt, denn seine Fehler sind ihre. Zeiten sind aber nicht zu widerlegen; nicht aus Agnostizismus ist dies gesagt, sondern weil kein Mensch die Zeit hat sich damit abzugeben. Man kann nicht mehr tun, als ihnen auf die Finger zu sehn und auch hie und da daraufzuklopfen.

Die Erfahrung, welche dies bei Spengler besorgt, hat mit philosophiegeschichtlichen Unterscheidungen nicht das geringste zu tun. Kein Gedankensystem darf zur Erfahrung oder [zu] richtigen Schlüssen aus ihr in Widerspruch stehn: in diesem Sinn empiristisch ist jede seriöse Philosophie. Wie hierbei der Begriff der Erfahrung mit Genauigkeit zu fassen ist, wie man apriorische Elemente von Erfahrungselementen in engerer Wortbedeutung trennt und in welchem Sinn überhaupt von einem Apriori geredet werden darf, das freilich schließt weitläufige und noch lange nicht beendete Erörterungen ein. Sie können aber auch aus dem Grund beiseite gelassen werden, weil sich die verbreitete Abneigung, von der die Rede war, ohnedies nicht gegen theoretische Arbeiten richtet, welche die wenigsten kennen, sondern gegen eine bestimmte Geisteshaltung, die, von den Erfolgen der Naturwissenschaften begünstigt, seit dem 18. Jahrhundert in steigendem Maße die zivilisierte Menschheit beherrscht. Erfahrung, welche für die Wissenschaftler in Betracht kommt – es gibt ja auch Denker, die behaupteten Gott erfahren zu haben –, ist jene, die unter bestimmbaren Umständen jedem gewährleistet ist. Ich möchte daher, nicht ohne Freude am Bösen, hinzufügen, daß sie eine triviale Erfahrung ist. In diesem Sinn empiristisches Denken engt natürlich den Geist ein. Angewiesen auf den Aufbau von unten nach oben, auf das Sichere, Zugängliche, Geschlichtete – die großen theoretischen Gedanken sind verhältnismäßig selten –, erwirbt er mit der Exaktheit leicht auch eine gewisse Philiströsität; der ständig erste Griff nach dem Niederen vor dem Höheren wird, da das zweite nicht oft gelingt, zur einzigen Geste. Es gehört ein gewisses philosophisches Phlegma zu ihm – dort, wo er nicht zur hohen geistigen Tugend wird –; man leimt Erfahrungsbruchstücke zusammen, gewärtig, daß einmal ein System daraus werden wird, was keineswegs erwiesen ist. Man dreht sich im Kreis und bescheidet sich darin, wenn man Erscheinungen immer wieder nur in Gruppen andrer Erscheinungen einordnet. Und wenn es auch dabei um die Befriedigung des metaphysischen Bedürfnisses durchaus nicht so aussichtslos zu stehen braucht, wie man gemeinhin annimmt, daß man sich sehr häufig mit dem Schein befriedigt, ist nicht zu leugnen, daß dem Zurückführen zuliebe oft unwesentlich zurückgeführt wird und Erklärungen gegeben werden, die sozusagen nur dem Jargon nach stimmen. Das sind die Paradefälle des Kampfes gegen den engen wissenschaftlichen Geist, Intellektualismus, Rationalismus usw. Aber natürlich führt jede Geistesart ihren Troß von Karikaturen mit sich und jener der Gegenseite ist unendlich viel größer. Sieht man im Empiristen nur den von Gott in die Tiefe gebannten Luzifer, so möge man doch nicht vergessen, was das Hauptargument für ihn ist: die Unzulänglichkeit aller philosophischen Engel. Zur Ehre eines Höheren einen solchen, so gut wie ich es vermag, in teilweise gerupftem Zustand zu zeigen, nahm ich Spengler als Beispiel.

VI

Erkenntnistheoretische Einwände gelten natürlich nur unter der Voraussetzung, daß erkannt werden soll. Wird denn aber stets erkannt? Wenn man Emerson, Maeterlinck oder Novalis liest, auch Nietzsche rechne ich dazu und um ein Beispiel von heute zu geben, sei Rudolf Kaßner genannt, – erfährt man stärkste geistige Bewegung: aber erkennen kann man dies nicht heißen. Es fehlt die Konvergenz zur Eindeutigkeit, der Eindruck läßt sich nicht komprimieren und zum Niederschlag bringen, es sind intellektuelle Umschreibungen von etwas, das man sich menschlich aneignen, aber nur in intellektuellen Umschreibungen wieder ausdrücken kann.

Die Ursache liegt darin, daß die Vorstellungen in diesem Interessenkreis keine feste Bedeutung haben, sondern mehr oder minder individuelle Erlebnisse sind, die man nur soweit versteht, als man sich ähnlicher erinnert. Sie müssen jeweils wiedererlebt werden, werden immer nur teilweise wiedererlebt und keineswegs ein für allemal verstanden. Vorstellungen, die nicht das feste Fundament des sinnlich Wahrnehmbaren oder der reinen Rationalität haben, sondern auf Gefühlen ruhn und schwer wiederholbaren Eindrücken, sind immer so. Selbstverständlich gehören alle Äußerungen des praktischen Lebens dazu; jede Unterredung, jedes Überzeugen, jeder Entschluß, jede Beziehung zwischen zwei Menschen ruht, wie man zu sagen pflegt, auf Imponderabilien. Faßt man solche Vorstellungen und Sachverhalte in ebensolchen Zusammenhang – wie es der Essay tut, die »Meinung«, die »persönliche« Überzeugung –, so entstehen komplizierte Gebilde, die natürlich ebenso leicht zerfallen wie hochzusammengesetzte Atomgruppen.

Sowie man dieses Gebiet betritt, erweist sich logische Methodik als entthront. Je höher in dieser Reihe ein Gedanke steht, desto mehr tritt der Anteil des Verstandes gegenüber dem des Erlebnisses zurück. Ich habe es deshalb einst das nicht-ratioïde Gebiet genannt (im 4. Band der Zeitschrift Summa [s. S. 781/85: Zum Selbstbildnis / Skizze der Erkenntnis des Dichters, 1918], wo man einige Gelegenheitsbemerkungen mehr darüber finden kann), aber selbstverständlich gilt das nur in dem soeben angegebenen Sinn. Anstelle des starren Begriffs tritt die pulsierende Vorstellung, anstelle von Gleichsetzung treten Analogien, an die der Wahrheit Wahrscheinlichkeit, der wesentliche Aufbau ist nicht mehr systematisch, sondern schöpferisch. Das Gebiet umfaßt alle Grade der Abstufung vom fast Wissenschaftlichen, wie es dem Essay Taines oder Macaulays, schließlich aber auch fast jeder Geschichtsschreibung eignet, bis zu Ahnung und Willkür oder jenen nur noch Anregungsreize spendenden Abhandlungen, wie sie heute manchesmal Dichter schreiben. Dementsprechend konvergiert der Gehalt bald bis zum fast Eindeutigen, bald divergiert er bis zur vollen Disparatheit und schafft nur Denkdispositionen und diffuse Bewegtheit.

Wer sich an solchen Arbeiten gebildet hat, wird wissen, wieviel durch Ordnung, Analyse, Vergleich, kurz Denken, aus ihnen extrahiert zu werden vermag, trotzdem die feinste Substanz dabei verlorengeht; wird auch wissen, wieviel Rationalität in ihnen selbst steckt, ungeachtet der ganz selbstverständlichen, die schon zum bloßen Ausdruck nötig ist. (Ich sehe von dem Fall ab, wo plötzlich Domänen fast ganz vom Verstand erobert werden, in denen vordem nur die Idee oder gar die Dichtung herrschte, wie im Fall der Psychoanalyse.) Wäre es angesichts des Mißverhältnisses, in dem die Leistungen auf nicht-ratioïdem Gebiet zu den rein rationalen der Wissenschaft heute stehn, nicht vermessen, so würde ich sagen, daß der Verstand dort, wo er sozusagen all seiner Bequemlichkeiten beraubt ist, desto elastischer sein und dort, wo alles fließt, desto schärfer unterscheiden und fassen muß. Es ist ein unheilvolles Mißverständnis, welches den Geist in Gegensatz zum Verstand setzt; die menschlich wesentlichen Fragen werden durch das Geschreibe von Rationalismus und Antirationalismus nur verwirrt, die einzig mögliche Sehnsucht, wo man nicht ebensoviel verliert wie gewinnt, ist Überrationalismus.

Zur Klärung dieser grundlegenden Fragen geschieht sehr wenig. Den Philosophen liegt die Erforschung der Methodik eines Gebiets nicht recht, dessen Tatsachen in Erlebnissen bestehn, die den meisten von ihnen nicht in der nötigen Mannigfaltigkeit bekannt sind. So gibt es meines Wissens überhaupt keinen Versuch, die Logik des Analogischen und Irrationalen zu untersuchen. »Es gibt wissenschaftliche Erfahrung und Lebenserfahrung«, sagt Spengler, »es besteht ein selten gewürdigter Unterschied zwischen Erleben und Erkennen.« »Die Vergleiche könnten das Glück des historischen Denkens sein . . . Ihre Technik müßte unter der Einwirkung einer umfassenden Idee und also bis zur wahllosen Notwendigkeit, bis zur logischen Meisterschaft ausgebildet werden.« Ich bewundere den leidenschaftlichen Vorsatz, der die ganze Weltgeschichte in neue Denkformen pressen will. Daß es nicht gelingt, ist nicht nur Spenglers Schuld, sondern liegt auch am Mangel jeder Vorarbeit.

VII

Hat man sich einmal klargemacht, daß je nach dem Gegenstande entweder die Begrifflichkeit oder der fluktuierende Charakter des Erlebnisses die Hauptsache am Gedanken ist, so versteht man jenen Unterschied, den nicht nur Spengler zwischen lebendem und totem Erkennen macht, ohne alle Mystik. Was man wie in der Schule lernen kann, Wissen, rationale Ordnung, begrifflich definierte Gegenstände und Beziehungen, kann man sich aneignen oder nicht, man kann es gegenwärtig haben oder vergessen, es kann wie ein wohlgekanteter, sauber abgeschliffener Würfel in uns hineingestellt werden oder wieder herausgenommen: solche Gedanken sind in gewissem Sinne tot; das ist die Kehrseite des Gefühls, daß sie unabhängig von uns gelten. Genauigkeit, Richtigkeit töten; was sich definieren läßt, Begriff ist, ist tot, Versteinerung, Skelett. Ein Nur-Rationalist hat in seinem Interessenkreis wohl niemals Gelegenheit das zu erleben. In Geistesgebieten aber, wo der Satz gilt: Erkennen ist Wiedererinnern (oder – worauf ich früher einmal hingewiesen habe – der Hegelsche Dreischritt: Thesis, Antithesis, Synthesis [s. auch S. 355: Tagebuch – Heft 34], der gerade dort nicht gilt, wo er ihn anwandte, nämlich auf ratioïdem Gebiet), macht man diese Erfahrung bei jedem Schritt. Das Wort soll dort nichts Fixiertes bezeichnen. Es ist das lebendige Wort, voll Bedeutung und intellektueller Beziehung im Augenblick, von Wille und Gefühl umflossen; eine Stunde später ist es nichtssagend, obwohl es alles sagt, was ein Begriff sagen kann. Ein solches Denken mag man wohl lebend nennen.

VIII

Spengler sagt: »Zerlegen, definieren, ordnen, nach Ursache und Wirkung abgrenzen kann man, wenn man will. Das ist eine Arbeit, das andre ist eine Schöpfung. Gestalt und Gesetz, Gleichnis und Begriff, Symbol und Formel haben ein sehr verschiedenes Organ. Es ist das Verhältnis von Leben und Tod, von Zeugen und Zerstören, das hier erscheint. Der Verstand, der Begriff tötet, indem er ›erkennt‹. Er macht das Erkannte zum starren Gegenstand, der sich messen und teilen läßt. Das Anschauen beseelt. Es verleibt das Einzelne einer lebendigen innerlich gefühlten Einheit ein. Dichten und Geschichtsforschung sind verwandt, Rechnen und Erkennen sind es auch . . . Der Künstler, der echte Historiker schaut, wie etwas wird. Er erlebt das Werden in den Zügen des Betrachteten noch einmal.«

Das führt außerdem auf etwas, das mit dem Unterschied zwischen lebendem und totem Erkennen oder, wie Spengler sagt, zwischen Anschauen und Erkennen eng zusammenhängt: ich habe es einmal den Unterschied zwischen Kausalität und Motivation genannt. Kausalität sucht die Regel durch die Regelmäßigkeit, konstatiert das, was sich immer gebunden findet; Motivation macht das Motiv verstehen, indem sie den Impuls zu ähnlichem Handeln, Fühlen oder Denken auslöst. Das fundiert die schon erwähnte Unterscheidung von wissenschaftlicher Erfahrung und Lebenserfahrung. Ich möchte aber erwähnen, daß auf dieser Linie auch die Verwechslung von gelehrter und dichterischer Psychologie liegt, die so oft begangen wird. Um 1900 wollte jeder Dichter ein »tiefer Psychologe« sein, um 1920 gilt Psychologie als Beschimpfung. Das ist ein Kampf mit Einbildungen. Denn kausale Psychologie war stets ein selten angewandtes Kunstmittel; was man aber sonst Psychologie nennt, ist einfach Menschenkenntnis und Fähigkeit der Motivation. Und zwar nicht die Menschenkenntnis eines Roßhändlers, die auf der menschlichen Typik ruht, sondern die des Menschen, dem nichts vorenthalten oder erspart blieb.

IX

Die Gegensätze Leben und Tod, Anschauen und Erkennen, Gestalt und Gesetz, Symbol und Formel wurden bereits erwähnt; ich füge hinzu die Paare Werden-Gewordenes, Bewegung-Ruhe, Eignes-Fremdes, Seele-Welt, Richtung-Raum, Zeit-metrische Zeit, Wille-Erkennen, Schicksal-Kausalität, organische Logik-Logik (auch als Logik der Zeit und Logik des Raums gegeneinandergesetzt), Physiognomik-Systematik: es sind damit fast vollzählig die konstruktiven Ideen beisammen, mit deren Hilfe Spengler Profile durch das Grundfaktum legt, welches im Wesen das gleiche bleibt, von welcher Seite immer er es anpackt.

Ich widerstehe der Versuchung, das darzustellen, weil es mich in die Schwierigkeiten verwickeln würde, an denen Spengler vorübergegangen ist. Übrigens kann jedermann nach einem bitter einfachen Schema Spenglers Philosophie nacherzeugen. Man nehme die Prädikate »ist in gewissem Sinne«, »wird in gewissem Sinne« und »hat in gewissem Sinne«, vernachlässige unwesentliche Unterschiede der Ausdrucksform, und kombiniere nun jeden der angeführten Begriffe mit allen andren, bejahe die Kombinationen aller an erster Stelle in ihrem Paar stehenden Begriffe und ebenso die aller an zweiter Stelle stehenden untereinander, verneine jede Kombination eines an erster Stelle stehenden mit einem an zweiter Stelle stehenden Begriff: bei gewissenhafter Befolgung ergibt sich Spenglers Philosophie von selbst und sogar noch einiges mehr. Zum Beispiel: Leben wird angeschaut, hat Gestalt, ist Symbol, ist Werden usw. Kausale Beziehung ist tot, wird erkannt, hat Gesetz, ist Gewordenes usw. Leben hat keine Systematik, Schicksal wird nicht erkannt und so und so. Spengler wird sagen, da zeige sich der Mangel der Rationalität; aber eben das sage ich auch.

Nur gegen den Vorwurf uneingestandener Anlehnung an Bergson, den man gegen Spengler erhoben hat, muß man – Bergson in Schutz nehmen. Bei ihm ist die Sache doch anders. Was aber das Grundproblem selbst betrifft, so gehört es weder Spengler noch Bergson allein an, sondern reicht über die deutsche romantische Philosophie und Goethe (auf den sich Spengler ja beruft) noch weiter zurück.

X

Eine Frage für sich ist die Intuition. Ich beantrage, alle deutschen Schriftsteller möchten sich durch zwei Jahre dieses Wortes enthalten. Denn heute steht es so damit, daß jeder, der etwas behaupten will, was er weder beweisen kann, noch zu Ende gedacht hat, sich auf die Intuition beruft. In der Zwischenzeit möge jemand die zahllosen Bedeutungen dieses Wortes aufklären.

Man wird dann wohl etwas mehr beachten, was jetzt so gern übersehen wird, daß es auch rein rational eine Intuition gibt. Der entscheidende Einfall, mag er noch so methodisch vorbereitet worden sein, springt auch da wie von außen plötzlich vor das Bewußtsein. Durch erhöhte Gemütszustände wird auch das rein rationale Denken, das mit Gefühl scheinbar gar nichts zu tun hat, gefördert. Wieviel mehr jenes, das hier das nicht-ratioïde Denken genannt worden ist, dessen Penetranz und innere Fortpflanzungsgeschwindigkeit geradezu von der Vitalität der Worte abhängt, einer um den belanglosen Begriffskern gelagerten Wolke von Gedanke und Gefühl. Oder man denke an jene Erkenntnisse, die »mit einem Schlage das Leben erhellen«, – Paradefälle der Intuition; aber auch da wird man sehn, daß es sich nicht um eine plötzlich ausbrechende andre Art Geistestätigkeit handelt, sondern um einen längst gewordenen kritischen Zustand der ganzen Person, der endlich umschlägt, wobei der aktuelle, vermeintlich zündende Gedanke gewöhnlich nur der Explosionsblitz ist, der das große innere Umreagieren begleitet.

»Etwas, das sich nicht erkennen, beschreiben, definieren, . . . nur fühlen und innerlich erleben läßt, das man entweder niemals begreift oder dessen man völlig gewiß ist«, »mit einem Schlage, aus einem Gefühl heraus, das man nicht lernt, das jeder absichtlichen Einwirkung entzogen ist . . ., das in seinen höchsten Momenten sich selten genug einstellt,« sagt Spengler. Das ist nur ein Grad auf der großen Skala, die von da über den Zustand des Gläubigen, des Liebenden, des Ethischen zur Haplosis, zur visio beata und den andren großen Formen der Weltempfängnis führt; mit einem sehr bemerkenswerten Nebenast im Pathologischen, der von der verbreiteten Zyklothymie bis zu schweren Wahnzuständen reicht.

Das ist eine analytische Haltung gegenüber dem Vorgang Intuition. Man wird einwerfen, das interessiere die Gelehrten, die es unter sich ausmachen mögen, menschlich handle es sich nicht um Analyse einer psychologischen Form, sondern um die Synthese der in ihr gewonnenen Inhalte. Die Welt, in der wir leben und gewöhnlich mitagieren, diese Welt autorisierter Verstandes- und Seelenzustände, ist nur der Notersatz für eine andre, zu der die wahre Beziehung abhanden gekommen ist. Zuweilen fühlt man, daß von all dem nichts wesentlich ist, für Stunden oder Tage zerschmilzt es in der Glut eines andren Verhaltens zu Welt und Mensch. Man ist Strohhalm und Atem, und die Welt die zitternde Kugel. In jedem Augenblick erstehen alle Dinge neu; sie als feste Gegebenheiten zu betrachten, erkennt man als inneren Tod. Das Pferd vor dem Wagen und der Vorübergehende kommunizieren. Oder wenigstens Mensch und Mensch messen sich nicht, beschnüffeln einander nicht wie Kundschafter, sondern wissen voneinander wie Hand und Bein an einem Körper. Das ist die Stimmung philosophisch schöpferischer oder philosophisch eklektischer Zustände. Man kann sie intellektuell als verspäteter Christ auslegen oder das Fließen des Heraklit an ihr demonstrieren, überhaupt allerlei heraus- und hineinlesen, unter anderem auch ein ganz neues Ethos. Glauben wir daran? Nein. Wir spielen damit Literatur. Galvanisieren Buddha, Christus und andre Ungenauigkeiten. Ringsum tobt die Vernunft in Tausenden von PS. Man trotzt ihr und behauptet, in einem verschlossenen Kästchen eine andre Autorität zu haben. Das ist der Sammelkasten Intuition. Man öffne ihn doch endlich und sehe, was darin ist. Vielleicht ist es eine neue Welt.

Man findet selten so schöne, kraftvolle Ansätze der Gestaltung wie bei Spengler. Aber daß schließlich der ganze Inhalt der Intuition darauf hinausläuft, daß man das Wichtigste nicht sagen und behandeln kann, daß man bis zum Extrem skeptisch in ratione ist (also gerade gegen das, was nichts andres hat als daß es wahr ist!), dagegen unerhört gläubig gegen alles, was einem gerade einfällt, daß man die Mathematik bezweifelt, aber an kunsthistorische Wahrheitsprothesen glaubt wie Kultur und Stil, daß man trotz Intuition beim Vergleichen und Kombinieren von Fakten das gleiche macht, was der Empirist macht, nur schlechter, nur mit Dunst statt der Kugel schießt: das ist das klinische Bild des durch übermäßigen fortgesetzten Intuitionsgenuß erweichten Geistes, Schöngeistes unserer Zeit.

XI

Der Gedanke, daß Kulturen an innerer Erschöpfung schließlich zugrunde gehn, ist plausibel auch ohne Metaphysik. Daß einander entsprechende Phasen in Auf- und Niederstieg unterschieden werden können, auch.

Seelische Spannung hält aufrecht; ist sie nicht mehr nötig und vorbei, bricht der Organismus zusammen. Daß es ähnliches im Leben der Gesellschaft gibt, ist nicht zu bezweifeln. Sie wird zum Haufen, wenn keine richtenden Kräfte mehr auf sie wirken.

Nun sind alle Kulturen in verhältnismäßig kleinen Räumen und Gesellschaften entstanden und haben sich von dort ausgebreitet. Darin liegt eine Verdünnungs- und Erschöpfungstendenz; die gleiche liegt in der zeitlichen Wirkung durch Generationen. Ideen (Nicht-Ratioïdes) lassen sich nicht übergehen wie Wissen; sie erfordern gleichen seelischen Zustand und in Wirklichkeit ist höchstens ähnliche seelische Disposition vorhanden: so sind sie ständig der Veränderung unterworfen. Solang sie neu sind, werden sie dadurch vielleicht bereichert, später korrumpiert. Sie realisieren sich unterwegs allerdings in Einrichtungen und Lebensformen; aber eine Idee verwirklichen heißt sie schon teilweise zerstören. Alle Verwirklichungen sind Zerrbilder und in höherem Alter werden sie immer leerer und unverständlicher, denn Form und Idee haben ein ganz verschiedenes Lebenstempo; so ragen immer die Formen einer älteren Schicht in die Ideen einer neueren herein und konkurrieren mit ihnen an Einfluß.

Das ist ein Teil der Gründe, warum späte Zeiten so uneinheitlich sind und in solchen Zivilisationszeiten die Kulturen zerfallen wie Gebirge.

XII

Die Entwicklung selbst ist nichts, was sich in einer einheitlichen Linie auswirkt. Mit der natürlichen Abschwächung, welche die Idee durch ihre Ausbreitung erleidet, kreuzen sich Einflüsse aus neuen Ideenquellen. Der innerste Lebenskern jeder Zeit, eine neblige, quellende Masse, ist eingebettet in Formen, die der Niederschlag viel älterer Zeiten sind. Jede Gegenwart ist gleichzeitig schon hier und noch um Jahrtausende zurück. Dieser Wurm bewegt sich auf politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, biologischen und unbegrenzt viel andren Gliedern, deren jedes ein anderes Tempo hat und einen anderen Rhythmus: das kann man als einheitliches Bild sehn und aus einem Grund entwickeln, gleichsam in Zentralperspektive wie es Spengler tut, aber man kann auch gerade am Gegenteil Geschmack finden. Es ist kein Plan darin und keine Vernunft, gut; ist das wirklich häßlicher als wenn solche darin wären? Ist Agnostizismus behaglich? Er kann wahr sein oder falsch, denn er ist eine rationale Angelegenheit, scharfsinnig oder oberflächlich; aber ob er menschlich tief ist oder nicht, das ist doch gar nicht mehr eine Eigenschaft der Erkenntnis, sondern eine der – in meiner Abkürzung gesprochen, nicht-ratioïden – Komplexe, die sich auf solcher rationalen Überzeugung aufbauen. Eine solche Verwechslung hat sich z. B. in der Bewertung des (philosophischen) Materialismus geradezu verewigt, der noch heutigentags als seicht und gemütseng gilt, obgleich er natürlich gerade so gefühlvoll sein kann wie der Glaube an die Engel. Danach wird man vielleicht verstehn, was ich mit dem Wunsche meine, daß solche Theorien (sofern sie nicht ausgesprochen wahr oder falsch sind) nicht anders denn als intellektuelle Versuchsgrundlagen für die Gestaltung des inneren Lebens behandelt werden mögen, statt – wie es heute immer geschieht – der Theorie so einfach und plump einen Gefühlscharakter zuzuschreiben. Was man Intellektualismus im üblen Sinne nennt, die modische intellektuelle Hast unserer Zeit, das Abwelken der Gedanken vor der Reife, hat darin einen Grund, daß wir mit unseren Gedanken Tiefe suchen und mit unseren Gefühlen Wahrheit und ohne die Verkehrtheit zu merken, jede Weile darüber enttäuscht sind, daß es uns schließlich nicht gelingt. – Weit ausholende ideologische Versuche wie der Spenglers sind sehr schön, aber sie leiden heute darunter, daß viel zu wenig innere Möglichkeiten vorbearbeitet sind. Man führt ja auch den Weltkrieg oder unsren Zusammenbruch bald auf diese, bald auf jene Ursachengruppe zurück. Aber das ist Täuschung. Ebensolcher Schwindel, wie wenn man ein einzelnes physisches Ereignis auf eine Ursachenkette zurückführt. In Wirklichkeit zerfließen die Ursachen schon bei den ersten Gliedern der Kette in eine unübersehbare Breite. Im Physischen haben wir uns geholfen (Funktionsbegriff). Im Geistigen sind wir ganz ohnmächtig. Die Intellektualität läßt uns im Stich. Aber nicht, weil der Intellekt seicht ist – als ob uns nicht auch alles andre im Stich ließe! –, sondern weil wir nicht gearbeitet haben.

XIII

Es ist eine alte und wie mir scheint recht unfruchtbare Streitfrage, wie man Kultur und Zivilisation unterscheidet. Ich glaube, wenn man unterscheiden will, ist es am besten, Kultur zu sagen, wo eine Ideologie herrscht und eine noch einheitliche Lebensform, Zivilisation dagegen als den diffus gewordenen Kulturzustand zu definieren. Jeder Zivilisation ist eine Kultur vorausgegangen, die in ihr zerfällt; jede Zivilisation ist ausgezeichnet durch die gewisse technische Beherrschung der Natur und ein sehr kompliziertes, sehr viel Intelligenz forderndes, aber auch schluckendes – System sozialer Beziehungen.

Es wird der Kultur fast immer eine unmittelbare Beziehung zu den Wesenheiten zugeschrieben, eine Art schicksalhafter Sicherheit der menschlichen Haltung und noch instinktive Sicherheit, der gegenüber dann der Verstand, das Zivilisationsgrundsymptom, eine etwas klägliche Unsicherheit und Indirektheit besitzen soll. Man kennt die Symptome, worauf sich das stützt. Der große, besonders aus der Ferne geschlossen wirkende Gestus von Mythos und Religion, andrerseits die Umständlichkeit, mit dem Verstand das zu sagen, was ein Blick, Schweigen, ein Entschluß viel besser ausdrücken. Der Mensch ist eben nicht nur Intellekt, sondern auch Wille, Gefühl, Unbewußtheit und oft nur Tatsächlichkeit wie das Wandern der Wolken am Himmel. Die aber nur das an ihm sehen, was die Vernunft nicht bewirkt, müßten schließlich das Ideal in einem Ameisen- oder Bienenstaat suchen, gegen dessen Mythos, Harmonie und intuitive Taktsicherheit alles Menschliche vermutlich nichts ist.

Wie schon gesagt, halte ich das Wachstum der Anzahl daran beteiligter Menschen für die Hauptursache des Übergangs von Kultur in Zivilisation. Es ist klar, daß hundert Millionen Menschen zu durchdringen ganz andre Aufgaben stellt als hunderttausend. Die negativen Seiten der Zivilisation hängen zum größten Teil damit zusammen, daß diesem Volumen des sozialen Körpers seine Leitfähigkeit für Einflüsse nicht mehr entspricht. Man betrachte den Höhepunkt vor dem Krieg; Eisenbahn, Telegraph, Telephon, Flugmaschine, Zeitung, Buchhandel, Schul- und Fortbildungssystem, Wehrpflicht: alles völlig unzureichend. Der Unterschied zwischen Großstadt und schwarzgeistigem Land ist größer als der zwischen Rassen. Vollkommene Unmöglichkeit, selbst in der eigenen Schicht in die Voraussetzungen eines andren Gedankenkreises einzudringen außer unter ungeheurem Zeiteinsatz. Folge: schmale Gewissenhaftigkeit oder impetuose Oberflächlichkeit. Mit dem Wachstum der Zahl hält die geistige Organisation nicht Schritt: darauf sind achtundneunzig vom Hundert aller Zivilisationserscheinungen zurückzuführen. Keine Initiative vermag den sozialen Körper auf weitere Strecken zu durchdringen und empfängt Rückwirkung von seiner Totalität. Man kann tun, was man will, Christus könnte auf die Erde wieder niedersteigen: es ist ganz ausgeschlossen, daß er zur Wirkung käme. Die Frage auf Leben und Tod ist: geistige Organisationspolitik. Das ist die erste Aufgabe für Aktivist wie Sozialist; wird sie nicht gelöst, so sind alle andren Anstrengungen umsonst, denn sie ist die Voraussetzung dafür, daß die überhaupt wirken können.

XIV

Ich fasse mich zusammen; noch nie in meinem Leben habe ich nötig gehabt, es hinterdrein zu tun.

Ich habe also ein allgemein beliebtes Buch angegriffen.

Ich hatte mir versprochen – ich rezensiere ja nicht – am berühmten Einzelfall Zeitfehler zu demonstrieren. Oberflächlichkeit; Mantelwurf der Geistigkeit, unter dem die Gliederpuppe steckt; Überfließen einer lyrischen Ungenauigkeit in die Gevierte der Vernunft. Denn so groß auch z. B. der Unterschied zwischen dem explosiven Weltanschau[er?] ist, der zu »Ballungen« verdaut, was geistig in der Luft liegt, und dem Bücherwurm, der nach Wurmart täglich das Vielfache seines geistigen Eigengewichts frißt, Wissenschaften konsumiert und das natürlich nur in lockerer Form von sich geben kann –: es sind bloß konträre, dem Sinn nach aber gleiche Erscheinungen einer Zeit, die ihren Verstand nicht zu gebrauchen weiß. Die nicht zuviel Verstand hat, wie es immer heißt, sondern den Verstand nicht am rechten Flecke. Diese Zeit hat mit dem Expressionismus, um ein andres Beispiel von ihr zu geben, eine Urerkenntnis der Kunst veräußerlicht und verflacht, weil die nicht denken konnten, welche den Geist in die Dichtung einführen wollten. Sie konnten es nicht, weil sie in Luftworten denken, denen der Inhalt, die Kontrolle der Empirie fehlen; der Naturalismus gab Wirklichkeit ohne Geist, der Expressionismus Geist ohne Wirklichkeit: beides Ungeist. Auf der andren Seite aber kommt bei uns gleich die gewisse Dörrfischrationalität und die beiden Gegner sind einander würdig.

Ich weise noch einmal auf den Unterschied von ratioïd und nichtratioïd hin, den ich nicht erfunden, sondern nur so übel benannt habe. Hier steckt die Wurzel, aus der die verhängnisvolle Frage der Intuition wächst und des gefühlsmäßigen Erfassens, die nichts andres sind als Eigentümlichkeiten des nicht-ratioïden Gebiets, falsch verstanden. Hier liegt der Schlüssel zur »Bildung«. Hier sind der rachitische Idealismus unsrer Tage und ihr Gott ausgekommen. Hier wäre zu verstehn, warum der ergebnislose Kampf in der heutigen Zivilisation zwischen dem wissenschaftlichen Denken und den Ansprüchen der Seele nur durch ein Plus zu lösen ist, einen Plan, eine Arbeitsrichtung, eine andre Verwertung der Wissenschaft wie der Dichtung!

Und Oswald Spengler erkläre ich öffentlich und als Zeichen meiner Liebe, daß andre Schriftsteller bloß deshalb nicht so viele Fehler machen, weil sie gar nicht die beide Ufer berührende Spannweite haben, um so viele unterzubringen.