Lissitsa Alex: Meine wilde Nation - Nation-Building

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3. Nation-Building

Vorbemerkung HTH: Ukraine war über Jahrhunderte nur eine Erscheinung „am Rande“ (so die wörtliche Übersetzung von „u krajne“) in den Machtspielen zwischen Polen, Russland, dem Habsburgerreich und dem Osmanischen Reich! Im Geiste der Nationenbildungen, der im 19. Jahrhundert erwachte, schuf der ukrainische Historiker Mychajlo Hruschewskyj Ende des 19. Jahrhunderts in Lemberg die Grundlage für eine ukrainische Nationalbewegung. Doch erst mit der Gründung der UdSSR Ende 1922 wurde die Ukraine als eigenständige Republik anerkannt. Am 24. August1991 erklärte die Ukraine offiziell ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion und wurde ein souveräner Staat. Der 24. August ist seither Ukrainischer Nationalfeiertag (Tag der Unabhängigkeit).

Eine eigenständige Kultur konnte die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik freilich nie entfalten. Unterrichtssprache an allen UNIs und sogar an den Schulen war, so wie in allen Sowjetrepubliken, Russisch. Nach 1991 mussten erstmals ukrainische Wörterbücher geschaffen werden – für viele Fachausdrücke gab es keine ukrainischen Äquivalente. Sogar in der Rada (dem ukrainischen Parlament) wurde noch lange Russisch gesprochen, bis die politisch ambitionierte Julyja Tymoschenko mit ihren volkstümlichen blonden Zöpfen Ukrainisch auf der politischen Bühne zum Durchbruch verhalf. Sogar die Kultserie „Diener des Volkes“ mit Selenskyj in der Hauptrolle wurde noch 2015 auf Russisch gedreht (was den Autor dieser Zeilen zu einer Satire inspiriert hat, die auch als Verschwörungstheorie geeignet ist).

Als Lektor an der Moskauer Linguistik-Universität (1989-1994) erlebte ich einen gewissen Snobismus der Moskauer gegenüber den Bewohnern der „Provinz“ – wobei allerdings keine nationalistischen Abstufungen zwischen ukrainischer, belarussischer Provinz oder anderen Republiken und Gebieten in der Russischen Sowjetrepublik gemacht wurde. Umgekehrt hörte man in der Ukraine genauso wie im Gebiet Woronesch oder auf der Krim: „Moskau ist nicht Russland“. Anders gesagt: erst infolge des Krieges mit Russland hat eine mentale Trennung zwischen Russen und Ukrainern stattgefunden. Erst durch den Krieg (nicht aufgrund der Unabhängigkeitserklärung 1991) hat das stattgefunden, was Historiker als „Nation-Building“ bezeichnen. Die Kehrseite von Nation-Building sind nationalistische Tendenzen, beispielsweise die pauschale Ablehnung von Menschen „Kaukasischer Nationalität“. Schon die Wortwahl ist pejorativ, da im Kaukasus zahlreiche Völker beheimatet sind. Kurz: nationalistische Mentalität war und ist in allen ehemaligen Sowjetrepubliken zu finden, ebenso wie die antiquierten Höflichkeitsrituale gegenüber Frauen, denen man gleichzeitig attestiert, dass sie intellektuell mit Männern nicht mithalten könnten. Nation-Building war für alle ehemaligen Sowjet-Republiken ein Thema. Die selbstbewussten Russen haben diesen Prozess mit dem Aufstieg Putins verknüpft. Die Ukrainer haben und hatten den Maidan. Bei den Aufständen gegen die Regierungen in Kyjiw haben sie den Widerstand gegen die Okkupanten aus Moskau geprobt. Dass die Ukrainer so lange durchhalten, damit hat wohl niemand gerechnet. Auch nicht Alexei Lissitsa

„In unserer Gegend gaben fast 70 Prozent der Bevölkerung an, dass sie die Russen als Brudervolk betrachten, ihnen also nicht feindselig gegenüberstehen. Daher bin ich davon ausgegangen, dass meine Landsleute sofort bei Kriegsausbruch die Flagge wechseln werden. Ich habe ernsthaft befürchtet, dass sie sofort das Handtuch werfen, die weiße Fahne herausholen und die Invasion, so sie denn kommt, gleichgültig über sich ergehen lassen werden. ‚Na ja, jetzt kommen eben die Russen. Das ist auch in Ordnung.‘ Doch nun geschieht etwas völlig anderes. Die Leute halten zusammen. Sie lehnen sich gegen die Besatzer auf. Das erfüllt mich mit Stolz. Sie haben etwas gelernt und verhalten sich nicht mehr so, wie es die Ukrainer jahrhundertelang gemacht haben.

Ganz entscheidend hat dazu am zweiten Tag des Überfalls ein Video von Selenskyj beigetragen. Am ersten Tag des Angriffs hat er sich tagsüber nicht gezeigt. Niemand wusste, wo er sich aufhält. Dann kam nachts das Video, ein kurzes Video. Mitten im Zentrum von Kyjiw steht der Präsident, umringt von seinen Ministern und seinem Stab. Es sieht aus, als habe er das Video mit seinem eigenen Handy aufgenommen. Das Bild steht etwas schräg, die Gesichter sind von einem fahlen gelblichen Straßenlicht beleuchtet. Sie halten die Stellung. Das ist das Wichtigste. Sie sind geblieben. Sie wagen sich auf die Straße und zeigen, was zu tun ist. … Ich hätte Selenskyj einen derartigen Auftritt nicht zugetraut. Bis jetzt habe ich ihn für nichts weiter als einen mäßig erfolgreichen Komiker gehalten, den einige unglückliche Zufälle des politischen Lebens irrtümlich auf den Präsidentensitz verschlagen haben.“ (29)

„Das Vorbild von Selenskyj hat den Willen zum Widerstand entfacht. Allen gemeinsam ist klar geworden, um was es geht und was wir können, wenn wir zusammenhalten. Wir werden kämpfen. Wir hauen nicht ab. Wir bleiben da.“ (30)

„Auf allen Kanälen geht das jüngste Video des Sängers Andrij Chlywniuk um. In Uniform steht er mitten in Kyjiw auf dem Sophienplatz vor dem Glockenturm der Kathedrale, ein Gewehr umgehängt, und singt allein ohne Begleitung das Lied «Oj, u lusi tscherwona kalyna». Jeder in der Ukraine kennt den Text: «Auf der Wiese steht niedergebeugt ein roter Kalyna-Busch. Unsere ruhmreiche Ukraine ist in Not. Wir werden den roten Kalyna-Busch aufrichten, wir werden auch unsere ruhmreiche Ukraine wieder aufrichten.»

… Kalyna ist ein Busch, der im Frühjahr viele kleine weiße Blüten in einer fast runden Kugel bildet und im Herbst leuchtend rote Beeren trägt. … Sie schmecken bitter und säuerlich herb. In der Ukraine gelten die Beeren als Nationalsymbol. Mit dem ersten Frost baut sich das Gift ab und es bildet sich Zucker, dann lassen sie sich essen. Das wird als Allegorie auf den Nationalcharakter der

Ukraine gedeutet. Nach dem Motto: Wir haben ein sehr bitteres Leben. Bitter und herb, aber mit jedem Frost kommt ein wenig Süße dazu. Das lässt sich auf das Schicksal des ganzen Landes übertragen. Jedes Mal, wenn die Kälte kommt, wird das Land und das Leben ein wenig süßer.“ (66)

„Für die Ultranationalisten gelte ich mit meinem russifizierten Nachnamen als Verräter. Wie konnte ich nur meinen traditionellen, wunderschönen ukrainischen Familiennamen Lysytsya verstümmeln und gegen eine russische Version eintauschen?“ (63)

„Mit dem Wahlsieg von Poroschenko im Jahr 2014 traten die Ultranationalisten der Partei Swoboda in die Regierung ein. Unglücklicherweise bekamen sie den Posten des Landwirtschaftsministers. Ihr Mann verstand von der Landwirtschaft nichts, aber dafür war er extrem konservativ eingestellt, nationalistisch bis aufs Blut und korrupt ohne Ende.“ (63)

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„Die Ukrainer, so hat es ein Journalist jüngst in der Ukrainska Prawda formuliert, seien zwar Europäer, aber eben wilde Europäer. Das finde ich ziemlich treffend. Unsere ganze Gesellschaft, so kommt es mir manchmal vor, befindet sich noch in diesem Zustand der Wildheit. Das gilt auch für die Politik. Bei dem Wort «wild» denke ich zuerst an wilde Tiere, also an Tiere, die noch ganz in der Natur leben und sich dementsprechend verhalten. Sie folgen ihren ganz elementaren Bedürfnissen. Das Wichtigste ist zu überleben. Sie müssen dafür sorgen, dass sie stets genug zu essen haben. Der Kartoffel-Kult im ganzen Land ist das sichtbarste Anzeichen dieser Sehnsucht nach Sicherheit.“ (124)

„Die meisten Ukrainer haben sich nie um ihre Nation und um den Staat als Ganzes geschert. Das müssen sie nun im Krieg erst lernen. Plötzlich sehen sie sich einer Notlage gegenüber, die sie nur als Gemeinschaft überstehen können. Langsam überwinden wir unsere Wildheit und bilden ein Gemeinschaftsgefühl aus.“ (124)

Ilja Jefimowitsch Repin Kosaken schreiben Brief

Nachsatz HTH: Symbol des ukrainischen Widerstandsgeistes ist das Bild „Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief“ von Ilja Repin. Der Maler selbst ist 1844 in Tschugujew (Gebiet Charkow/Charkiw) geboren und 1930 in Kuokkola (damals Finnland, heute mit dem Namen „Repino“ ein Vorort von St. Petersburg) gestorben. Es ist eine Nebenfront, aber doch typisch für den „Bruder-Krieg“, dass beide Länder den berühmten Künstler nun für sich beanspruchen.