Teil 2: Nationen lösen Dynastien ab
Laut John Morris Roberts war der Begriff der "Nation" in Europa bis ins 19. Jahrhundert nicht gebräuchlich, wurde dann aber umso schneller zu einer konstituierenden Idee, so dass der Nationalismus "die Staatsgebilde des dynastischen Zeitalters" zerstörte. (Anmerkung: dynastisch wurden nicht nur das Chinesische, das Osmanische oder das Heilige Römische Reich geführt, sondern auch kleine Königreiche und kleinste Fürstentümer. Man darf nicht vergessen: Zur Zeit von Christopher Columbus herrschten rund 400 Dynastien in Europa, nicht nur die Habsburger mit ihren breit gestreuten Einflusszonen)
"Der Nationalismus hat die Welt auf den Kopf gestellt: Er ist für mehr als ein Jahrhundert die stärkste revolutionäre Kraft der Welt gewesen. [...] In den Vereinigten Staaten mußte ein Krieg geführt werden, der im Verhältnis mehr Menschenleben gekostet hat als jeder andere Krieg ihrer Geschichte, damit klar wurde, daß das Land aus einer Nation, nicht aus zweien bestand. Der Nationalismus ist das triumphierende Glaubensbekenntnis der Epoche", schreibt Roberts.
In der "Kulturgeschichte der Neuzeit" (3 Bände erschienen 1927-31) wurde erstmals herausgearbeitet, dass Nationen kein Phänomen aller historischen Epochen waren. Egon Friedell schreibt in diesem epochalen Werk: "Es wäre ein großer Irrtum, wenn man glauben wollte, daß es während der französischen Aufklärung bereits einen zielbewußten Kampf gegen die Aristokratie und das Königtum gegeben habe; das Angriffsobjekt war vielmehr zunächst fast ausschließlich die Kirche. Ein politisch erfahrener und geschulter Kopf hätte allerdings bereits in dieser Form der Opposition die Anzeichen einer allgemeinen Revolution erblicken können; aber die damaligen französischen Adeligen hatten keinen Begriff vom Leben der Nation und den bewegenden Kräften der Geschichte. Und vor allem hatten sie keinen Begriff vom Geld: die stärkste Macht der modernen Zivilisation war ihnen unbekannt."
Über die Teilung Polens in den 1770er Jahren schreibt Friedell: "Dieser in der neueren Geschichte vollkommen vereinzelt dastehende Vorgang hat jedoch in der öffentlichen Meinung fast gar keine Entrüstung ausgelöst, weil die damalige Menschheit kosmopolitisch orientiert war und daher die Vergewaltigung einer ganzen Nation gar nicht als solche empfand. Zumal in Deutschland war der heutige Begriff des Patriotismus gänzlich unbekannt."
Der junge Goethe schrieb in diesen Jahren: »Wenn wir einen Platz in der Welt finden, da mit unseren Besitztümern zu ruhen, ein Feld, uns zu nähren, ein Haus, uns zu decken, haben wir da nicht ein Vaterland? und haben das nicht tausend und tausende in jedem Staat? und leben sie nicht in dieser Beschränkung glücklich? Wozu nun das vergebene Aufstreben nach einer Empfindung, die wir weder haben können noch mögen, die bei gewissen Völkern, nur zu gewissen Zeitpunkten, das Resultat vieler glücklich zusammentreffender Umstände war und ist? Römerpatriotismus? Davor bewahre uns Gott wie vor einer Riesengestalt!«. Diese Zitat bringt Friedell und schreibt weiter: "auch noch als ausgereifter Mann notiert er [Goethe] in sein Tagebuch im Hinblick auf die soeben erfolgte Gründung des Rheinbundes: »Zwiespalt des Bedienten und Kutschers auf dem Bock, welcher uns mehr in Leidenschaft versetzte als die Spaltung des Römischen Reiches.«"
Gemeint ist die Spaltung des Römischen Reiches "Deutscher Nation" im Jahr 1806. Stefan Vajda kommentiert in seiner Geschichte Österreichs "Felix Austria" die Gründung des Rheinbundes: "Der Rest, immerhin noch 76 unabhängige Länder und Städte mit eigener Finanzgebarung und Gesetzgebung, mit eigenem Hofstaat und Soldatenspiel, rührte keinen Finger, um die unnütze und ungeliebte Fiktion, das Heilige Römische Reich, zu retten. Franz II. zog die Konsequenzen (Napoleon half mit massiven Drohungen nach) er legte die Krone des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation schon eine Woche nach der Gründung des Rheinbundes nieder."
Dazu würde die Losung passen: "Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ist tot. Es lebe die Deutsche Nation".
Stellvertretend für die Sicht der Franzosen könnte man Voltaire zitieren, der sagte: "Das heilige römische Reich, – weder heilig, noch römisch, noch Reich." Aber das ist ein andres Thema.
Um die These "Nationen lösen Dynastien ab" abschließend zu begründen, sind die Fragen über die "Geburt der Nation" zu beantworten:
Was waren die Ingredienzien des Nationalismus des 19. Jahrhunderts?
Wie verlief die deutsche Nationen-Bildung im 19. Jahrhundert?
Beginnend mit der zweiten Frage begann Nation-Building in den Ländern des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches mit dem Wiener Kongress und den Bürgerlichen Revolutionen (Julirevolutiionen 1830, Februarrevolutionen 1848). Friedell schreibt: "Mit dem Wiener Kongreß beginnt die Geschichte der Gegenwart ... die Jahre von 1815 bis 1830, vom Wiener Kongreß bis zur Julirevolution, stehen in auffallendem Maße unter dem Gesetz der historischen Ungerechtigkeit. Man bezeichnet diese Periode im allgemeinen als die Ära der Reaktion oder der Restauration. In dieser Doppelbenennung ist bereits der ganze Widerstreit der Beurteilungen enthalten, die sie erfahren hat und noch erfährt."
[Anm HTH: Reaktion steht für Erhaltung der Dynastien, Restauration steht für die Transformation der europäischen Dynastien im Geiste der napoleonischen Grande Nation nach der Niederschlagung Napoleons.]
Friedell weiter: "Die neue Landkarte.... Die Bestimmungen des Wiener Kongresses waren ein Rückfall in die tristesten Zeiten dynastischer Kabinettspolitik. Auf die Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerungen wurde weder bei der inneren Organisation noch bei der äußeren Territorialgestaltung der neugeschaffenen Staaten Rücksicht genommen. Die vorrevolutionäre Landkarte konnte man indes doch nicht vollständig wiederherstellen."
Die Ingredienzien des Nationalbewusstseins haben Philosophen und Dichter geliefert die damals noch Einfluss auf die Geschichte, zumindest auf die Geistesgeschichte ausüben konnten. Wenn auch das Dreigestirn Goethe-Schiller-Lessing kritische Bonmots über die Idee der Nation zum Besten gaben, so haben andere anerkannte Denker offenbar systematischer und erfolgreicher an der Verbreitung der National-Idee gearbeitet. Insbesondere Johann Gottlieb Fichte mit seinen "Reden an die Deutsche Nation" und die Brüder Grimm mit der "Deutschen Grammatik", dem "Deutschen Wörterbuch", der "Deutschen Mythologie" bis hin zu den deutschen Heldensagen. Dazu kamen Nationaltheater, die Erforschung des Nationalcharakters, die Inter-Nationale, die National-Ökonomie und nicht zuletzt der Nationalismus. Die Pointe der Geschichte: ausgerechnet die Kritiker der Nationalen Idee, Goethe/Schiller/Lessing wurden später zu Nationaldichtern erhoben.
Friedell: "Einen bewunderungswürdigen Mut bewies er [Fichte] durch seine »Reden an die deutsche Nation«, die er im Winter 1807 auf 1808 hielt, während in Berlin ein französischer Befehlshaber residierte: man fürchtete allgemein, daß ihn das Schicksal des Buchhändlers Palm treffen werde, und er selber war darauf gefaßt. Er forderte in ihnen die sittliche Wiedergeburt des Volkes als Vorbedingung der politischen Wiedergeburt, und es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß sie einen der stärksten Antriebe zur Erhebung von 1813 gebildet haben."
Friedell: "In seiner »Deutschen Grammatik« erforschte Jakob Grimm mit zartestem Verständnis die Psychologie der Sprachbildung, in den »Deutschen Rechtsaltertümern« und der »Deutschen Mythologie« grub er tief in den dunkeln Schacht des nationalen Lebens; Wilhelm Grimm ging der deutschen Heldensage nach und gab altdänische Balladen, den Freidank, den Rosengarten, das Rolandslied und vieles andere heraus; gemeinsam edierten die beiden Brüder die berühmten »Kinder- und Hausmärchen«, irische Elfenmärchen, verschollene heimische Dichtungen wie das Hildebrandslied und den Armen Heinrich und begannen das Riesenwerk des »Deutschen Wörterbuchs«. "
Anders gesagt: Die Entwicklung des Nationalbewusstseins hat im 19. Jahrhunderts schrittweise alle Bereiche erfasst, es erwachte im Kampf gegen das Standesbewusstsein (das kritische und erfolgreiche Bürger - Unternehmer ebenso wie Künstler - nur noch als Standesdünkel wahrnahmen), wurde Jahrzehnte nach dem Wiener Kongress von den Ständen vereinnahmt und endete für "Kaiser, Volk und Vaterland" mit dem 1. Weltkrieg. Mit John Morris Roberts kann man zusammenfassen: Die "vergötterte Idee des Nationalstaates" hat sich später auch in der "nicht-westlichen Welt als unwiderstehlich" erwiesen. So war es leicht, die Idee überall einzuführen - ein Export, der die Vormacht des Westens im 19. Jahrhundert und nach dem 1. Weltkrieg weiter stärkte.