Die Geburt der österreichischen Nation aus dem Geist der Neutralität - 3. Nationalismus und NS

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Teil 3: Die Vernichtung des Nationalismus durch den Nationalsozialismus

Der Ausbruch des 1. Weltkriegs wurde von allen Seiten, von allen Ständen und Klassen mehrheitlich mit großem Enthusiasmus begrüßt. Offenbar führte der Status-quo, die Selbstherrschaft der Monarchen, trotz mancher Mitbestimmungsrechte der Stände, zu einem Zustand der ständigen Anspannung, so dass der Ausbruch des Krieges wie eine Ent-Spannung empfunden wurde. Das Ende des 1. Weltkrieges bedeutete folgerichtig das Ende der europäischen Dynastien und den Beginn der Nationalstaaten. Die Grenzen der europäischen Nationalstaaten wurden großteils entlang der Grenzen von Volksgruppen gezogen. So wurde die Begriffe Nation und Volk in den Nationalstaaten Europas zum Synonym.

Die Idee der Nation hat sich schon im 19. Jahrhundert zur Ideologie des Nationalismus entwickelt.

Das ist eine natürliche Entwicklung jeder starken Idee. Jede offene Gesellschaft besteht aus vielen Ideologien, jede Demokratie lebt vom Dialog und Streit der Ideologien. Die Problematik jeder Ideologie wird dann virulent, wenn sie Anspruch erhebt, alleine die Antworten auf alle Fragen und Probleme zu liefern. So entwickelt sich eine Ideologie nicht zwangsweise, aber häufig zum Totalitarismus, eine Demokratie zur totalitären Diktatur.

In der Zwischenkriegszeit konvertierte der Nationalismus zum Rassismus. Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, ja sogar weltweit.

Dokumente für weltweite Phänomene des Rassismus liefert Philipp Blom in seinem Buch "Die zerissenen Jahre. 1918-1938". Die philosophische Quintessenz seines Buches: Der Zeitgeist der 1920er und 1930er Jahre manifestierte sich im Rassismus, Rassismus war der Schlüsselbegriff der Zwischenkriegszeit, der sich nicht nur im deutsch/österreichischen Antisemitismus manifestierte, sondern auch in der US-amerikanischen Rassentrennung, in der allgegenwärtigen Gewaltbereitschaft, in der Neigung zur Grenzüberschreitung und nicht zuletzt im Totalitarismus. Dabei geht es nicht nur um Hitler, Mussolini oder Stalin, auf den die Kriterien des Rassismus gleichermaßen angewendet werden können, sondern auch um die Geisteshaltung von Menschen aus Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft.

"Während der 1920er Jahre war die Debatte über 'arische Physik' in vollem Gange. Einer der wichtigsten Exponenten war der Nobelpreisträger Philipp Lenard, der in seinem vierbändigen Werk 'Deutsche Physik' (1936) erklärte: "[....] Von einer Physik der Neger ist noch nichts bekannt; dagegen hat sich sehr breit eine eigentümliche Physik der Juden entwickelt, die nur bisher wenig erkannt ist." (Philipp Blom)

Antisemitismus wird oft als Phänomen sui generis betrachtet. Die Unmenschlichkeit des Holocoust können sich manche Historiker nur mit Begriffen wie "das Böse schlechthin" und der Wortschöpfung "Unrechtsstaat" erklären. Und Politiker unserer Zeit, die gerade die Demokratie und Neutralität mit Füßen treten (wie VdB, Nehammer und Ex-Kanzler Schüssel, um nur drei Namen zu nennen, damit sie eine Gelegenheit mehr bekommen, den politischen Diskurs in die Gerichtssäle zu verlegen), können uns mit derartigen wissenschaftlichen Einschätzungen vorspiegeln, ihrerseits die legitimen Vertreter eines "immerwährenden" Rechtsstaates zu sein. Philosophisch betrachtet ist Antisemitismus eine von vielen Ausformungen des Rassismus, die sich wie oben skizziert in Rassentrennung, Gewaltbereitschaft, Grenzüberschreitung und Totalitarismus manifestieren.

Wie die Rassen wurden in der Zwischenkriegszeit auch Klassen als minderwertig bezeichnet und entsprechend behandelt. Bom bringt Beispiele:

Philipp Blom über Rassentrennung:

"Im ersten Weltkrieg wurden erstmals schwarze Soldaten rekrutiert, sie kamen getrennt von den Weißen in eine eigenes Infanterieregiment, die [beliebten und gefeierten] "Harlem Hellfighters". Am Neujahrstag 1918 landeten sie in Frankreich. ... Zurück in den USA "kam das böse Erwachen. Im zivilen Leben waren die 'Hellfighters' wieder Bürger zweiter Klasse, die im segregierten Süden offen und im Norden weniger offen diskriminiert wurden. Der Ku-Klux-Klan gewann Tausende von neuen Mitgliedern, Lynchmorde häuften sich [...] Die Mitgliedschaft im Klan war in Amerika geborenen weißen Protestanten vorbehalten, und obwohl sich ihre Feindschaft vor allem gegen Schwarze richtete, griffen sie auch andere 'unamerikanische' Menschen an wie zum Beispiel Juden, Katholiken und 'Sozialisten' [...] Auch die Gewerkschaften sahen es nicht als ihre Rolle zu vermitteln, sondern schürten die Spannungen weiter.

Philipp Blom über Gewaltbereitschaft:

"Die Motivation für die Kämpfe, die als Schlacht um Blair Mountain [USA] bekannt werden sollten, war nicht die Weltrevolution, sondern die grausame Ausbeutung der dort beschäftigten Bergleute. [...] Tatsächlich waren die Überlebenschancen eines Bergmanns schlechter als sie es für die Soldaten an der Westfront gewesen waren."

Philipp Blom über Grenzüberschreitung:

"Viele Angehörige der gesellschaftlichen Eliten in den Ländern des Westens waren begeisterte Eugeniker. In Großbritannien zählte das Galton Institute, benannt nach dem Eugeniker Sir Francis Galton, nicht nur den Ökonomen John Maynard Keyens zu seinen Mitgliedern, sondern auch den zukünftigen Premierminister Arthur Neville Chamberlain [...] George Bernard Shaw, Virginia Woolf, der Philosoph Bertrand Russel, der Schriftstellen H.G Wells und viele weitere, eine Liste, die sich wie das Who's Who des britischen intellektuellen Lebens liest."

Philipp Blom über Totalitarismus:

"Der Kommunismus konnte sich auf dem Land nicht etablieren, und Stalin und sein enger Vertrauter Lasar Kaganowitsch waren der Überzeugung, dass die einzig mögliche Antwort darauf war, die Kulaken als Klasse zu liquidieren."

"Ein furchtbarer Wettbewerb der Grausamkeit entwickelte sich zwischen Lenins gefürchteter Geheimpolizei, der Tscheka, die etwa eine Viertelmillion Menschen ohne Gerichtsverfahren hinrichtete, und monarchistischen Kosakentruppen, die allein in ihrer Provinz 25.000 Zivilisten erschossen.

Philipp Blom über Antisemitismus:

"Angeführt Von Hans Karl Leistritz, ... plante die nationalsozialistische Studentenorganisation eine große Kampagne gegen die Werke der Schriftsteller, Wissenschaftler und Akademiker, die sie nicht für ausreichend deutsch hielten, ... präsentierten sich die Studenten als die legitimen Erben Martin Luthers und erstellten eine Liste mit 'Thesen wider den undeutschen Geist' "

"Während der alte Komponist [Richard Strauss] seine NS-Uniform, die er zu offiziellen Anlässen trug, aus einer im Grunde unpolitischen Haltung heraus überstreifte, war der 49-jährige Philosoph Martin Heidegger tatsächlich von der nationalsozialistischen Ideologie fasziniert und erhoffte sich von ihr eine Erneuerung der Zivilisation. ... 1933 war er der NSDAP beigetreten."

RESÜMEE dieses Kapitels

Dass Rassismus in der Zwischenkriegszeit ein weltumspannendes Phänomen war, entschuldigt kein einziges Verbrechen der Nazis. Hier geht es darum zu zeigen, dass rund 100 Jahre der Entwicklung von Nationen und ihres jeweiligen Nationalbewusstseins einerseits zum Ende der Monarchien, anderseits zur Entwicklung von Nationalismen und rassistischen Haltungen führte. In diesem Umfeld konnte die "Deutsche Nation" ohne größeren inter-nationalen Widerstand zum Tausendjährigen Reich aufsteigen. Die Österreicher als Erfüllungsgehilfen des Deutschen Reiches folgten beim Anschluss nicht nur dem Führer, sondern vor allem ihren Führern aus allen Lagern, darunter Karl Renner. So wie der Sozialist Renner waren so gut wie alle Politiker in der Zwischenkriegszeit deutschnational gesinnt und mehr oder weniger antisemitisch. Die Erste Republik hieß zuerst "Deutsch-Österreich" und musste nach Intervention der Siegermächte "Deutsch" aus ihrem Namen streichen. Damit war aber noch lange kein Bewusstsein einer österreichischen Nation da. Sogar Hans Kelsen, der so genannte "Vater" der österreichischen Verfassung, war der Überzeugung, dass diese Verfassung nur für eine Übergangszeit tauge, und die Überwindung von "der Rest ist Österreich" nur durch den Anschluss an Deutschland möglich sei. Der Anschluss kam, anders als von den meisten ersehnt, erhofft oder gar geplant.