Die Geburt der österreichischen Nation aus dem Geist der Neutralität - 4. Österreich ist frei

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Teil 4: Die Geburt der österreichischen Nation aus dem Geist der Neutralität.

"Der 'Anschluß' kam anders" ist der Titel des 11. Kapitels in Bruno Kreiskys 1. Teil seiner Memoiren. "Die österreichische Diktatur, die gut vier Jahre gedauert hatte, war der fruchtbarste Boden für die Drachensaat des Nazismus. Im Grunde war der Kleriko-Faschismus ein einziges Vakuum. Und in dieses Vakuum stieß eine Bewegung vor, die ihre politischen Ziele sehr viel hemmungsloser manifestierte. Das Regime hatte immer mehr an Boden verloren und in steigendem Maße Unsicherheit verbreitet. Zwar wußte niemand genau, was der Nazismus bringen würde, aber daß er anders aussehen würde als das mit den Mitteln der Diktatur mühsam aufrechterhaltene System der Unfreiheit, lag auf der Hand. Anders als das, was man hatte - das hieß für die meisten eben, daß es nur besser werden könne.

Anders als damals geht die Mehrheit der Österreicher - trotz aller antidemokratischen Entwicklungen der vergangenen Jahre - heute davon aus, dass es durch grundlegende Veränderungen "nur schlechter werden könne". Aber das ist ein anderes Thema. Hier geht es um die Weltanschauung von Bruno Kreisky. An der Spitze seiner Feindbilder stand bis an sein Lebensende der Austrofaschismus, knapp gefolgt vom Kommunismus. Mit großem Abstand folgte der Nationalsozialismus, der seine Ziele zwar "hemmongsloser manifestierte" als der Klerikofaschismus, aber doch die Hoffnung weckte, "daß es nur besser werden könne." Nationalsozialisten waren zwar Nazis, aber viele von ihnen lediglich (temporär) enttäuschte Sozialisten, so das Weltbild von Kreisky. Für ihn und die damalige SPÖ, ebenso wie für führende ÖVP-Funktionäre, war das Thema Nationalis-mus mit dem Ende der Nazidiktatur, das Kreisky persönlich in Schweden erlebte, abgehakt.

Nationalismus war ab 1945 in Österreich gleichbedeutend mit Nationalsozialismus, gleichbedeutend mit Deutschnationalismus. Nationalismus war passe, Nationalismus war für drei Jahrzehnte aus den Themenspektrum der Tagespolitik gestrichen. Dies galt bis zur "legendären" Aussage des FPÖ-Führers Jörg Haider, die österreichische Nation sei eine "ideologische Mißgeburt" (SN am 18.8.1988) Haider im O-Ton (Inlandsreport 18. August 1988): "Das wissen sie so gut wie ich, dass die österreichische Nation eine Missgeburt gewesen ist, eine ideologische Missgeburt, denn die Volkszugehörigkeit ist die eine Sache und die Staatszugehörigkeit ist die andere Sache." (Quelle: news.at)

Haider, der sich selbst gerne als Erbe von Bruno Kreisky bezeichnete, hat mit Sicherheit "Zwischen den Zeiten" (den ersten Teil von Kreiskys Memoiren, der 1986 erschienen ist) gelesen, insbesondere die Zeilen: "Was nun die jetzt wieder so aktuelle Entnazifizierung angeht - die man euphemistisch 'Bewältigung der Vergangenheit' nennt -, so stellt sich als erstes die Frage: Wie sollte man den Aufbau eines Kleinstaates angehen, in dem vierzehn Prozent der Wahlberechtigten registrierpflichtige Nationalsozialisten waren? ... Wir mußten darauf vertrauen, daß die Menschen, klüger geworden durch Erfahrung, ihren Weg zur Demokratie finden." (428)

Es hat bis 1995 gedauert, bis ein Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus eingerichtet wurde. Das zeugt einerseits davon, dass man die Vergangenheitsbewältigung in Österreich 50 Jahre lang verschleppt hat, anderseits, dass man das Thema Nationalsozialismus nie wirklich abgeschlossen und eine Diskussion über die Frage der Österreichischen Nation nie wirklich geführt hat.

Über die never ending story "Vergangenheitsbewältigung" hat der sozialistische Philosoph Rudolf Burger (25.7.2001 Wiener Zeitung) geschrieben: "Der Aufsatz "Die Irrtümer der Gedenkpolitik" (20.6.2001 in derStandard.at) hat aus meiner Sicht drei Zielpunkte, zwei theoretische und einen ästhetischen. 1. Ich behaupte, die Verdrängungstheorie ist schlicht und einfach falsch. 2. Die Warnungs- und Erweckungsprosa - 'Niemals vergessen, damit es sich nicht wiederholt' - ist ebenso falsch. Für die Richtigkeit gibt es kein Beispiel in der Geschichte. Das sind die beiden theoretischen Punkte. Der ästhetische ist der, dass es mich ekelt davor, wie in den Medien und in der öffentlichen Diskussion mit den Geschehnissen in der Nazizeit umgegangen wird. Den scholastischen Streit, ob es sich bei den Verbrechen der Nazis um das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte handelt, halte ich für unfruchtbar. Der Holcaust ist zu einem Atout in jeder politischen Auseinandersetzung geworden. Ich halte das für eine schamlose moralische Sekundärausbeutung der Opfer."

Über die österreichische Nation als Missgeburt gab es naturgemäß jede Menge Aufregung, aber auch eine vom Verursacher der Diskussion sicher nicht intendierte Entwicklung: das Erwachen des österreichischen Nationalbewusstseins. Dialektisch betrachtet könnte man dieses Kapitel daher auch nennen: Die Geburt der Nation aus der Negation ihrer Missgeburt. Aber ohne philosophische Ironie und ohne die Metapher der "Geburt "unserer Nation überstrapazieren zu wollen, ist die Frage zu stellen: wann genau war das Geburtsdatum?

33 Jahre nach Einführung des National-Feiertags an dem Tag, als der National-Rat das Verfassungsgesetz zur immerwährenden Neutralität angenommen hat,

33 Jahre nach Unterzeichnung des Staatsvertrags, der die Souveränität Österreichs anerkennt, und den Status Österreichs als Demokratie bekräftigt,

33 Jahre nach dem legendären Ausspruch "Österreich ist frei" von Leopold Figl im Rahmen der Staatsvertrags-Unterzeichnung im Wiener Belvedere, 

haben die Österreicher (nicht nur aus Widerspruch und Protest gegen Haiders Bonmot) entdeckt, dass sie eine Nation sind. Die Geburt der österreichischen Nation darf man freilich auf das Jahr 1955 verlegen, den Geburtstag auf den 26. Oktober 1955. Anders gesagt: der 26. Oktober konstituiert den kausalen Zusammenhang zwischen österreichischer Neutralität und österreichischer Nation.

Stephan Vajda bestätigt: "Der 26. Oktober wurde als 'Tag der Fahne' zum Nationalfeiertag erklärt, obwohl der Tag mit der österreichischen Fahne nichts zu tun hat, vielmehr mit der Österreichischen Neutralität und, falls die Behauptung über den namentlich nicht genannten britischen Offizier stimmt, mit dem Abmarsch des letzten Besatzungssoldaten. [Anmerkung HTH: als Symbol unserer wieder erlangten Freiheit!] Doch für nationale Feiertage wie auch für Nationalismus traditionellen Zuschnitts schlechthin zeigt die Bevölkerung der Zweiten Republik kaum Interesse." [Anm. HTH: geschrieben 1985, also drei Jahre vor dem "Weckruf" von Jörg Haider!]

Als Kampfmittel gegen die laufende Vernichtung unserer Neutralität sollten alle Verteidiger unserer Grundwerte das Neutralitätsgesetz im Verfassungsrang auswendig lernen, es besteht lediglich aus zwei Artikeln:

Artikel I.

(1) Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen.

(2) Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.

Artikel II.

Mit der Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes ist die Bundesregierung betraut

Die Verfassung aus dem Jahr 1920 hat an der deutschnationalen Gesinnung der Österreicher nichts geändert. Ganz im Gegenteil, wie die Gesinnung des "Vaters" der Verfassung beweist. Im Gegensatz dazu können der bejubelte Staatsvertrag und das darauf folgende Neutralitätsgesetz als Vater und Mutter der österreichischen Nation gelten. Auch wenn das Nationalbewusstsein Österreichs aus genannten Gründen nach 1955 noch lange schlummerte, so war, wie Staatvertrags-Jubiläen und Nationalfeiertage seither beweisen, die österreichische Nation schon zu ihrer Geburtsstunde ein gesundes, kräftigen Babys.

Ex-Kanzler Schüssel, der mit Hinweis auf Artikel 23j B-VG [Anm: Zusatzartikel über den Beitritt Österreichs zur EU] ganz einfach behauptet, "die "Neutralität gilt nicht mehr", kann man mit seinen 78 Jahren damit entschuldigen, dass sich erste Anzeichen von Senilität zeigen. Schüssel, der in seinem Aufsatz wider besseres Wissen das Neutralitätsgesetz und die klaren Forderungen des Artikel 9a B-VG (Bekenntnis zur "umfassende Landesverteidigung ... zur Aufrechterhaltung und Verteidigung der immerwährenden Neutralität") ignoriert, kann man nur geistige Verwirrung unterstellen.

Im direkten Vergleich zu den intellektuellen Dünnbrettbohrern, die nach Schüssel ÖVP-Kanzler waren, muss man ihn als herausragenden politischen Denker bezeichnen. Aber angesichts dieser Ausführungen muss man sich fragen, wann er den Aufsatz mit dem Titel "Demokratie gilt nicht mehr" publizieren wird. Denn wenn das Neutralitätsgesetz nichts mehr gilt, dann ist auch die im Staatvertrag verankerte Demokratie nichts mehr wert. De facto wurde unsere Demokratie nach Ausbruch der Corona-Herrschaft schon vernichtet, Schüssel will vielleicht dadurch in die Geschichte eingehen, dass er den geistigen Überbau dafür liefert.

Schüssels Nachfolger im Kanzleramt, seinem Parteigenossen Karl Nehammer, muss man allerdings mitteilen, dass seine gezielte Geschichtsverfälschung - die Neutralität "wurde uns aufgezwungen von den Sowjetkommunisten als Preis dafür, dass wir die Freiheit wieder erlangen konnten 1955" (Details: info-direkt.eu) und die damit verknüpfte Absicht, den Beitritt Österreichs zur Nato verfassungswidrig vorzubereiten, ein Verrat an der Neutralität und der österreichischen Nation ist. Dieses Urteil gilt moralisch betrachtet - rechtlich betrachtet muss man festhalten:

Nehammer, der laut Verfassung für die Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes verantwortlich ist, begeht Hochverrat.

NACHSATZ

Laut minilex.at liegt Hochverrat dann vor, wenn eine Person versucht, mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt die Verfassung Österreichs zu ändern oder unternimmt ein Gebiet, das zu Österreich gehört, abzutrennen. Laut § 244 StGB gilt: "(1) Wer mit einem anderen die gemeinsame Begehung eines Hochverrats verabredet, ist mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen. (2) Ebenso ist zu bestrafen, wer einen Hochverrat in anderer Weise vorbereitet und dadurch die Gefahr eines hochverräterischen Unternehmens herbeiführt oder erheblich vergrößert oder wer einen Hochverrat im Zusammenwirken mit einer ausländischen Macht vorbereitet."

Die Nato ist eindeutig eine ausländische Macht. Punkt.

UPDATE

26. Oktober 2024 - Werner Sabitzer erinnert anlässlich des 50. Jahrestages an die Begründung von Unterrichtsminister Heinrich Drimmel für seinen Antrag im Ministerrat: „Es ist dies der Tag der Neutralitätserklärung Österreichs, der ersten Dokumentation eines selbständigen politischen Wollens Österreichs in voller Freiheit.“ Das war 1956, als der 26. Oktober zum Tag der Flagge erhoben wurde. Am 25. Oktober 1965 wurde der Tag zum Nationalfeiertag erklärt. Die Regierungsvorlage wiederholte die Position, die Drimmel ein Jahrzehnt zuvor eingenommen hatte. Demnach eigne sich der 26. Oktober besonders als Nationalfeiertag, „weil er der Gedenktag der ersten feierlichen Äußerung des Unabhängigkeitswillens der Republik Österreich nach Wiedererlangung ihrer vollen Souveränität und der Erklärung der immerwährenden Souveränität ist.“ Der Ö. Nationalfeiertag wird in der heutigen Form seit 1967 gefeiert.

LITERATUR

Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, 1927-31

Stephan Vajda, Felix Austria. Eine Geschichte Österreichs, 1985

John Morris Roberts, Der Triumph des Abendlandes, 1985

Bruno Kreisky, Zwischen den Zeiten, 1986 + Memoiren Teil II und III.

Niall Ferguson, Der Westen und der Rest der Welt, 2011

Ernst Piper, Nacht über Europa, 2013

Philipp Blom, Die zerrissenen Jahre 1918-1938, 2014

Henry Kissinger, Weltordnung, 2014

Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent, 2016

B-VG Bundes-Verfassungsgesetz mit Nebenverfassungsrecht