Roberts John Morris: Der Triumph des Abendlandes

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"Eine neue Deutung der Weltgeschichte" (so der Untertitel der deutschen Ausgabe) hat der britische Historiker J.M. Roberts 1985 publiziert. Der Originaltitel lautet: "The Triumph of the West: The Origin, Rise, and Legacy of Western Civilization". Man könnte das Buch von Roberts (1928-2003) als Ehrenrettung des "Eurozentrismus" bezeichnen. Laut Wikipedia ist dieser Begriff in den 1970er Jahren aufgekommen und hat sich in den 1990er Jahren durchgesetzt um die Vorherrschaft der europäischen Kultur und Zivilisation in Zeiten des Kolonialismus und Imperialismus zu kritisieren.

Über die Weltsicht eines Europäers im Jahr 1900 schreibt Roberts in der Einleitung: "Jedermann wußte, daß es in der fernen Vergangenheit andere große Kulturen gegeben hatte [...] das China des 19. Jahrhunderts wurde von denen, die zur 'zivilisierten Welt' gehörten, gewöhnlich für kaum lebendiger gehalten als das alte Assyrien. Diese Vorstellung setzte einen unausgesprochenen Gegensatz zu allem anderen, zum un-zivilisierten Rest der Welt, der vor allem keinen Anteil an der westlichen Dynamik hatte." (S 7) (Niall Ferguson hat 26 Jahre später die wesentlichen Positionen von Roberts in seinem Buch "Der Westen und der Rest der Welt" übernommen.) "Die Kultur dieser Welt hatte ihr Fundament im Glauben an die vernünftige, objektive Intelligenz". (S 9)

Das für einen "Essay" recht umfangreiche Werk ist keine einseitige Apotheose des Abendlandes, zumal im Rückblick auf "das irre Böse" im 20. Jahrhundert. Aber der Autor neigt dazu, "die ganz düsteren Urteilssprüche zurückzuweisen und dem größeres Gewicht beizumessen, was Menschen tun, als dem, was Intellektuelle sagen. [...] Moralische und ästhetische Werturteile über die Vergangenheit berühren unser Leben hier und heute. Wenn sie nicht haltbar begründet sind, können sie leicht die historische Perspektive verzerren und so unser eigenes Urteil noch mehr trüben. Das heißt nicht, dass wir die Greuel der Vergangenheit schlicht vergessen und lautstark von 'Errungenschaften' reden können. Es geht hier vielmehr um den Versuch, die historische Durchschlagskraft der abendländischen Kultur zu bemessen, um auf diese Weise ihre Wirkung auf die Entwicklung des Menschen zutreffend zu bewerten." (S 10)

Auch wenn sich Eroberungen, Kolonialismus und Imperialismus wie ein roter Faden durch das Buch ziehen, so geht es nicht primär um Macht, sondern um Mythen und Moral. Und wenn es um Macht geht, dann weniger um die politische Macht, um Einflusszonen der europäischen Monarchen, sondern um die Handelsmacht, also den Schutz der Handelsrouten, Handelsstützpunkte und vor allem der einseitigen Handelsverträge mit militärischem Mitteln. "So wurde Indien von den Briten fast zufällig erworben, praktisch als ein Nebenprodukt der Unternehmungen einer Handelsgesellschaft". (S 297)

Beispiel China und der Opiumkrieg: Die ersten Galeonen waren im Jahre 1514 gelandet. Damit begannen die europäischen Handelsbeziehungen mit China. Da die Chinesen ihre Kultur für überlegen hielten, hatten die Europäer für Seide und Porzellan nichts anzubieten und mussten mit Silber zahlen. So wurden die in Amerika erbeuteten Dollar lange Zeit zum Zahlungsmittel in China. "Diese Situation änderte sich erst im frühen 19. Jahrhundert, als der Wesen etwas entdeckte, nach dem die Chinesen verlangten, von dem ihre Regierung jedoch nicht wünschte, daß sie es erhielten: Opium." (S 333) Die britische Ostindienkompanie konnte für regelmäßigen Nachschub sorgen und die Nachfrage schnellte in die Höhe. "Die Auswirkungen waren katastrophal. In den chinesischen Küstenprovinzen sollen Millionen von Menschen opiumabhängig gewesen sein. [...] Die kaiserliche Regierung verbot den Handel und versuchte, ihn zu verhindern, aber die britischen und amerikanischen Schieber waren nicht aufzuhalten; sie verstanden es hervorragend, die öffentliche Meinung zu steuern; die englische Presse stellte sie nicht als bloße Profitjäger dar, sondern als Kulturträger. [...] Das Recht, Handel zu treiben, wurde zu einer moralischen Frage, zu einem Problem, das zwischen zwei Kulturen umstritten war." (S 333)

Da die indische Regierung einen guten Teil ihrer Einnahmen aus Opiumsteuern lukrierte, hatten die Briten einen Verbündeten, als China 1840 den sogenannten Opiumkrieg erklärte - "eine der schmutzigsten Episoden in der Geschichte des westlichen Imperialismus", so Roberts. Die Briten haben diesen Krieg gewonnen und in weiterer Folge den Chinesen Verträge aufgezwungen, "die ihnen einen privilegierten Zugang zum kaiserlichen Territorium verschafften. Bald folgten Frankreich und die Vereinigten Staaten dem britischen Beispiel." (S 334) Bis Ende des 19. Jahrhunderts hat der Westen 90 Häfen in China errichtet, was den Kaiser von China offenbar nicht beunruhigte. "Das Vertragshafensystem wurde zunächst nur als Ausweitung einer bereits bestehenden Praxis betrachtet, wie sie die Duldung der portugiesischen Präsenz in Macao darstellt". (S 334)

Aufgrund ihres Glaubens an den Mythos vom Himmelssohn und seine universelle Herrschaft hatten die Chinesen kein eigenes Außenministerium, denn sie betrachteten alle Menschen als Untertanen ihres Kaisers. Dieses Weltbild konnte offenbar auch im Jahre 1860 die Plünderung und Zerstörung des Sommerpalastes als Reaktion auf die Ermordung europäischer Geiseln nicht erschüttern. "Vom chinesischen Standpunkt aus gab es keine unabhängigen fremden Nationen, sondern nur nicht-chinesische Völker, die mehr oder weniger in Abhängigkeit vom Kaiser standen." (S 337)

Der Begriff der "Nation" war auch in Europa bis ins 19. Jahrhundert nicht gebräuchlich, wurde dann aber umso schneller zu einer konstituierenden Idee, so dass der Nationalismus "die Staatsgebilde des dynastischen Zeitalters" zerstörte. "Der Nationalismus hat die Welt auf den Kopf gestellt: Er ist für mehr als ein Jahrhundert die stärkste revolutionäre Kraft der Welt gewesen. [...] In den Vereinigten Staaten mußte ein Krieg geführt werden, der im Verhältnis mehr Menschenleben gekostet hat als jeder andere Krieg ihrer Geschichte, damit klar wurde, daß das Land aus einer Nation, nicht aus zweien bestand. Der Nationalismus ist das triumphierende Glaubensbekenntnis der Epoche." (S 292) Die "vergötterte Idee des Nationalstaates" hat sich laut Roberts auch in der "nicht-westlichen Welt als unwiderstehlich" erwiesen. So war es leicht, die Idee überall einzuführen - ein Export, der die Vormacht des Westens im 19. Jahrhundert und nach dem 1. Weltkrieg weiter stärkte.

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 Nationalismus, Kultur und Zivilisation sind abstrakte Begriffe, die aber als politische Ideen massive Auswirkungen haben. Der Historiker meint dazu: "Als abstrakte Idee ist Kultur nicht leicht zu bestimmen. Kulturen als historische Fakten sind dagegen leichter zu erörtern." (S 13) Auch wenn Roberts keine Kultur-, oder Geistesgeschichte des Westens schreiben wollte, so stehen doch Moral, Mythen, Glaube und Ideen im Fokus seines Essays, denn dies sind die treibenden Kräfte, die den "Triumph des Abendlandes" ermöglicht haben. Es folgen Auszüge aus dem Buch, die diese Schlüsselbegriffe thematisieren.

Ideen

"Afrikaner und Asiaten berufen sich inzwischen auf die Ideen der Demokratie, des Nationalismus, der Menschenrechte und viele andere Faktoren der wesltichen politischen Mythologie." (S. 38)

"Afrika ist eine westliche Idee [...] Bevor Europäer diese Idee nach Afrika brachten, wußte kein Afrikaner, daß er auf einem Kontinent lebte, der (nützlicherweise) als ein Ganzes betrachtet werden konnte." (S 38)

Der Begriff "Geisteswissenschaften" wurzelt "auf eine ganz spezifische und umfassende Weise in der europäischen Kultur" und ergibt laut Roberts außerhalb dieser Kultur viel weniger Sinn. (S 39)

"Die Idee vom schlechten Gewissen: Zuerst von den Propheten artikuliert und gepredigt, erscheint diese Idee immer wieder durch die ganze abendländische Geschichte hindurch, eine Kraft, die die Grenzen des moralisch Möglichen immer weiter hinausschob. Sie stattete die christliche Lehre von Anfang an mit einem Korrektiv aus, das helfen konnte, Fehlhaltungen selbst auszugleichen, und machte es so möglich höhere Ziele zu erreichen." (S. 55)

"Die Idee vom auserwählten Volk sollte Generationen von Christen in ihrem Glauben bestärken, daß [...] sie das Gelobte Land der Erlösung nicht nur erreichen könnten, sondern erreichen würden." Kommentar TH: Diese Idee verbündet heute die USA und Israel, wo sie die Politiker stärker prägt als jene Europas. Barak Obamas Memoiren tragen den Titel "A Promised Land" und Henry Kissinger ist bis heute geradezu ein Evangelist dieser Mission, zuletzt in seinem Buch "Weltordnung" (World Order, 2014).

"Die platonische Idee des Dualismus der menschlichen Natur, in der die Seele, göttlichen Ursprungs, mit ihrem Gefängnis, dem Körper, im Streit liegt, [....] Daraus folgte vieles andere: Der Glaube, daß der Mensch sein Leben selbst gestalten kann (und deshalb sollte); der Glaube, daß der Mensch der Schöpfer seiner selbst sein muß." (S 75)


 Mythen

"Wie einzelne Männer und Frauen weben auch Völker und Kulturen an Mythen über das, was sie waren und sind, können und tun sollten. Auf diese Weise finden sie in ihrer Erfahrung Sinn. [...] Wir können zu diesem Zweck [Sinnfindung] nicht ohne Mythen auskommen. [...] Mythen erzeugen häufig Geschichtsphilosophien, die versuchen, das, was geschehen ist, rational zu erklären." (S 47)

"Ich glaube, im Kern des westlichen Geschichtsbildes finden sich zwei zentrale Mythen. Einer davon ist die Idee, daß Menschen in mancher Hinsicht fähig sind, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen; sie sind autonom. Der andere Mythos ist die Idee, daß Geschichte einen Sinn hat, weil sie Richtung hat; sie bewegt sich irgendwohin." (S 49)


 Glaube

"Kolumbus muss , ebenso wie die alten Griechen, von der Kugelgestalt der Erde überzeugt gewesen sein." (S 189) Anm TH: Man könnte auch sagen, dass Kolumbus daran geglaubt hat, zumal damals keine empirischen Erkenntnisse darüber vorhanden waren.

"Noch lange nach 1700 wurden in vielen europäischen Ländern Männer und Frauen verbrannt, ertränkt oder gelyncht, weil sie angeblich mit den Schwarzen Künsten vertraut waren. [...] Innerhalb der letzten 500 Jahre entwickelte das Abendland eine völlig neue Mentalität. Diese steigerte nicht nur die Fähigkeit der europäischen Kultur, neue Gedankengänge zu entwickeln, neue Möglichkeiten ins Auge zu fassen, sondern vermittelte dieser Kultur auch ein neues Selbstverständnis." (S 235)

Anm TH: Der Aberglaube ist nicht die Rückseite des Glaubens, sondern die Abkehr vom Glauben, bzw Reduktion des Glaubens auf einzelne Glaubenswahrheiten wie den Kampf gegen das Böse, das sich angeblich in Hexen personifiziert. Die Aufklärung verhalf einem neuen Glauben zum Durchbruch, der sich heute immer öfter als Aberglaube entlarvt: die Wissenschaftsgläubigkeit. Roberts hat diese Entwicklung noch nicht gesehen:

"Die Wissenschaft hat der Menschheit auch einen neuen Glauben gegeben, eine Tatsache, die sich sehr wohl als ihr entscheidendster Einfluß auf die nicht-westliche Welt wie auch auf den Westen selbst erweisen könnte." (S 237)

"Die entscheidende Veränderung bei der Ausformung des modernen Denkens bestand darin, daß die Anschauung, die Welt sei wesenhaft rational und erklärbar, wenn auch wunderbar und kompliziert, immer weiter um sich griff." (S 242) Anm TH: Die Begriffe Anschauung, Wahrnehmung, Vorstellung, Vorstellungskraft, Idee usw sind Schlüsselbegriffe von Immanuel Kants "Kritik der reinen Vernunft", die Roberts als Historiker offenbar nicht reflektiert hat. So wäre hier die Formulierung "der Glaube, die Welt sei wesenhaft rational und erklärbar..." treffender gewesen, entsprechend der Formulierung, die Roberts einleitend verwendet: "Die Kultur dieser Welt hatte ihr Fundament im Glauben an die vernünftige, objektive Intelligenz". (S 9)

"Von etwa 1450 an war die Geschichte Europas und jener Welt, die es in Übersee geschaffen hatte, nicht nur einfach eine Geschichte des Wandels gewesen, sondern die eines Wandels, der sich beschleunigte und, sich in immer rascherer Gangart ausbreitend, auch andere Kulturen verändert. [...] Der Fortschritt war eine Sache des Glaubens geworden, lange bevor grundlegende Verbesserungen im sozialen Bereich feststellbar wurden."


Moral

"1749 setzte die Akademie von Dijon einen Preis für einen Essay über die Frage aus, ob die Wiederbelebung der Wissenschaften und Künste der Moral zugute gekommen sei." Den Preis erhielt wohl der einzige Autor, dessen Antwort negativ ausfiel: Jean Jacques Rousseau. 1762 veröffentlichte er Du contrat social ou principes du droit politique und Émile ou De l’éducation. "Durch diese Bücher und Schriften wurde er zu einem der einflußreichsten Männer, die je gelebt haben. [...] Der Schlüssel zum Denken und zum Standpunkt Rousseaus liegt in der Tatsache, daß er der Philosoph des moralischen Gefühls war. Nach seiner Auffassung konnten persönliche, soziale, pädagogische und politische Entscheidungen nicht gerechtfertigt werden, wenn sie ihre Wurzeln nicht in den Impulsen eines guten Motivs und eines guten Gefühls hatten. Es kam nicht auf das Tun an, sondern auf das Motiv des Handels. [...] Rousseau war auch der Apostel einer neuen Art von kollektiver, sozialisierender Moralität." (S 253)

"Die Menschen in anderen Teilen der Welt, die alle abendländischen Europäer ohne Rücksicht auf deren Nationalität 'Franken' oder 'feringi' nannten, waren der Wahrheit näher, als sie ahnten: Sie brachten zum Ausdruck, daß das, was die Abendländer miteinander verband, nämlich eine bestimmte Haltung, mehr wog als das, was sie trennte." (S 260)

"Die Fortschrittsidee förderte einen verweltlichten missionarischen Eifer. Der Glaube, den zu verbreiten moralisch geboten war, war nicht einfach der Glaube an das Kreuz, sondern ein Glaube an westliche, wie selbstverständlich als allgemeingültig verstandene Werte und an die wirtschaftliche Wohltätigkeit der westlichen Kultur."

"Der moralische Universalismus erhielt [im Laufe des 19. Jahrhunderts] starke Unterstützung durch das wachsende Bewußtsein der materiellen Überlegenheit..." (S 316)


Exkurs: Russland

Im Kapitel "Abgrenzung einer Welt" beschäftigt sich Roberts mit der Frage, ob Russland dem europäischen oder dem asiatischen Kulturkreis zugerechnet werden sollte. Er erinnert daran, dass Justinian in Konstantinopel einführte, "was man etwas schwerfällig 'cäsaropapistische Autokratie' genannt hat", womit die Einheit von weltlicher und geistlicher Gewalt gemeint ist. "Diese Theorie hat sich durch die orthodoxen Kirchen bis auf unsere Tage bewahrt" (S 150). Die Christianisierung der slawischen Völker erfolgte nicht über Europa, sondern ging von Byzanz aus.

"Die barbarischen Könige im Abendland [...] waren in den Augen der Kirche nur treuhänderische Verwalter des geistigen Wohlergehens ihrer Völker [...] Östliche orthodoxe Kaiser kannten keinen solchen irdischen Vorgesetzten. Die folgenreichsten Bekehrungen durch die Ostkirche fanden gegen Ende des 10. Jahrhunderts - wohl 986 - in einem Fürstentum statt, dessen Mittelpunkt eine Handelsstadt am Dnjepr war, in Kiew Rus. Zu diesem Zeitpunkt taucht in der Geschichte erstmals der Begriff 'Rußland' auf. Westeuropäer sind niemals wirklich imstande gewesen, sich klar darüber zu werden, wo sie Rußland auf ihrer geistigen Landkarte einzeichnen sollten." (S 156)

"Erst im 18. Jahrhundert wurde Rußlands regierendes Herrscherhaus in Westeuropa als Mitglied jenes hehren Kreises der Europa regierenden Dynastien anerkannt, und selbst damals verstand niemand so recht, was in Moskau eigentlich vor sich ging. [...] War das Russische Reich orientalisch, war es arabisch? Zweifel blieben. (S 156)

"Es war schließlich Wladimir, der die weitere Entwicklung entscheidend beeinflussen sollte, ein Fürst, der nach wilden dynastischen Kämpfen um 980 als Sieger in Kiew Rus erschien. [...] Wladimir scheint einige Zeit gezögert zu haben, das orthodoxe Christentum für sich und sein Volk anzunehmen, mußte er doch auch politische und diplomatische Erwägungen anstellen. Am Ende jedoch entschloß er sich dazu, und um seine Haltung auch nach außen hin zu zeigen, heiratete er eine byzantinische Prinzessin, die Schwester des Kaisers. [...] Er hatte beschlossen, daß Rußland christlich sein sollte, und dadurch, daß er es nicht katholisch werden ließ, trug er zu jenem russischen Rätsel bei, das in der Frage liegt: Ist Rußland Teil des Abendlandes?" (S 157 f) Eine Antwort darauf gab später Dostojewski: "In Europa sind wir Asiaten, während in Asien auch wir Europäer sind." (S 170)

"Kreuzritter betrachteten die Russen als Feinde und Eindringlinge. Es spielte keine Rolle, daß sie Christen waren und behaupteten, den Glauben zu verbreiten. Die orthodoxen Slawen waren auch Christen, doch ziemlich sicher, daß ihre katholischen Angreifer sie nicht als solche betrachteten. [...] Von Anfang an trieb der feindliche Druck Rußland zur Zentralisierung und dazu, die Staatsgewalt voll zur Geltung zu bringen." [...] Ein tiefsitzender psychologisch bedingter Argwohn gegen das Abendland griff Platz, der immer und immer wieder neu belebt wurde und den Austausch von Ideen zwischen West und Ost verhinderte." (S 159) Im 19. Jahrhundert gab es zwischen europhilen und slawophilen Intellektuellen häufig Auseinandersetzungen.

"1936 brach in der Mongolei ein Krieg zwischen Rußland und Japan aus. Die russischen Machthaber sahen eine alte Gefahr, sahen eine Allianz zwischen Westeuropa und Asien gegen Rußland. Das ist der Hintergrund, den man im Auge behalten muß, wenn man sich über die uns oft völlig unangemessen erscheinende sowjetische Furcht vor einem von Deutschland angeführten Europa auf der einen und einem aufsteigenden China auf der anderen Seite wundert. Die Geschichte ist stärker als die marxistische Ideologie." (S 160, Anm. TH: geschrieben 1985!)

"Moderne Historie scheint kein so großes Interesse an Daten zu haben, mit denen Epochen 'anfangen' und 'enden', aber solche Daten sind immer noch recht nützlich, wenn man die historischen Landkarten abstecken will. 1453 ist ein sehr gut geeignetes Datum, weil es in diesem Jahr feststand, daß Rußland der große Bruder der orthodoxen Familie sein würde. Neunhundert Jahre nach Justinian unterlag Konstantinopel, das zweite Rom, einem Heer der Ungläubigen." (S 161)

"Schon 1448 hat Moskau die kirchliche Autorität des Patriarchen von Konstantinopel abgeschüttelt. 'Zwei Rom sind gefallen", schrieb ein Mönch dem moskowitischen Herrscher im frühen 16. Jahrhundert, 'das dritte steht aufrecht, und ein viertes wird es nicht geben. ... Ihr seid der einzige christliche Zar in der Welt. (Anm. TH: das russische Wort "Zar" leitet sich direkt von "Caesar" ab.) [...] Um 1600 erstreckte sich Rußland schon über ein Gebiet von ungefähr zwei Millionen Quadratmeilen - und vor ihm lag Asien." (S 166)

"1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, bedeckte das Russische Reich ein Sechstel der Landoberfläche der Erde. Das war zwar nicht ganz so viel wie der britische Besitz (der ein Fünftel ausmachte), aber das russische Territorium befand sich in einer zusammenhängenden Masse unter einer Zentralregierung." (170=

"Im Guten wie im Bösen 'schleppte' Rußland während seiner Expansionsepoche nichts mit von der abendländischen und 'feudalen' Betonung des Individualstatus und des Individualrechtes, nichts von der Spannung zwischen Religion und weltlicher Macht, nichts von den 'Freiheiten' der abendländischen Städte, nichts vom Gewicht der Gruppen und Standesrechte, die im Westen zur Repräsentation von 'Reichsständen' in parlamentarischen oder quasiparlamentarischen Institutionen führten." (S 172)

"Es ist immer noch schwer zu sagen, wo Europa im Osten 'endet'". (S 174)


 Resümee

"Selbstverständlich ist allein schon die Idee der Kultur eine europäische Idee, ein geistig-intellektuelles Mittel zur Erklärung uns zur Verfügung stehender Daten - und zwar auf der Basis europäischer Begriffe. Etwas als Kultur anzusehen ist ein selektiver, ein Orientierungsakt, ein Weg, die Geschichte zu ordnen und zu organisieren." (S 37) Ob gut oder schlecht, laut Roberts steht fest, "daß unsere Epoche das Zeitalter der ersten Weltkultur und daß diese die Kultur des Abendlandes ist." (S 40)

"Die Eroberung der offenen See war der erste und größte Triumph über die Kräfte der Natur, ein Triumph, der zur Beherrschung des ganzen Erdballs durch die abendländische Kultur führen sollte." (S 194)

Wikipedia zitiert im Artikel über "The Triumph of the West" die New York Times: "John Corry thought that some of Roberts's argument was idiosyncratic, while noting that the opening episode 'concludes with Mr. Roberts walking by the sea, wondering why no Arab dhows or Chinese junks have ever docked in the British port of Southampton. At least it is a provocative question'."

Möglich wurden die Eroberungen natürlich nur mit entsprechenden Schiffen (technischer Fortschritt), aber auch dank Navigation und der Unterstützung von Landkarten (Wissenschaft). Einen eigenen Abschnitt widmet Roberts den Landkarten: "Die Europäer sollten nun eine neue Sicht ihrer selbst und ihrer Beziehung zu anderen Völkern in der Welt gewinnen. Landkarten sind ein guter Schlüssel zum Verständnis dieses Wandels: Sie sind stets mehr als bloße Tatsachenfeststellungen; sind die Umsetzung der Wirklichkeit in Formen, mit denen wir uns zurechtfinden; sind Fiktionen und Dokumente der Vorstellungskraft, die mehr vermitteln als wissenschaftliche Daten. So spiegeln sie Veränderungen in unserer Vorstellung von der Wirklichkeit wider. Die Welt ist nicht nur das, was 'da draußen' existiert, sie besteht in dem Bild, das wir von ihr in uns tragen und das uns befähigt, konkrete Gegebenheiten in den Griff zu bekommen. Mit diesem Zugriff wandelt sich unser Verständnis für eben diese Gegebenheit - und wandeln sich auch viele unserer Annahmen und Überzeugungen." (S 194)

Alle Zitate aus der Lizensausgabe 1989, (c) der deutschen Ausgabe 1986, ECON Verlag Düsseldorf/Wien

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