Blom Philipp: Die zerrissenen Jahre

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Der Historiker Philipp Blom, der 1970 in Hamburg geboren ist und seit 2007 in Wien lebt, arbeitet sich systematisch durch die Zwischenkriegszeit, chronologisch von 1918 bis 1938. Die Systematik ist die eines Puzzles, bei dem jedes Teilstück ein kleines fertiges Bild zeigt und gleichzeitig ein unabdingbarer (kein beliebiger) Teil des Ganzen ist. Die Chronologie orientiert sich stärker an der Geistesgeschichte als an der traditionellen Geschichtsschreibung als Abfolge und Verflechtung politischer (allenfalls wirtschaftlicher) Ereignisse und Entwicklungen.

Aus philosophischer Sicht kann man endlos darüber streiten, ob jede Epoche ihren Zeitgeist hat, ob ein "Zeitgeist" überhaupt existiert. Diese Frage lässt der Historiker Blom außen vor. Trotzdem gelingt es ihm mit der "Puzzle-Methode" den Zeitgeist der Zwischenkriegszeit zu rekonstruieren. "Player" der Epoche sind nicht nur "politischen Größen" wie Hitler, Stalin, Mussolini, sondern auch "Geistesgrößen" aus Kultur und Wissenschaft, aber auch viele Schicksale (Personen und Ereignisse), die in konventionellen Betrachtungen der Geschichte nicht vorkommen.

So beginnt die Einleitung des Buches programmatisch mit einer Szene in einem Aufnahmestudio in New York, wo die Afroamerikanerin Mamie Smith den "Crazy Blues" einspielte. Die Platte wurde 1920 in den ganzen USA - sowohl an schwarze, als auch an weiße Amerikaner - über eine Million mal verkauft. "Einzig der Startenor Enrico Caruso und der Hit Swanee von Al Jolson hatten in diesem Jahr mehr umgesetzt." (12)

"Der Jazz kündete von allem, was anders geworden war, er verkörperte die Tatsache, dass nach 1914 nichts mehr so bleiben konnte, wie es gewesen war. Der Jazz war der Soundtrack einer Ära", so Blom. Ein Soundtrack, der von Amerika in die Großstädte Europas ausstrahlte. Ein Sound, der von einer "Subkultur" den Aufstieg in die "Hochkultur" geschafft hat. Es wäre möglich, mit hunderten weiteren Puzzlestücken dieser Art das Bild einer Ära im Aufbruch und Umbruch zu malen (beispielsweise nach dem Geschichtsbild von Jeremy Rifkin "Die empathische Zivilisation"). Doch Blom malt auch Bilder der Gewalt, des Zusammenbruchs und der Orientierungslosigkeit einer Zeit, in der die moralisch entwurzelte Kriegsgeneration nach Neuorientierung sucht.

Die Kriegsveteranen, die physisch verstümmelt waren oder psychisch am Shell Shok (Kriegszittern) litten, waren desillusioniert und an der Zukunft desinteressiert. Die "verlorene Generation" (Zitat Gertrude Stein, S 95) suchte nach neuen Werten, denn die Werte der Alten (Ehre, Treue, Kaiser, Kirche, Vaterland) wurden von den Kriegsmaschinen zerstört und von unzähligen Kriegsmassakern als Betrug entlarvt. Die Mehrheit der Suchenden fand ihre neuen Werte links (Kommunismus, Sozialismus, Anarchismus) oder rechts (Faschismus, Nationalsozialismus, Messianismus). Eine elitäre, dekadente Minderheit suchte und fand neue Werte in den Bars der Großstädte.

Die philosophische Essenz, die man aus den zahlreichen Puzzleteilchen filtern kann, ist der Begriff Rassismus. Folgt man J.M. Roberts ("Der Triumph des Abendlandes"), so ist "die Nation" eine "Erfindung" des 19. Jahrhunderts. Die weitgehende Auflösung der aristokratischen Dynastien und die Bildung von Nationen war das Ergebnis des 1. Weltkriegs, der Kampf um die Identität der neuen Nationen begünstigte den Nationalismus in den "zerrissenen Jahren". Zugespitzt: Rassismus war die Quintessenz des Zeitgeistes der 1920er und 1930er Jahre, der Schlüsselbegriff der Zwischenkriegszeit, der sich nicht nur im deutsch/österreichischen Antisemitismus manifestiert, sondern auch in der US-amerikanischen Rassentrennung, in der allgegenwärtigen Gewaltbereitschaft, in der Neigung zur Grenzüberschreitung und nicht zuletzt im Totalitarismus.

Im Folgenden Beispiele wie Blom diese Themen erörtert, Zitate, die als Puzzle im Puzzle betrachtet werden können. In der Vielfalt seiner Betrachtungen gibt es jedoch eine Einschränkung durch Fokussierung auf den Bereich, der traditioneller Weise als "Abendland" oder "der Westen" bezeichnet wird.