Der Historiker Philipp Blom, der 1970 in Hamburg geboren ist und seit 2007 in Wien lebt, arbeitet sich systematisch durch die Zwischenkriegszeit, chronologisch von 1918 bis 1938. Die Systematik ist die eines Puzzles, bei dem jedes Teilstück ein kleines fertiges Bild zeigt und gleichzeitig ein unabdingbarer (kein beliebiger) Teil des Ganzen ist. Die Chronologie orientiert sich stärker an der Geistesgeschichte als an der traditionellen Geschichtsschreibung als Abfolge und Verflechtung politischer (allenfalls wirtschaftlicher) Ereignisse und Entwicklungen.
Aus philosophischer Sicht kann man endlos darüber streiten, ob jede Epoche ihren Zeitgeist hat, ob ein "Zeitgeist" überhaupt existiert. Diese Frage lässt der Historiker Blom außen vor. Trotzdem gelingt es ihm mit der "Puzzle-Methode" den Zeitgeist der Zwischenkriegszeit zu rekonstruieren. "Player" der Epoche sind nicht nur "politischen Größen" wie Hitler, Stalin, Mussolini, sondern auch "Geistesgrößen" aus Kultur und Wissenschaft, aber auch viele Schicksale (Personen und Ereignisse), die in konventionellen Betrachtungen der Geschichte nicht vorkommen.
So beginnt die Einleitung des Buches programmatisch mit einer Szene in einem Aufnahmestudio in New York, wo die Afroamerikanerin Mamie Smith den "Crazy Blues" einspielte. Die Platte wurde 1920 in den ganzen USA - sowohl an schwarze, als auch an weiße Amerikaner - über eine Million mal verkauft. "Einzig der Startenor Enrico Caruso und der Hit Swanee von Al Jolson hatten in diesem Jahr mehr umgesetzt." (12)
"Der Jazz kündete von allem, was anders geworden war, er verkörperte die Tatsache, dass nach 1914 nichts mehr so bleiben konnte, wie es gewesen war. Der Jazz war der Soundtrack einer Ära", so Blom. Ein Soundtrack, der von Amerika in die Großstädte Europas ausstrahlte. Ein Sound, der von einer "Subkultur" den Aufstieg in die "Hochkultur" geschafft hat. Es wäre möglich, mit hunderten weiteren Puzzlestücken dieser Art das Bild einer Ära im Aufbruch und Umbruch zu malen (beispielsweise nach dem Geschichtsbild von Jeremy Rifkin "Die empathische Zivilisation"). Doch Blom malt auch Bilder der Gewalt, des Zusammenbruchs und der Orientierungslosigkeit einer Zeit, in der die moralisch entwurzelte Kriegsgeneration nach Neuorientierung sucht.
Die Kriegsveteranen, die physisch verstümmelt waren oder psychisch am Shell Shok (Kriegszittern) litten, waren desillusioniert und an der Zukunft desinteressiert. Die "verlorene Generation" (Zitat Gertrude Stein, S 95) suchte nach neuen Werten, denn die Werte der Alten (Ehre, Treue, Kaiser, Kirche, Vaterland) wurden von den Kriegsmaschinen zerstört und von unzähligen Kriegsmassakern als Betrug entlarvt. Die Mehrheit der Suchenden fand ihre neuen Werte links (Kommunismus, Sozialismus, Anarchismus) oder rechts (Faschismus, Nationalsozialismus, Messianismus). Eine elitäre, dekadente Minderheit suchte und fand neue Werte in den Bars der Großstädte.
Die philosophische Essenz, die man aus den zahlreichen Puzzleteilchen filtern kann, ist der Begriff Rassismus. Folgt man J.M. Roberts ("Der Triumph des Abendlandes"), so ist "die Nation" eine "Erfindung" des 19. Jahrhunderts. Die weitgehende Auflösung der aristokratischen Dynastien und die Bildung von Nationen war das Ergebnis des 1. Weltkriegs, der Kampf um die Identität der neuen Nationen begünstigte den Nationalismus in den "zerrissenen Jahren". Zugespitzt: Rassismus war die Quintessenz des Zeitgeistes der 1920er und 1930er Jahre, der Schlüsselbegriff der Zwischenkriegszeit, der sich nicht nur im deutsch/österreichischen Antisemitismus manifestiert, sondern auch in der US-amerikanischen Rassentrennung, in der allgegenwärtigen Gewaltbereitschaft, in der Neigung zur Grenzüberschreitung und nicht zuletzt im Totalitarismus.
Im Folgenden Beispiele wie Blom diese Themen erörtert, Zitate, die als Puzzle im Puzzle betrachtet werden können. In der Vielfalt seiner Betrachtungen gibt es jedoch eine Einschränkung durch Fokussierung auf den Bereich, der traditioneller Weise als "Abendland" oder "der Westen" bezeichnet wird.
ad Antisemitismus
"Während der 1920er Jahre war die Debatte über 'arische Physik' in vollem Gange. Einer der wichtigsten Exponenten war der Nobelpreisträger Philipp Lenard, der in seinem vierbändigen Werk 'Deutsche Physik' (1936) erklärte: "[....] Von einer Physik der Neger ist noch nichts bekannt; dagegen hat sich sehr breit eine eigentümliche Physik der Juden entwickelt, die nur bisher wenig erkannt ist. [...] Dies war mehr als nur ein wissenschaftlicher Disput: Es war ein moralisierender Kreuzzug gegen intellektuelle Freiheit und spekulative Kreativität, für die herausragende jüdische Wissenschaftler standen. Lenard war nicht allein mit seinem fanatischen Antisemitismus." (158f)
[Anmerkung: die Einordnung des folgenden Zitats im Kontext "Antisemitismus" ist eine gezielte Provokation der Autoren der "Antisemitismusstudie 2022", die derartige Aussagen ohne historischen oder zeitgeschichtlichen Bezugsrahmen a priori als "antisemitisch" einstufen.] "Knapp 200.000 Juden lebten in Wien ... Sie stellten zehn Prozent der Stadtbevölkerung, aber die privilegierte Stellung, die Bildung schon immer für sie gespielt hatte ... führten dazu, dass sie in Gymnasien und an den Universitäten bald überproportional stark vertreten waren und fast die Hälfte der Wiener Journalisten, Anwälte und Ärzte stellten. ... Die Juden gehörten zu den Gewinnern der Moderne, ihnen ging es prächtig in der neuen Welt, ... " (251)
"Angeführt Von Hans Karl Leistritz, ... plante die nationalsozialistische Studentenorganisation eine große Kampagne gegen die Werke der Schriftsteller, Wissenschaftler und Akademiker, die sie nicht für ausreichend deutsch hielten, ... präsentierten sich die Studenten als die legitimen Erben Martin Luthers und erstellten eine Liste mit 'Thesen wider den undeutschen Geist' .... [Zitat daraus:] Der Jude, der nur jüdisch denken kann, der aber deutsch schreibt, lügt. ... Jüdische Autoren, forderte das Thesenpapier, sollten nur noch auf Hebräisch schreiben dürfen." (372)
"Während der alte Komponist [Richard Strauss] seine NS-Uniform, die er zu offiziellen Anlässen tug, aus einer im Grunde unpolitischen Haltung heraus überstreifte, war der 49-jährige Philosoph Martin Heidegger tatsächlich von der nationalsozialistischen Ideologie fasziniert und erhoffte sich von ihr eie Erneuerung der Zivilisation. ... 1933 war er der NSDAP beigetreten." (381)
"Der Einfluss der Nazis auf die Kultur reichte weit über die Landesgrenzen hinaus, wie der Historiker Ben Urwand in seinem Buch 'The Collaboration: Hollywood's Pact with Hitler (2013) gezeigt hat." (385)
"In Paris wurde die elegante, glamouröse 'Lost Generation' ... durch eine andere, weniger moderne, dafür nervösere Gruppe ersetzt. Es entstand ein 'Klein-Deutschland' ... Für Flüchtlinge, die kaum etwas von ihrem Besitz hatten retten können, war es besonders schwer, an legale Papiere zu kommen. Diejenigen, die ohne Dokumente ins Land gekommen waren, gerieten oft in eine kafkaeske Situationen, wenn sie gefasst und ausgewiesen wurden. Ohne Pässe konnten sie nicht über die Grenze, und ihr Verbleib in Frankreich wurde von manchen Behörden als flagranter Gesetzesbruch angesehen." (424)
"Die amerikanischen Einwanderungsbehörden reagierten eher auf das innenpolitische Klima als auf die internationale Krise und hatten Anweisungen, allen Migranten ohne notwendigen wirtschaftlichen Mittel den Zutritt zu den USA zu verwehren oder sie notfalls auch zu deportieren. Ein zusätzliches Problem für viele Flüchtlinge waren die deutlich antisemitischen Tendenzen im Einbürgerungsprozess." (427)
"Zionistische Jugendorganisationen und Sportvereine hatten vielen Juden die Möglichkeit geboten, der fortschreitenden Ausgrenzun in ihren Gesellschaften etwas entgegenzusetzen wenngleich sie Kritikern zufolge damit derselben nationalistischen Logik folgten, die in Europa herrschte." (434)
ad Rassentrennung
"Die konservative Revolution und der von ihr postulierte zivilisatorische Machtkampf auf Basis von Blut und Rasse wurden nicht nur in Europa gepredigt. 1919 ereigneten sich die schlimmsten sozialen Unruhen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen nicht in Europa, sondern in den Vereinigten Staaten. (67)
"In den USA drehten sich diese Debatten [Anm: um den "wissenschaftlichen Rassismus"] trotz der anhaltenden Diskriminierung von Juden und Katholiken mehrheitlich nicht um Religion oder um alte europäische Probleme. Stattdessen spukte die Erbsünde des Landes noch immer durch die Gegenwart: ein hehrer Traum, der auf der Sklaverei und der Abschlachtung der Ureinwohner beruhte." (68)
Im ersten Weltkrieg wurden erstmals schwarze Soldaten rekrutiert, sie kamen getrennt von den Weißen in eine eigenes Infanterieregiment, die "Harlem Hellfighters". Am Neujahrstag 1918 landeten sie in Frankreich. "Der Einzug eines schwarzen Regiments, dessen Kapelle aus hervorragenden Musikern bestand und Jazz spielte, versetzte die französische Hafenstadt und das ganze Land in helle Aufregung. [...] Zwischen Februar und März 1918 ging die Band auf Tour und legte für Konzerte in fünfundzwanzig Städten innerhalb von Frankreich mehr als 3.000 Kilometer zurück. Auf diese Konzerten kam es oft zu emotionalen Szenen." Viele Mitglieder des schwarzen Regiments, die nicht musizierten, sondern an der Front kämpften, wurden hoch dekoriert. Zurück in den USA "kam das böse Erwachen. Im zivilen Leben waren die 'Hellfighters' wieder Bürger zweiter Klasse, die im segregierten Süden offen und im Norden weniger offen diskriminiert wurden. Der Ku-Klux-Klan gewann Tausende von neuen Mitgliedern, Lynchmorde häuften sich [...] Die Mitgliedschaft im Klan war in Amerika geborenen weißen Protestanten vorbehalten, und obwohl sich ihre Feindschaft vor allem gegen Schwarze richtete, griffen sie auch andere 'unamerikanische' Menschen an wie zum Beispiel Juden, Katholiken und 'Sozialisten' [...] Auch die Gewerkschaften sahen es nicht als ihre Rolle zu vermitteln, sondern schürten die Spannungen weiter. (68 ff)
"'Der Grundlegende Faktor der Geschichte ist nicht die Politik, sondern die Rasse', schrieb der amerikanische Historiker Lothrop Stoddard 1921 in seinem erfolgreichen Buch The Rising Tide of Color. [...] Stoddard konstatierte, dass die edlen 'nordischen Rassen' von einem Strom von Afrikanern, Asiaten, 'Mischlingen' und 'affenähnlichen Aborigines' überwältigt würden, der unweigerlich die Reinheit der weißen Rasse zerstören werde." (74)
Anlässlich der Ankündigung eines Auftritts von Josephine Baker im Februar 1928 in Wien schrieb das Wiener Tagblatt: "Literatur und Kunst, Tanz und Geselligkeit sind schwarze Künste geworden, die Vernegerung die letzte Tiefenentwicklung des Europäers. Die Kakophonien der Jazzband spielen zum Totentanz der europäischen Kultur auf..." (285)
ad Gewaltbereitschaft
"Der Feminismus der Vorkriegsjahre hatte viel dazu beigetragen, das traditionelle Männerbild zu erschüttern. [...] So hatten viele Männer den Krieg auch als eine Möglichkeit begrüßt, ihre eigene in Frage gestellte Männlichkeit mit dem Säbel in der Hand zurückzuerobern... (41f)
"Besonders George Grosz und Otto Dix füllten immer neue Leinwände mit Figuren, die an das groteske Leiden und die verbohrte Obsession des Militärs mit Tod und Ehre erinnerten ... (52)
"Am 7. März 1921 erhielt die Siebte Russische Armee den Befehl, die Festung Kronstadt anzugreifen, [...] Der Angriff über das Eis war ein Himmelfahrtskommando, [...] Viele Soldaten, von denen die meisten aus Bauernfamilien kamen, erwarteten den Angriff mit gemischten Gefühlen. Sie brauchten Ermutigung, meinten die Offiziere, und plazierten eine Maschinengewehrstellung hinter den vorrückenden Truppen, um Deserteure und Feiglinge zu erschießen." (105)
"Ein furchtbarer Wettbewerb der Grausamkeit entwickelte sich zwischen Lenins gefürchteter Geheimpolizei, der Tscheka, die etwa eine Viertelmillion Menschen ohne Gerichtsverfahren hinrichtete, und monarchistischen Kosakentruppen, die allein in ihrer Provinz 25.000 Zivilisten erschossen. (108)
"Die Motivation für die Kämpfe, die als Schlacht um Blair Mountain [USA] bekannt werden sollten war nicht die Weltrevolution, sondern die grausame Ausbeutung der dort beschäftigten Bergleute. [...] Tatsächlich waren die Überlebenschancen eines Bergmanns schlechter als sie es für die Soldaten an der Westfront gewesen waren." (121f)
Der Jutizpalast in Flammen [...] "Plötzlich machte ein Wort die Runde geflüstert oder gerufen von einem zornigen Mund zum nächsten: 'Wir räuchern sie aus!' [...] Die Reaktion erfolgte rasch und brutal. Mit ausdrücklicher Zustimmung von Prälat Ignaz Seipel, dem Kanzler der jungen österreichischen Republik, erhielt die Polizei Befehl, in die Menge zu schießen. [...] Die tödliche Konfrontation an diesem 15. Juli 1927 war die Folge einer anderen Schießerei, bei der ein achtjähriger Junge und ein Veteran hinterrücks erschossen worden waren." (243 f)
ad Grenzüberschreitung
"'Der Kubismus beginnt in den Schützengräben', sinniert der französische Maler Fernand Léger in einem Brief von der Front, in dem er schilderte, wie er um sich herum verstreute Gliedmaßen in den Bäumen hängen oder in Bombentrichtern vermodern sah." (43)
Einen "poetischen Staatsstreich" vollbrachte der Dichter Gabriele D'Annunzio "am 12. September 1919, als ein Konvoi von Lastwagen voller Freiwilliger in Phantasieuniformen unter dem Jubel der 30.000 Bewohner in die kleine Hafenstadt Fiume an der Adria rollte. [...] Sogar seine größten Widersacher mussten zugeben, dass seine Dichtung außergewöhnlich war: sinnlich sensibel und stark, und gleichzeitig völlig amoralisch. [...] Der Dichter als Diktator schuf in Fiume eine neue Staatsform, die er entgegen dem Willen seiner Mitverschwörer nicht Republik, sondern impresa nannte - ein Abenteuer, ein Unternehmen, einen Coup - die Impresa die Fiume. [...] Diese Revolution erfolgte als Reaktion auf die Unordnung und die Enttäuschung, auf Streiks und Straßenschlachten, auf die Bedrohung des Bolschewismus, auf die endlos trivialen Kompromisse der Demokratie und auf einen scheinbaren Niedergang der Werte. [...] D'Anunzio und andere konservativer Revolutionäre waren entschlossen, das heroische Individuum gegen die kalte Herrschaft der Technologie und der Technokraten zu verteidigen, die sich seit 1900 ausgebreitet hatte und die mit dem Krieg vollkommen manifest geworden war." (55ff)
"Für Ärzte und Apotheker war die Prohibition [Anm. in den USA ab 1919] eine großartige Geschäftsgelegenheit. Schon bald wurden pro Jahr rund 300.000 Rezepte für Whisky ausgestellt [...] Auch Weinproduzenten waren auf ähnliche Weise gesegnet. Nie zuvor war bei ihnen so viel Kommunionwein bestellt worden [...] Schon bald wurde deutlich, dass die Prohibition eine Farce war, eine enorm teure noch dazu, die Gerichte wurden von Prozessen überschwemmt ...(84f)
"Paris war billig. Ein schwacher Franc machte es zum idealen Ort für amerikanische Künstler, die mit relativ wenig Geld auskommen mussten, und sie kamen in Horden... (94)
Die Entdeckung des Astronomen Edwin Hubble, dass die Milchstraße nur eine von zahllosen Galaxien ist, "revolutionierte die Vorstellung vom Platz de Menschheit im Universum [....] Es war schwer, diese Randposition mit der Vorstellung zu verbinden, der Mensch, ein winziger Organismus auf einem Trabanten einer relativ kleinen Sonne inmitten von zahllosen anderen Sonnensystemen und Galaxien, sei die Krone der Schöpfung." (152)
"Viele Angehörige der gesellschaftlichen Eliten in den Ländern des Westens waren begeisterte Eugeniker. In Großbritannien zählte das Galton Institute, benannt nach dem Eugeniker Sir Francis Galton, nicht nur den Ökonomen John Maynard Keyens zu seinen Mitgliedern, sondern auch den zukünftigen Premierminister Arthur Neville Chamberlain [...] George Bernard Shaw, Virginia Woolf, der Philosoph Bertrand Russel, der Schriftstellen H.G Wells und viele weitere, eine Liste, die sich wie das Who's Who des britischen intellektuellen Lebens liest." (208)
"Die Movies waren zu einer Industrie geworden. Mitte der 1920er Jahre wurden allein in den Vereinigten Staaten 50 Millionen Kinokarten pro Woche verkauft, um 1929 waren es schon 80 Millionen. [...] Die Hollywood-Studios betrachteten Schauspieler, die sie unter Vertrag hatten, als glamouröse Arbeitssklaven, ... " (273f)
"George Bernard Shaw wurde ebenfalls zum prominenten Apologeten der sowjetischen Diktatur. ... Er sah überhaupt keinen Grund, sowjetische Verbrechen besonders zu rechtfertigen - er erklärte sie einfach für gerecht und notwendig." (305)
"Die carusi in Sizilien waren Kinder, die, weil sie klein genug waren, um in die engen Schächte zu klettern, in Schwefelminen arbeiteten. 1910 besuchte der afroamerikanische Bürgerrechtsaktivist Booker T. Washington diese Bergwerke, die er als 'den höllischsten Ort auf Erden' bezeichnete." (337)
ad Totalitarismus
"Das Auseinanderbrechen von Gesellschaften, das durch den Krieg vier Jahre lang scheinbar in den Hintergrund gerückt war, setzte sich jetzt mit unverminderter Kraft fort, und die zerstörten Sicherheiten der Vergangenheit schufen eine starke Sehnsucht nach großen Wahrheiten und gültigen Antworten." (53)
"Nachdem es ihm nicht gelungen war, den Dadaismus für seine eigenen Zwecke nutzbar zum machen", publizierte André Breton 1924 das Manifest des Surrealismus. Definition laut Manifest: "SURREALISMUS Substantiv, m., reiner, psychischer Automatismus, durch welchen man, sei es mündlich, sei es schriftlich, sei es auf jede andere Weise, den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Vernunft-Kontrolle und au7ßerhalb aller ästhetischen oder ethischen Fragestellungen." (178 f)
"Der Papst des Surrealismus in Paris wirkte wie der Westentaschen-Duce der Avantgarde. Breton selbst hatte mit diesem Vergleich kein Problem." (179)
"1927 entschloss er [Breton] sich, um Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) anzusuchen, um in diesem Kontext für die Weltrevolution zu arbeiten." (183)
"1922 präsentierte Le Corbusier seine eigene Vision einer zeitgemäßen Stadt, einen Plan für eine riesige Metropole von drei Millionen Einwohnern mit kreuzförmigen Wohntürmen und Straßen auf mehreren Ebenen, die Fritz Langs utopischen Fantasien in nichts nachstand. [...] Finanziert von einem französischen Auto- und Flugzeugfabrikanten, entwickelte er den Plan Voisin, der nichts weniger vorsah, als einen Großteil von Paris abzureißen und auf dem rechten Seine-Ufer als eine vollkommen begradigte und gigantomanische Stadtutopie mit achtzehn riesigen, sechzigstöckigen Hochhäusern und breiten Autobahnen neu aufzubauen. Die Vergangenheit taugte nur noch für den Müllhaufen der Geschichte." (240)
"Ein besonderes Anliegen war Dollfuß, die säkularen Reformen der vorherigen Regierung wieder rückgängig zu machen nd seine Heimat wieder als gehorsame Tochter zur Kirche zurückzuführen. ... in einem besonders spektakulären Gesetz wurde verfügt, dass alle Menschen, die aus der Kirche austreten wollten, von einem Neurologen untersucht werden mussten." (266)
Der italienische Anarchist Enrico Malatesta schrieb: "Der Staat ist wie die Religion; er funktioniert nur, wenn Menschen daran glauben." (332)
"Der Kommunismus konnte sich auf dem Land nicht etablieren, und Stalin und sein enger Vertrauter Lasar Kaganowitsch waren der Überzeugung, dass die einzig mögliche Antwort darauf war, die Kulaken als Klasse zu liquidieren." (356)
Holodomor: "Hinrichtung durch Hunger. Die Kampagne, mit der mittels Hunger der Wille der ukrainischen Land-Bevölkerung gebrochen werden sollte, war bis ins Detail geplant." (362)
Im Corn Belt der USA gab es indessen von 1933 bis 1936 "im Durchschnitt fünf Stürme pro Monat, und jeder von ihnen trug tonnenweise Staub mit sich, der einmal fruchtbare Erde gewesen war. [...] Auf den Feldern, auf denen der Weizen einmal schulterhoch gestanden hatte, waren nur noch verdorrte Halme [..] Zwanzig Millionen Hektar waren verödet. [...] Fast eine halbe Million Männer, Frauen und Kinder [abfällig: Okies] machten sich auf den Weg gen Westen und hofften auf einen Neubeginn. [...] Doch sie waren nicht willkommen. [...] Andrew Mellon, der steinreiche Finanzminister [erklärte:] 'Liquidiert Arbeit, liquidiert Aktien, liquidiert die Bauern, liquidiert Grundbesitz. Ich werde das System von seiner Fäulnis reinigen..." (412ff)
Resümee
Die Behauptung "Rassismus war die Quintessenz des Zeitgeistes der 1920er und 1930er Jahre" impliziert den allgemein üblichen Begriff von Rassismus, der politisch die Zuspitzung jeder Form von Nationalismus bedeutet. Rassismus ist im Nationalismus genetisch angelegt, könnte man in Anlehnung an diese Geisteshaltung sagen.
Während nationalistische Strömungen bei internationalen Konflikten leicht in einen Krieg münden, können sie bei nationalen Konflikten zum Bürgerkrieg führen - oder zur dauerhaften Unterdrückung einzelner Volksgruppen bzw "Rassen" - ein Begriff, den man bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts noch unkritisch in der Alltagssprache ebenso wie in den Wissenschaften verwendete. Der KuKluxKlan zeigt exemplarisch, dass sich Rassismus nicht nur gegen Schwarze, sondern auch gegen andere Bevölkerungsschichten wie Katholiken oder Sozialisten richten kann.
Der Holodomor, die Ausrottung der als "Kulaken" (wohlhabende Bauern) diskreditierten Bevölkerungsgruppe in der Ukraine, ist ein anderes Beispiel für die verschiedenen Auswüchse des Rassismus. Nicht viel besser ist es zur gleichen Zeit den "Okies" (ursprünglich Bewohner von Okland, später abwertend für die vor den Sandstürmen geflüchteten Farmer aus dem Corn Belt der USA) ergangen. Tausende Menschen, die ihre Existenzgrundlage verloren hatten, wurden in Kalifornien nicht nur als "wandernder Müll" bezeichnet, sondern auch so behandelt.
Ein anderer Aspekt des Rassismus war es, den Frauen "geringere Intelligenz" zu attestieren als Männern. Auch die Ideen der Eugenik mit all ihren menschenverachtenden Konsequenzen sind dem Wesen nach Rassismus.
Rassismus im erweiterten Sinne bedeutet demnach: Die willkürliche Ausgrenzung (bis hin zur Vernichtung) von bestimmten Menschengruppen, die angeblich über gemeinsame, minderwertige Merkmale verfügen. Wer Rassismus auf Antisemitismus und Zionismus als "zwei Seiten einer Medaille" reduziert, der behauptet die Erde sei flach. Die Erde, und somit auch die Welt des Rassismus, ist jedoch eine Kugel, und in so gut wie jedem Land - von Südafrika bis Großbritannien, von den USA bis Japan - zeigte der Rassismus der Zwischenkriegszeit seine spezifische Ausprägung. Blom zeigt viele Gesichter des Rassismus und ermöglicht damit einen ganzheitlichen Blick auf dieses Phänomen.
Laut wikipedia gilt heute: "Rasse ist eine umstrittene Bezeichnung für eine Gruppe von Individuen der gleichen (Tier-)Art, die anhand willkürlich gewählter Ähnlichkeiten des Phänotyps (Aussehen, physiologische Merkmale, Verhalten) klassifiziert werden. Mit der Abgrenzung zu einer bestimmten 'Rasse' wird eine direkte genetische Abstammungslinie aller Gruppenmitglieder unterstellt."
Ob die "Umwertung" des Begriffs "Rasse" (Vorsicht Nietzsche, einer der geistigen Väter aller Rassisten) auch dazu beigetragen hat, Denken und letztlich Verhalten der Menschen im 21. Jahrhundert zu verändern, den Rassismus zu besiegen, können wohl nur Historiker späterer Jahre erforschen. Oder ein Philosoph, der imstande ist, den Zeitgeist 2023 schon heute zu ergründen.