Biographie einer bedrängten Nation
(C.H. Beck Verlagsinformation, 2024) - So wie es ein Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen, so braucht es eine Welt, um die Geschichte einer Nation zu erklären. Yaroslav Hrytsak, einer der einflussreichsten ukrainischen Historiker der Gegenwart, bettet die Geschichte der Ukraine in die Geschichte Europas und ihre globalen Zusammenhänge ein und zeigt die vielfältigen Wechselwirkungen. Sein Buch wurde in der Ukraine zum Bestseller und erklärte der angegriffenen Nation, woher sie kam, was sie prägte und woran ihre Widerstandskraft gegenüber der russischen Aggression lag. Und es setzte ihr ein Ziel: die liberale Demokratie des Westens.
In den letzten Jahren ist im Westen viel über die Geschichte der Ukraine geschrieben worden - aber zumeist von westlichen oder im Westen lebenden und lehrenden Historikern. Yaroslav Hrytsaks Werk bietet die Perspektive aus der Ukraine. Es seziert die Mythen der russischen Propaganda, bewahrt sich aber auch einen kritischen Blick für ukrainische Legenden und Übertreibungen. Wenn Staaten Pässe hätten, würde darin 1914 als Geburtsjahr der Ukraine eingetragen, schreibt Hrytsak. Gleichzeitig aber wäre diese moderne Staatsbildung nicht denkbar gewesen ohne die lange Geschichte der ukrainischen Nationsbildung. Daher setzt dieses Buch mit der Geschichte der Rus ein und spannt den Bogen bis in die Gegenwart, wo sich die Ukraine von einer ethnischen zu einer zivilgesellschaftlichen Nation gewandet hat, deren politische Kultur sich fundamental von der Russlands unterscheidet. Eine faszinierende und moderne Geschichte der Ukraine, erzählt von einem ihrer prominentesten Intellektuellen.
Foto CC BY-SA 3.0 Ярослав Грицак: Ярослав Грицак на першому занятті вуличного університету у Львові 22.04.2012 р. читає лекцію "Як подолати історію?"
SIEHE AUCH: Jaroslaw Hrytsak über die „Kurs-Offensive“. Interview mit DiePresse.com (21.8.2024) „Sie hat die allgemeine Moral gestärkt. Nach dem Scheitern der Gegenoffensive 2023 brauchten die Ukrainer eine Erfolgsgeschichte. Die Kursk-Offensive ist so eine.
Warum unternahm die Ukraine diesen taktischen Vorstoß?
Ich bin mir nicht sicher, ob man nur von Taktik sprechen sollte. Dies ist ein Zermürbungskrieg, dessen Ergebnis nicht so sehr davon abhängt, was an der Front geschieht, sondern davon, wer als Erster unter der Last des Kriegs zusammenbricht. Daher zählt die öffentliche Moral. Damit Putins Regime zusammenbricht, muss seine Legitimität untergraben werden. Bisher beruhte Putins Legitimität unter den Russen auf seinem Image als unbesiegbarer Macho, dessen Macht niemand infrage stellt. Die Kursk-Offensive zeigt, ähnlich wie der Prigoschin-Aufstand, dass Putin ineffizient ist und nicht so stark ist, wie er vorgibt.“
Kurzkommentar HTH: Der Historiker Yaroslav Hrytsak legt in seiner programmatischen Einleitung das Konzept seines Buches offen: „Es gibt kein Patentrezept für die Geschichtsschreibung. Jeder Historiker geht nach eigenem Gutdünken vor. Ich will einige Kriterien für das nennen, was mir wichtig erscheint.Zunächst ist mein Ideal eine Geschichte ohne Namen und Daten. Ich ziehe eine Darstellung vor, die danach trachtet, die Prozesse aufzuzeigen, die sich hinter isolierten Ereignissen verbergen. So eine Darstellung zeichnet keine detaillierte Straßenkarte, aber kann als Kompass dienen und hilft uns, den richtigen Weg zu finden.“ Natürlich kann man die Geschichte eines Landes und die Geschichte der Nation (insbesondere den langjährigen Prozess des „Nation Building“) nicht isoliert betrachten, allein mit dem Fokus auf die geografischen Grenzen der heutigen Ukraine.
Hrytsak erläutert: „Wie weit der Rahmen nach Osten oder Westen ausgedehnt werden muss, ist eine offene Frage, über die Historiker bereits seit mehreren Generationen diskutieren. Ich schlage eine radikale Lösung vor: Der ganze Erdball soll der Rahmen sein. Globale Geschichte heißt nicht einfach nur, die geographische Reichweite möglichst weit auszudehnen. Zuallererst umfasst sie eine Suche nach den Zusammenhängen, die die globalisierte heutige Welt überhaupt ermöglichten. Ich werde diesen Zusammenhängen nachspüren, um eine der Hauptthesen dieses Buches zu untermauern: Die Ukraine entstand als ein Ergebnis der Globalisierung und des Aufstiegs des Westens, die mit der Entdeckung Amerikas im Jahr 1492 begannen. So gesehen, verdient es Kolumbus, zu einer der Hauptfiguren der ukrainischen Geschichte gezählt zu werden.“
Der Autor hält Skepsis für angebracht – auch in Hinblick auf seine eigene Forschung: „Ich erhebe an keiner Stelle den Anspruch auf absolute Richtigkeit. Im Gegenteil, der Zweifel ist meine geistige Heimat“. Das schließt jedoch nicht aus, dass er auch eine Mission verfolgt. Doch in wissenschaftlicher Redlichkeit (die heute weitgehend verloren gegangen ist), legt er offen, woran er glaubt, worin seine Befangenheit liegt: „Ich möchte die Ukraine als eine liberale Demokratie sehen. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben, um zu zeigen, dass dieses Ziel nicht nur wünschenswert, sondern auch erreichbar ist.“
Ein Zyniker könnte aus diesem Bekenntnis ableiten: Hrytsaks Wunsch ist sind Vater seiner Gedanken. Er wünscht sich bzw. er glaubt an:
1. die Ukraine als einheitliche Nation
2. die Ukraine als liberale Demokratie
3. die Ukraine als Zentrum der Weltgeschichte
ad 1.
Die Ukraine als einheitliche Nation
Das zentrale Thema (und gleichzeitig die historische Mission von Yaroslav Hrytsak) ist die Bildung der Ukrainischen Nation (Nationbuilding) – nicht nur die Chronik ihrer Entstehungsgeschichte.
„Im Jahr 1848, während des ‚Frühlings der Völker‘, hatten sich die galizischen Ruthenen nicht so recht entscheiden können, ob sie Ukrainer, Russen oder Polen waren. Nicht viel anders verhielt es sich in der Zwischenkriegszeit in Transkarpatien, wo sich die Ruthenen noch immer stritten, welchem Volk sie angehörten – Ukrainer, Russen oder Ungarn -, oder ob sie ein eigenständiges Volk bildeten.“ (276)
„Wenn Staaten Pässe hätten, würde darin 1914 als Geburtsjahr der Ukraine eingetragen.“ (221)
„Kriege und Revolutionen sind mächtige Beschleuniger: […] Das trifft mit Sicherheit auf die ukrainische Nationalstaatsbildung zu, die nach 1914 viel schneller voranschritt als zuvor – vor allem die Umwandlung von ‚Bauern zu einer Nation‘. Ihre alte, kleine Hiemat wurde durch ein neues, großes und nationalbewusstes Heimatland ersetzt.“ (226 f)
„Die Ukraine-Frage spielte in den deutschen und österreichischen Plänen eine wichtige Rolle. […] Bei Kriegsbeginn genehmigte die österreichische Regierung die Formierung der Sitscher Schützen, einer neuen militärischen Einheit, die aus galizischen Ukrainern bestand. […] Wilhelm Franz von Habsburg-Lothringen, besser bekannt unter seinem ukrainisierten Namen Wasil Wyschywanij sollte König der Ukraine werden.“ (223 f)
„Den Bestimmungen des Vertrags von Brest entsprechend erkannte Deutschland die Unabhängigkeit der Ukraine an – aber nur, um sie dann zu besetzen.“ (224)
„Die Bolschewiki erkannten die UVR [Ukrainische Volksrepublik] an, gleichzeitig erklärten sie ihr den Krieg.“ (234)
„Der V. Weltkongress der Kommunistischen Internationale (1924) bezeichnete die ukrainische Frage als wichtigste ungelöste nationale Frage in Europa. Die Bolschewiki sahen darin eine Art Rammbock, mit dem sie die Tore der kapitalistischen Festung des Westens aufbrechen konnten.“ (259)
„Die sowjetische Ukraine entglitt allmählich dem Griff des Kreml. […] Die Ukrainer mauserten sich allmählich zu einer Nation mit eigener politischer Führungsschicht und einer voll entwickelten, gebildeten und keineswegs ‚bäurischen‘ Kultur. […] Auch die ukrainische Sprache, das Kernsymbol der ukrainischen Identität, wurde einer Transformation unterzogen. 1926 wurde in Charkiw die ukrainische Rechtschreibung unter Beteiligung ukrainischer Linguisten sowohl aus der sowjetischen als auch aus der polnischen Ukraine neu festgelegt.“ (262)
„Die Situation in der Ukraine konnte sich ungehindert entwickeln, solange der Kreml durch den Machtkampf nach Lenins Tod im Jahr 1924 geschwächt war. Doch 1929 ging Stalin aus diesem Kampf siegreich hervor. Kaum hatte er seine Machtposition gefestigt, als er auch schon einen scharfen Kurswechsel ankündigte.“ (263)
„Das Schicksal der Karpatenukarine [1939] zeigte, wie drastisch die Bedeutung der ukrainischen Frage abgenommen hatte: Sie war von einer der wichtigsten Fragen im Europa der Nachkriegszeit zu einer Nebensächlichkeit verkommen. Ihre Degradierung erfolgte quasi parallel zum Niedergang der liberalen Demokratie. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs konnte man die Zahl der noch verbliebenen liberalen Demokratien an einer Hand abzählen.“ (286)
„Stalin löste die ukrainische Frage, indem er alle Ukrainer in einem einzigen ukrainischen Staat vereinte und diesen dann seiner internationalen Existenz beraubte.“ (316)
„Natürlich hätte die Ukraine ohne den Krieg und die Revolution vermutlich andere Grenzen. Um es ganz offen zu sagen: Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich die ukrainische Nation ohne diese Ereignisse von Transkarpatien im Südwesten so weit bis zum Donbass im Osten hätte erstrecken können. Die Vereinigung all dieser Gebiete zu einem einzigen Staat war ganz ohne Zweifel den Bolschewiki zuzuschreiben.“ (321)
ad 2.
Die Ukraine als liberale Demokratie
Wann immer der Autor über „liberale Demokratie“ schreibt, setzt er voraus, dass es „im Westen“ funktionierende liberale Demokratien gibt – insbesondere in Amerika und in den Mitgliedsstaaten der EU. Wie diese Demokratien, die Hrytsak für die Ukraine als wünschenswertes Ziel anstrebt, in der Realität ausschauen, hat der Autor nicht weiter untersucht. Tatsächlich ist das Demokratie-Verständnis des Autors ziemlich oberflächlich. Mit Hinweis auf die Bewohner der Westukraine, die noch die Habsburger Monarchie erlebt hatten, schreibt er: „Die liberale Demokratie war die einzige Norm, die sie kannten und die sie auch in der Westukrainischen Volksrepublik (WUVR) etablieren wollten.“ (287)
Ausgerechnet die K&K-Monarchie zum Vorbild liberaler Demokratien zu erklären, zeugt von einem Argumentationsnotstand. Darüber hinaus versucht Hrytsak das Wesen der Demokratie über die nationale Identität zu definieren: „Revolutionen mit einer nationalen und antikolonialen Dimension enden mit höherer Wahrscheinlichkeit erfolgreich. Die Teilnehmenden des Euromaidan kämpften nicht nur gegen Janukowytsch, sondern auch gegen Putin und Russland. Anne Applebaum schreibt, dass die Demokratie siegt, wenn die Bürgerinnen und Bürger ein tiefes Gefühlt der Zugehörigkeit zu ihrer Sprache, Literatur und Geschichte empfinden. Das Gegenteil trifft ebenfalls zu: Länder oder Regionen ohne nationales Bewusstsein sind eher anfällig für Korruption und Anarchie…“
An der Stelle könnte Hrytsak abbrechen und alle Leser könnten sich ihre eigenen Gedanken über das „nationale Bewusstsein“ der Ukrainer, insbesondere ihrer Oligarchen, zwischen 1990 und 2020 machen. Doch Hrytsak endet den Satz suggestiv „... Regionen ohne nationales Bewusstsein sind eher anfällig für Korruption und Anarchie, hier dominieren Krawallmacher und Söldnergruppen, genau wie im Donbass.“ (448)
Seiner Schlussfolgerung werden aber Betroffene Ukrainer ebenso wie ausländische Beobachter zustimmen können: „Die zentrale Herausforderung für Länder wie die Ukraine besteht darin, dieses aufwogende nationale Bewusstsein in ein faires Rechtssystem und effektive, funktionale demokratische Institutionen zu überführen.“
Würden die Herrscher der Ukraine das Blutgeld für den Krieg zur Bewältigung dieser Herausforderung nutzen wollen, statt zum Ankauf von Waffen, dann hätten sie schon mehrfach die Gelegenheit zu einem Friedensabkommen mit Russland gehabt. Vielleicht nicht innerhalb der von der Sowjetunion gezogenen Grenzen, aber mit genug Raum und Geld zur wirtschaftlichen und kulturellen Entfaltung von Millionen selbstbewusster, souveräner Ukrainer. „Denn Gewalt kann nichts Nachhaltiges hervorbringen.“ (325)
Update: Epoch Times (22.10.24) berichtet über „Weitere 35 Milliarden Euro für die Ukraine: Warum Europa ohne die USA handelt … Das EU-Paket ist Teil von noch umfassenderen Hilfen der G7-Gruppe, die jedoch auf der Kippe stehen.“ Bemerkenswert: „Die Ukraine kann frei über die Gelder verfügen, Voraussetzung sind jedoch Kontrollen gegen Betrug und andere demokratische Auflagen. In der Theorie soll Kiew die 35 Milliarden Euro binnen 45 Jahren an die EU zurückzahlen.Ob die Ukraine jemals dazu in der Lage sein wird, hängt von der weiteren Entwicklung ab. Diplomaten sehen die Gelder daher als eine Art Zuschuss, der nicht zurückgezahlt wird.“
ad 3:
Die Ukraine als Zentrum der Weltgeschichte
Yaroslavv Hrytsak hat sicher nicht die Absicht, die Weltgeschichte neu zu schreiben, wenn er „Kolumbus zu einer der Hauptfiguren der ukrainischen Geschichte“ macht. Aber offenbar hat er Ambitionen, zum Vater eines National-Epos zu werden, in dem die Ukraine zum Mittelpunkt der Welt wird. Das beginnt 1492 -„Die Ukraine ging aus der Begegnung zweier Welten hervor: der Welt des Kolumbus und der Welt der Kosaken“ – und reicht bis in die Gegenwart – „Zu Beginn der 1990er Jahre wurde der Zerfall der UdSSR zum wichtigsten Beitrag der Ukraine zur Weltgeschichte. […] ohne die Ukraine hatte die Sowjetunion ihren Daseinszweck verloren.“ (427)
Laut Hrytsak „ist bekannt, dass die Kolonisierung der Ukraine in vieler Hinsicht der Kolonisierung Amerikas ähnelte. Beide wurden von einem Kult der Gewalt und des schnellen Profits dominiert, und beide tarnten diesen Kult gegenüber der einheimischen Bevölkerung als Mission der Zivilisierung.“ (109) Weiters vergleicht der Historiker die Jahre 1914 und 1492: „Das waren die beiden Zeitpunkte, an denen die Weltgeschichte eng mit der nationalen Geschichte der Ukraine verbunden wurde und jene weitreichenden Veränderungsprozesse in Gang setzte, welche die Ukraine auf die Weltkarte brachten.“ (318) Nachsatz: „Die Gewalt stand im Mittelpunkt beider Prozesse. […] Die ukrainische Identität manifestierte sich am klarsten während der revolutionären und militärischen Krisen.“ (319)
Es ist verlockend, daraus eine Verschwörungstheorie zu konstruieren.
VERSCHWöRUNGSTHEORIE / Conspiracy Theory
A (Prämisse 1)
Hrytsak deutet den Einfluss Amerikas auf die politische Entwicklung der Ukraine an, lässt diesen aber im Dunkeln, mehr noch: er bemüht sich, diesen zu verdunkeln.
Die „Entdeckung“ Amerikas und die „Entdeckung“ der Ukraine sind keine zufällig parallel laufenden Ereignisse, sondern nach Ansicht von Hrytsak ineinander verflochten. Angesichts dieser Grundthese ist es verwunderlich, dass Spitzen der US-Regierungen gar nicht oder nur in Nebensätzen erwähnt werden, so wie die Präsidenten John F. Kennedy, George H.W. Bush und Barack Obama. Lediglich ein Präsident leistete einen nennenswerten Beitrag - Woodrow Wilson: „Gegen Kriegsende verkündeten sowohl der amerikanische Präsident Woodrow Wilson als auch der russische Bolschewikenführer Wladimir Lenin – die Führer zweier Großmächte, deren Stimmen eine übergroße Rolle für das Schicksal Europas spielten – das Selbstbestimmungsrecht der Nationen als eines der Kernprinzipien der Nachkriegsordnung.“ Beachtenswert: Lenin und Wilson stehen in ihrer weltpolitischen Bedeutung auf einer Stufe!
Die Aktivitäten amerikanischer Geheimdienste kommen überhaupt nicht in der Erzählung von Hrytsak vor. Lediglich der CIA wird beiläufig mit seiner Prognose aus dem Jahr 1993 zitiert, „dass die Ukraine auf einen Bürgerkrieg zusteure, mit dem verglichen die damaligen Jugoslawienkriege wie ein harmloser Parkspaziergang erscheinen würden.“ (430) Welche Beiträge die Agenten des CIA leisteten, um die „Orangene Revolution“ zu schüren, lässt Hrytsak offen. Da man davon ausgehen muss, dass ihm darüber Informationen vorliegen, folgt daraus, dass er diese absichtlich vertuscht. Als Ablenkungsmanöver folgt der Hinweis „Die russischen Politikberater nutzten die Ukraine als Übungsfeld. Dort konnten sie die Pläne ausprobieren, die sich später in den russischen Wahlen verwenden ließen.“ (435)
Eine Verschwörung ist im Gange, das steht außer Streit; aus Sicht von Hrytsak geplant und durchgeführt von Russland: „Putin und seine Gefolgsleute machen kein Hehl daraus, dass sie entschlossen sind, die Ukraine von der politischen Landkarte zu tilgen. Aber Putin kann nicht alle Ukrainer umbringen. Er will deshalb die aktivsten Teile der Gesellschaft töten, also all jene, ohne die das Land keine Nation mehr sein kann, sondern nur noch von schweigenden Untertanen bewohnt sein wird. Ein weiterer Teil des Völkermordplans sieht vor, die Ukraine unbewohnbar zu machen.“ (452)
B (Prämisse 2)
Ganz offen erklärt der Historiker, dass Gewalt essenzieller Bestandteil zur Entfaltung der Ukraine als Nation ist. Pogrome gehören fast schon zur „guten Tradition“ des Landes.
„Der Krieg [Anm: 1. Weltkrieg] modernisierte die Bauernschaft und aktivierte ihr nationales Selbstbewusstsein. Als Bauernsoldaten von der Front zurückkehrten, waren sie völlig andere Menschen.“ (226)
„Keine Regierung konnte sich in den ukrainischen Gebieten des früheren Russischen Reiches länger als sechs Monate halten. Die ständigen Regimewechsel führten zum vollständigen Zusammenbruch des staatlichen Gewaltmonopols. Alle seiten machten von Gewalt Gebrauch, und jede Seite war Opfer und Täter zugleich. Die Hauptopfer jedoch waren die Juden.“ (240 f)
„Was die ukrainischen Sozialisten als ‚das Volk‘ bezeichneten, wurde in Krisenzeiten schnell zu einem ungebändigten Mob. Und von einem Mob ist schließlich nichts anderes als Lynchjustiz zu erwarten.“ (244)
„Von 1917 bis 1919 besetzten die Bauern fast alle Ländereien der Großgrundbesitzer und teilten sie unter sich auf. Sie waren sich allerdings im Klaren darüber, dass die Besitzergreifung illegal war. Deshalb benötigten sie eine Regierung, die bereit war, diesen ‚gerechtfertigten‘ Landraub zu legalisieren.“ (250)
„Die Kollaborationsbereitschaft vieler Ukrainer und vor allem auch die Beteiligung der ukrainischen Polizei am Holocaust gehören zu den schändlichsten Kapiteln des Geschichtsbuchs der Ukraine.“ (313)
„Als der Krieg [Anm. 2. Weltkrieg] endete, drehte sich das Rad der Gewalt immer schneller.“ (329)
„Machnos Armee [verübte] keine antijüdischen Pogrome. Stattdessen griffen seine Truppen deutsche Siedler an und ermordeten sie. […] „Ohne Ausnahme verübten alle lokalen Truppen Pogrome.“ (332)
„Die Ukraine wurde zu einem Experimentierfeld für die Vernichtung der Juden.“ (337)
„Die Gewalt bauschte sich auf, bis sie ein extremes Ausmaß erreichte und keine Gruppe mehr verschont blieb. In jeder ethnischen, gesellschaftlichen oder Berufsgruppe gab es sowohl Täter als auch Opfer.“ (342)
„Natürlich kann sich eine Nation nicht ausschließlich auf ihrer Opferrolle gründen. Aber es kommt auch keine Nation ohne einen Heldenmythos aus, vor allem nicht in Zeiten größter Umwälzungen oder wenn sie sich gegen einen externen Aggressor zur Wehr setzen muss. Genau das ist die Situation der heutigen Ukraine.“ (346)
Wie die Geschichte zeigt, haben Ukrainer keine Hemmungen zu töten. Die Geschichte wiederholt sich. Diesmal schickt Selenskij junge Ukrainer in den Krieg, in den Stellvertreterkrieg und in den Bürgerkrieg, gut getarnt als Abwehr eines Angriffskrieges.
C (Conlusio)
Der Angriff der Russen am 24. Februar 2022 kam den Herrschern der Ukraine nicht nur sehr gelegen, sondern wurde von diesen (und ihren Hintermännern in Amerika), selbst angezettelt. Nur mit einem Krieg konnte die Ukraine beweisen: „sie kämpft nicht nur um die eigene Zukunft, sondern um die Zukunft der Welt. Der russisch-ukrainische Krieg ist ein Wendepunkt der Weltgeschichte.“ (451)
Jedes Heldenepos lebt von der Überwindung eines Feindes. Das beweist David gegen Goliath ebenso wie Harry Potter: „Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Stories wahr oder fiktiv sind. Wichtig ist nur, dass sie uns daran erinnern, dass der Teufel – ob in der Bibel oder in der Geschichte - eine erbärmliche Gestalt ist. Er mag zerstören, versklaven oder korrumpieren können, aber er kann nicht siegen.“ (455)
Der größte Feind der Ukraine war und ist die innere Korruption, wie Hrytsak bestätigt: „Die Korruption nahm derartige Dimensionen an, dass sie zu einer der Hauptsäulen der staatlichen Macht zu werden schien: Sie zu beseitigen, würde den Staat zusammenbrechen lassen. So konnten systemische Korruption, Missbrauch des Justizsystems und inoffizielle Zensur tiefe Wurzeln schlagen.“ (433)
Doch diesen Feind konnten die Ukrainer nach der Unabhängigkeitserklärung 1991 drei Jahrzehnte lang – trotz oranger Revolutionen - nicht aus eigener Kraft überwinden. Dieser Feind hat die Bevölkerung des Landes nach der Öffnung der Grenzen dezimiert – ausnahmsweise nicht durch Pogrome, sondern „nur“ durch millionenfachen Exodus. Erst der „Feind von außen“ konnte innere Kräfte mobilisieren und die Nation vereinigen – mit Ausnahme weiterer Millionen unschuldiger Menschen, die zu Opfern der Bomben und zu Kriegsflüchtlingen wurden. Diese Opfer dienen einer höheren, guten Sache: dem Weltfrieden und der Weltordnung von Amerikas Gnaden.
„Der derzeitige russisch-ukrainische Krieg verlangt der Ukraine größte Opfer ab, aber er wird auch viele Helden hervorbringen, einschließlich – oder vor allem – Menschen, die sich für andere opfern.“ (347) Bemerkenswert ist, dass der Autor hier nicht, wie im „Westen“ üblich, von „Angriffskrieg“ spricht. Hrytsak bestätigt hier einmal mehr: Heldenmythos und Opfermythos sind zwei Seiten einer Medaille.
Hrytsak erklärt pathetisch, warum die Ukraine den aktuellen Krieg mit Russland so dringend benötigte: „Vor dem Hintergrund ihres Status als geopolitisch wichtiges, aber verletzliches Grenzland, dem historischen Erbe des östlichen Christentums, des russischen Kaiserreiches und des Kommunismus ist der Pfad der Ukraine ins ‚Königreich der Freiheit‘ besonders schwierig und verschlungen. Vor dem Krieg bewegte sich das Land langsam, aber stetig auf diesem Pfad voran. Doch ein Krieg ist ein großer Zeitbeschleuniger. Er verkürzt jene letzte Meile auf wenige Meter. […] Für die Ukraine kann die Frage nicht lauten, ob sie siegt, sondern wann.“ (454) Und mit den Worten des Nationaldichters Taras Schewtschenko ruft der den Ukrainern zu: „Kämpft, dann werdet ihr siegen!“ (455)
Der Autor schließt sein Buch mit einem verschachtelten Bekenntnis: „Letzten Endes hängen wir von den Geschichten ab, die wir einander erzählen. Ich hoffe, dass diese Erzählung der ukrainischen Geschichte unseren Glauben daran stärken wird, dass Fortschritt zwar ohne Katastrophen unmöglich sein mag, aber auch trotz aller Katastrophen möglich ist.“ (45)