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Die Ukraine als liberale Demokratie
Wann immer der Autor über „liberale Demokratie“ schreibt, setzt er voraus, dass es „im Westen“ funktionierende liberale Demokratien gibt – insbesondere in Amerika und in den Mitgliedsstaaten der EU. Wie diese Demokratien, die Hrytsak für die Ukraine als wünschenswertes Ziel anstrebt, in der Realität ausschauen, hat der Autor nicht weiter untersucht. Tatsächlich ist das Demokratie-Verständnis des Autors ziemlich oberflächlich. Mit Hinweis auf die Bewohner der Westukraine, die noch die Habsburger Monarchie erlebt hatten, schreibt er: „Die liberale Demokratie war die einzige Norm, die sie kannten und die sie auch in der Westukrainischen Volksrepublik (WUVR) etablieren wollten.“ (287)
Ausgerechnet die K&K-Monarchie zum Vorbild liberaler Demokratien zu erklären, zeugt von einem Argumentationsnotstand. Darüber hinaus versucht Hrytsak das Wesen der Demokratie über die nationale Identität zu definieren: „Revolutionen mit einer nationalen und antikolonialen Dimension enden mit höherer Wahrscheinlichkeit erfolgreich. Die Teilnehmenden des Euromaidan kämpften nicht nur gegen Janukowytsch, sondern auch gegen Putin und Russland. Anne Applebaum schreibt, dass die Demokratie siegt, wenn die Bürgerinnen und Bürger ein tiefes Gefühlt der Zugehörigkeit zu ihrer Sprache, Literatur und Geschichte empfinden. Das Gegenteil trifft ebenfalls zu: Länder oder Regionen ohne nationales Bewusstsein sind eher anfällig für Korruption und Anarchie…“
An der Stelle könnte Hrytsak abbrechen und alle Leser könnten sich ihre eigenen Gedanken über das „nationale Bewusstsein“ der Ukrainer, insbesondere ihrer Oligarchen, zwischen 1990 und 2020 machen. Doch Hrytsak endet den Satz suggestiv „... Regionen ohne nationales Bewusstsein sind eher anfällig für Korruption und Anarchie, hier dominieren Krawallmacher und Söldnergruppen, genau wie im Donbass.“ (448)
Seiner Schlussfolgerung werden aber Betroffene Ukrainer ebenso wie ausländische Beobachter zustimmen können: „Die zentrale Herausforderung für Länder wie die Ukraine besteht darin, dieses aufwogende nationale Bewusstsein in ein faires Rechtssystem und effektive, funktionale demokratische Institutionen zu überführen.“
Würden die Herrscher der Ukraine das Blutgeld für den Krieg zur Bewältigung dieser Herausforderung nutzen wollen, statt zum Ankauf von Waffen, dann hätten sie schon mehrfach die Gelegenheit zu einem Friedensabkommen mit Russland gehabt. Vielleicht nicht innerhalb der von der Sowjetunion gezogenen Grenzen, aber mit genug Raum und Geld zur wirtschaftlichen und kulturellen Entfaltung von Millionen selbstbewusster, souveräner Ukrainer. „Denn Gewalt kann nichts Nachhaltiges hervorbringen.“ (325)
Update: Epoch Times (22.10.24) berichtet über „Weitere 35 Milliarden Euro für die Ukraine: Warum Europa ohne die USA handelt … Das EU-Paket ist Teil von noch umfassenderen Hilfen der G7-Gruppe, die jedoch auf der Kippe stehen.“ Bemerkenswert: „Die Ukraine kann frei über die Gelder verfügen, Voraussetzung sind jedoch Kontrollen gegen Betrug und andere demokratische Auflagen. In der Theorie soll Kiew die 35 Milliarden Euro binnen 45 Jahren an die EU zurückzahlen.Ob die Ukraine jemals dazu in der Lage sein wird, hängt von der weiteren Entwicklung ab. Diplomaten sehen die Gelder daher als eine Art Zuschuss, der nicht zurückgezahlt wird.“