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Die Ukraine als einheitliche Nation
Das zentrale Thema (und gleichzeitig die historische Mission von Yaroslav Hrytsak) ist die Bildung der Ukrainischen Nation (Nationbuilding) – nicht nur die Chronik ihrer Entstehungsgeschichte.
„Im Jahr 1848, während des ‚Frühlings der Völker‘, hatten sich die galizischen Ruthenen nicht so recht entscheiden können, ob sie Ukrainer, Russen oder Polen waren. Nicht viel anders verhielt es sich in der Zwischenkriegszeit in Transkarpatien, wo sich die Ruthenen noch immer stritten, welchem Volk sie angehörten – Ukrainer, Russen oder Ungarn -, oder ob sie ein eigenständiges Volk bildeten.“ (276)
„Wenn Staaten Pässe hätten, würde darin 1914 als Geburtsjahr der Ukraine eingetragen.“ (221)
„Kriege und Revolutionen sind mächtige Beschleuniger: […] Das trifft mit Sicherheit auf die ukrainische Nationalstaatsbildung zu, die nach 1914 viel schneller voranschritt als zuvor – vor allem die Umwandlung von ‚Bauern zu einer Nation‘. Ihre alte, kleine Hiemat wurde durch ein neues, großes und nationalbewusstes Heimatland ersetzt.“ (226 f)
„Die Ukraine-Frage spielte in den deutschen und österreichischen Plänen eine wichtige Rolle. […] Bei Kriegsbeginn genehmigte die österreichische Regierung die Formierung der Sitscher Schützen, einer neuen militärischen Einheit, die aus galizischen Ukrainern bestand. […] Wilhelm Franz von Habsburg-Lothringen, besser bekannt unter seinem ukrainisierten Namen Wasil Wyschywanij sollte König der Ukraine werden.“ (223 f)
„Den Bestimmungen des Vertrags von Brest entsprechend erkannte Deutschland die Unabhängigkeit der Ukraine an – aber nur, um sie dann zu besetzen.“ (224)
„Die Bolschewiki erkannten die UVR [Ukrainische Volksrepublik] an, gleichzeitig erklärten sie ihr den Krieg.“ (234)
„Der V. Weltkongress der Kommunistischen Internationale (1924) bezeichnete die ukrainische Frage als wichtigste ungelöste nationale Frage in Europa. Die Bolschewiki sahen darin eine Art Rammbock, mit dem sie die Tore der kapitalistischen Festung des Westens aufbrechen konnten.“ (259)
„Die sowjetische Ukraine entglitt allmählich dem Griff des Kreml. […] Die Ukrainer mauserten sich allmählich zu einer Nation mit eigener politischer Führungsschicht und einer voll entwickelten, gebildeten und keineswegs ‚bäurischen‘ Kultur. […] Auch die ukrainische Sprache, das Kernsymbol der ukrainischen Identität, wurde einer Transformation unterzogen. 1926 wurde in Charkiw die ukrainische Rechtschreibung unter Beteiligung ukrainischer Linguisten sowohl aus der sowjetischen als auch aus der polnischen Ukraine neu festgelegt.“ (262)
„Die Situation in der Ukraine konnte sich ungehindert entwickeln, solange der Kreml durch den Machtkampf nach Lenins Tod im Jahr 1924 geschwächt war. Doch 1929 ging Stalin aus diesem Kampf siegreich hervor. Kaum hatte er seine Machtposition gefestigt, als er auch schon einen scharfen Kurswechsel ankündigte.“ (263)
„Das Schicksal der Karpatenukarine [1939] zeigte, wie drastisch die Bedeutung der ukrainischen Frage abgenommen hatte: Sie war von einer der wichtigsten Fragen im Europa der Nachkriegszeit zu einer Nebensächlichkeit verkommen. Ihre Degradierung erfolgte quasi parallel zum Niedergang der liberalen Demokratie. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs konnte man die Zahl der noch verbliebenen liberalen Demokratien an einer Hand abzählen.“ (286)
„Stalin löste die ukrainische Frage, indem er alle Ukrainer in einem einzigen ukrainischen Staat vereinte und diesen dann seiner internationalen Existenz beraubte.“ (316)
„Natürlich hätte die Ukraine ohne den Krieg und die Revolution vermutlich andere Grenzen. Um es ganz offen zu sagen: Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich die ukrainische Nation ohne diese Ereignisse von Transkarpatien im Südwesten so weit bis zum Donbass im Osten hätte erstrecken können. Die Vereinigung all dieser Gebiete zu einem einzigen Staat war ganz ohne Zweifel den Bolschewiki zuzuschreiben.“ (321)