Gott und Geld

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Die Rituale der Beschwörung von Gott im Mittelalter und der Beschwörung des Geldes in unserer Zeit sind nicht ähnlich. Es sind vielmehr dieselben Rituale, denn Geld hat Gott vom Thron gestoßen. Geld ist heute das einzige Wesen mit universeller Gültigkeit, es ist geistig und materiell gleichzeitig.

Über die Metaphysiker, jene Philosophen, die endlos über geistige Dinge und Wesen spekulierten, machte Immanuel Kant (1724-1804) sich lustig: wann immer sie den Schaum ihrer Weisheiten abschöpften, der sofort zerging, zeigte sich neuerlich Schaum auf der Oberfläche, „den immer einige begierig aufsammleten, wobei andere, anstatt in der Tiefe die Ursache dieser Erscheinung zu suchen, sich damit weise dünkten, daß sie die vergebliche Mühe der Ersteren belachten.“ (Prolegomena, 20) Kant kritisiert an der Schulmetaphysik (Scholastik) insbesondere den „Dogmatismus, der uns nichts lehrt“ (P, 23) sowie „mystische Schwärmerei und Hirngespinste“ (P, 47) und entwickelt daher die Kritik der reinen Vernunft als „Gegenmittel“.

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Kants Gegenmittel liegt in der kritischen Methode, er konstituiert die Metaphysik als Wissenschaft. Er vergleicht seine Transformation der Metaphysik mit der kopernikanischen Wende in der Physik. Mit heutigen Begriffen: Kant hat einen Paradigmenwechsel vollzogen.

Der in Vergessenheit geratene Begriff „Transsubstantiation“ hilft uns, die Denkungsart der vor-kritischen, dogmatischen Metaphysik zu verstehen. Es geht dabei nicht um „Subtraktion“ oder um „Subordination“, sondern um Substanz, die transzendiert. Dieser Begriff, den nur noch wenige Theologen kennen, bezeichnet die Wandlung von Brot in den Leib Christi. Wenn man heute Christen, die der Eucharistie beiwohnen, fragt, ob die Wandlung ein symbolischer Akt sei, oder ob sich Christus tatsächlich (physisch!) in jeder Hostie befinde, so werden fast alle Christen von einem symbolischen Akt sprechen. So gut wie alle Katholiken widersprechen damit der immer noch gültigen Glaubenswahrheit ihrer Theologie. So zeigt sich: Schulmetaphysik und Theologie haben aufgehört die Menschen zu beherrschen.

Wahrscheinlich kennen heute nur noch einzelne Priester den Ursprung dieser Glaubenswahrheit. Die Idee der Transsubstantiation stammt aus dem Mittelalter, das von Gottesfurcht (im besten Falle Ehrfurcht vor Gott, im schlimmsten Falle Angst vor den Drohungen der Kirche) gezeichnet war. Zweifel an Gott war ausgeschlossen. Seine Allmacht war ebenso unbestritten wie seine Existenz. Wenn der Priester auf die Hostie verweist mit den Worten „das ist der Leib Christi“, so ist dieses Wort Gottes unmittelbare Realität, d.h. in der Hostie ist der Leib Christi tatsächlich anwesend. Diese für den aufgeklärten Christen nicht mehr nachvollziehbare Idee, war für den Christen vor der Aufklärung eine selbstverständliche Vorstellung. Die Hostie war nicht bloß ein Symbol, nicht bloß Stellvertreter für den in Wirklichkeit abwesenden Gott.

Die metaphysische Formel „universalia sunt realia“ charakterisiert die Geisteshaltung (die Denkungsart) des Mittelalters. Universalbegriffe wie Gott, Mensch, Stand, Gattung sind Realität, d.h. sie entsprechen der Wirklichkeit und der Wahrheit; sie sind vollkommen wahr, das impliziert, dass sie auch existieren müssen. Über Jahrhunderte stritten Philosophen über drei Variationen dieser Wahrheit:

- universalia sunt ante rem (die Universalbegriffe gibt es vor den materiellen Dingen);

- universalia sunt post rem (die Universalbegriffe werden von den Dingen abgeleitet)

- universalia sunt in re (Universalbegriffe sind wesentlicher Bestandteil der Dinge)

aber immer stand außer Frage: universalia sunt realia (Universalien sind Realität).

„Der große ‚Universalienstreit‘, der fast das ganze Mittelalter erfüllt, geht niemals um den eigentlichen Grundsatz, sondern nur um dessen Formulierungen“, schreibt Egon Friedell in der „Kulturgeschichte der Neuzeit“. Die Geisteshaltung hatte und hat Auswirkungen auf die Lebensform: „Den Stand zu wechseln war in der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung fast unmöglich, da die Stände als von Gott geschaffene Realitäten angesehen wurden, wie etwa die einzelnen Gattungen des Tierreichs.“ Gott war demnach nicht nur wirklich, sondern auch wirksam.

Heute gilt: Gott ist tot, die Götter leben. Im Zeitalter des Individualismus betet jeder seinen eigenen, privaten Gott an. Im Zeitalter der Säkularisierung, der Trennung von Staat und Kirche, hat Gott seinen gesellschaftspolitischen Einfluss verloren. Das gilt zumindest für Europa. An die Stelle Gottes ist das Geld getreten. Das gilt für die ganze Welt. Für das Geld gelten alle Attribute, die ursprünglich Gott zugeschrieben wurden: es ist omnipräsent (allgegenwärtig), omnipotent (allmächtig) und sogar omniszient (allwissend).

Gott kann man heute in Zweifel ziehen. Man kann an Gott glauben oder nicht an Gott glauben oder an den Teufel. Man kann Gott und Allah für ein und dasselbe Wesen halten oder für verschiedene. Man kann sich über Gott lustig machen (nur Allah versteht bislang keinen Spaß). Man kann Gott für tot erklären und trotzdem seinen Geboten folgen. Man kann Gott leugnen und gleichzeitig Kunstwerke, die im Namen Gottes geschaffen wurden, verehren. Mit der Aufklärung hat Gott die Toleranz in die Welt gebracht. Oder war es umgekehrt? Hat die Aufklärung Gott Toleranz beigebracht? Die mysteriöse Trinität Gottes wurde aufgelöst in der Liebe Gottes , reduziert auf die für jeden verständliche Formel: Gott = Liebe. Ein Gott der Liebe verzeiht den Menschen ihre Dummheiten und sogar ihre Blödeleien.

Dieser Paradigmenwechsel ist in Folge der Aufklärung möglich geworden. Die „Kritik der reinen Vernunft“, die eine „Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“ begründet hat, wurde vor 242 Jahren publiziert und kann als Fundament der Aufklärung gesehen werden. Unser Zeitgeist wurde möglich, weil Kant die Grenzen der Erkenntnis ausgelotet und die Abgrenzung zum Glauben begründet hat.

Doch Wehe dem, der eine kritische Haltung dem Geld gegenüber einnimmt. Der wird als Ketzer zwar nicht eingesperrt, sondern ausgesperrt. Der wird als Häretiker heute nicht mehr verbrannt, sondern in ein sauerstoffarmes Gebiet verbannt, wo sich sein Feuer nicht entzünden kann. Alles, was der aufgeklärte Europäer heute GOTT gegenüber darf, ist dem Weltbürger dem GELD gegenüber verboten. Es gilt als undenkbar, GELD aus unserer Welt zu verbannen. Es überschreitet jedenfalls die Vorstellungskraft der Menschen, so wie für die Menschen im Mittelalter die Vorstellung undenkbar war, dass da kein GOTT sei. GELD ist heute das einzige Wesen mit universeller Gültigkeit, es ist geistig und materiell gleichzeitig.

Es ist höchste Zeit ein Verständnis von GELD zu entwickeln, das nicht spekulativ ist, sondern als Wissenschaft wird auftreten können!


Der Preis des Geldes

Das beste Buch über das Wesen und die Kulturgeschichte des Geldes hat Christina von Braun geschrieben: "Der Preis des Geldes". Das Wesen des Geldes kann nicht ohne die Wirkungsgeschichte der Finanzmärkte verstanden werden (so wie sich das Wesen des Christentums in der Wirkungsgeschichte der Kirchen manifestiert). Das Wesen Gottes im Mittelalter manifestiert sich in den gotischen Kathedralen und der scheinbaren Überwindung der physikalischen Gesetze zur Errichtung dieser Bauwerke mit den technischen Mitteln des Mittelalters. Das Wesen des Geldes im 21. Jahrhundert manifestiert sich in den Wolkenkratzern der Bankzentralen und der tatsächlichen Überwindung demokratischer Prinzipien, denen „der Westen“ (im Sinne von Niall Ferguson) seit Beginn des 20. Jahrhunderts und die meisten Staaten dieser Welt seit dem Ende des Kalten Krieges verpflichtet sind.

Aufgeklärte Menschen sprechen heute meist überheblich und gleichzeitig abfällig über „das Märchen vom lieben Gott“. Die gleichen Menschen Glauben an das Märchen vom lieben Geld. Der Zeitgemäße Begriff dafür ist „Narrativ“. Das heißt nicht, dass jedes Narrativ ein Märchen ist, doch der Begriff „Narrativ“ schließt nicht aus, dass sich die „Story“ am Ende als Legende erweist.


Die Alchemisten des Geldes

Hier das gängige Narrativ des Geldsystems in Anlehnung an das Buch „Die Alchemisten. Die geheime Welt der Zentralbanker“ (Berlin, 2013) des US-Journalisten Neil Irwin, der ab 2007 für die Washington Post über die Aktivitäten der Zentralbanken berichtet hat. Der reißerische Titel soll nicht vom Wesentlichen ablenken: hier schreibt ein Autor eines „Leitmediums“ in der Sprache der Banker über die Theorien und Praktiken der Finanzwelt. Genauer gesagt: er schreibt über die Spekulationen der obersten Währungshüter (der „Alchemisten“) und die Auswirkungen auf die Gesellschaft. Im Fokus von Irwins Buch steht die Finanzkrise von 2007-2012. Folgende Prämissen, Conclusio und Resümee sind ein Extrakt aus Irwins Darstellungen.

Prämisse 1: Die Zentralbanken sind Kreditgeber der letzten Instanz. Sie verfügen über potenziell unerschöpfliche Mittel, um das globale Finanzsystem mit Liquidität versorgen. Sie haben mit diesen Mitteln nach 2007 einen Staudamm errichtet, um das Finanzsystem vor der Flut zu schützen. Dieser Damm dient zur Beruhigung der Finanzmärkte und zur Rettung des Finanzsystems. Die Märkte reagieren heftig auf jedes Gerücht und jede Ankündigung. Die Aufgabe der Zentralbanken besteht darin, die Preisstabilität der Gesamtwirtschaft zu gewährleisten, insbesondere durch Bekämpfung der Inflation.

Prämisse 2: Die Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren wurde durch das Versagen der Zentralbanken ausgelöst. Diesen Fehler mussten die Zentralbanken nach 2007 vermeiden. Zentralbanken spielen in diesem Jahrhundert eine Schlüsselrolle im Kampf gegen die Panik, sowie bei Stabilisierung und Rettung des Finanzsystems. Die Hauptrolle im „Westen“ (Begriff im Sinne von Niall Ferguson) übernehmen FED (Zentralbank der USA), EZB (Zentralbank der Euro-Länder) und die Zentralbank Großbritanniens (Bank of England).

Conclusio: Ab 2007 pumpte die EZB Geld in das System, um ihre Banken liquide zu halten. Auf diese Art hofften sie, die europäische Wirtschaft vor größeren Schäden zu bewahren. Damit folgte die EZB dem Vorbild der FED. Die Annahme dahinter: zusätzliche Liquidität würde die Wirtschaft mit mehr Krediten versorgen und neue Investitionen anstoßen, Interventionen der Zentralbanken können Stimmung auf dem Markt erheblich verbessern. Aber: Die großen westlichen Volkswirtschaften erholten sich kaum. Deshalb mussten die Zentralbanken verstärkt Einfluss auf die Politik der Regierungen nehmen. So wurden die Instanzen zur Kontrolle der Finanzmarktmechanismen zu Schaltstellen der Krisenbewältigung. Nach den Vorgaben der Banken mussten und müssen Regierungen die Märkte von ihrer Handlungsfähigkeit überzeugen, damit sie wieder Vertrauen fassen. Daraus folgt die Notwendigkeit der Reduktion der Staatsschulden (Austerity-Politik). Gleichzeitig musste ein Schuldenschnitt („Haircut“) der Privatbanken vermieden werden. Der EZB-Chef Jean-Claude Trichet war der Meinung: „Wenn der Privatsektor in den Krisenmechanismus einbezogen wird, wird dieser sehr viel verwundbarer.“

Resümee: Viele Investments, deren Wert nach der Lehman-Pleite zusammenschmolz, hatten als vollkommen sicher gegolten. Eine grundlegende Wahrheit über die modernen monetären Systeme war aufgedeckt worden: Das Geld ist lediglich eine Idee, ein Konzept, ja man könnte sogar sagen, ein riesiger Schwindel.

Hier bewusst allein das Narrativ von Irwins Buch zur Beschreibung des Finanzsektors gewählt. Würde man auch die Bücher der Nobelpreisträger Josef Stiglitz und Angus Deaton, sowie des Ex-Wallstreet-Bankers Michael Hudson, oder der österreichischen Finanzkritiker Wolfgang Freisleben, Franz Hörmann und Bernhard Kreutner in der Darstellung berücksichtigen, so wäre sie reicher an Details, aber nicht tiefer in der Substanz. Um die Substanz des Finanzsystems zu verstehen, könnte man auch ein Dutzend zufällig ausgewählter Presseberichte über die Börsen und den Finanzmarkt sprachphilosophisch analysieren oder kritisch untersuchen. Aber es geht hier nicht um die vollständige historische Aufarbeitung, sondern um das Verständnis des Wesens eines Systems.

Zum Verständnis der Substanz des Geldwesens, hier die Schlüsselbegriffe gefiltert aus Irwins Erzählungen: Ankündigungen, Annahmen, Gerüchte, Beruhigung, Panik, Schutz, Rettung, Liquidität, Stabilität, Stabilisierung, letzte Instanz, unerschöpfliche Mittel. Es ist evident, dass diese Begriffe spekulativen Charakter haben, umso mehr die religiösen Grundbegriffe des Geldsystems: Kredit (Credo, Glaube), Verschuldung (Schuld und Sühne), Gläubiger (der Gläubige, der an die Zahlungsfähigkeit des Schuldners glaubt und in dessen Macht es liegt dem Schuldigen zu vergeben), Schuldner (der Schuldige, der für seine Sünden zahlen muss. Die Erbsünde unserer Zeit ist der Kredit für ein Eigenheim, für das Menschen ein Leben lang und manchmal auch noch ihre Erben bezahlen.) Und das GELD selbst, die Conditio sine qua non unserer Welt (nicht nur der Welt-Wirtschaft).

Die Schlüsselbegriffe ebenso wie die Grundbegriffe des Geldsystems sind spekulative Begriffe. Um das Wesen des Finanzsektors zu verstehen muss man des Wesen spekulativer Begriffe verstehen. Dabei hilft uns Immanuel Kant.


Die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis

Wer Kants Kritik nur oberflächlich aus dem Schulunterricht kennt, wird sich an die Aussage erinnern, dass „das Ding an sich“ nicht erkannt werden kann. Demnach kann auch ein „System an sich“ nicht erkannt werden. Zur Aufklärung dieses Dilemmas muss hier erklärt werden, was das Wesen der Kritik, richtiger gesagt: die Methode der Kritik ausmacht. Das „Geschäft der Kritik“ wie Kant formuliert, ist es, die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis zu ergründen und zu begründen und damit die Grenzen der Erkenntnis (d.h. die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit) aufzuzeigen. Seine Kritiken sind so schwer zu lesen, weil Kant uns keine fertigen Begründungen liefert, sondern uns an seinem Prozess der Ergründung der Elementarbegriffe der Metaphysik teilnehmen lässt. So bleibt die Methode und ihre Begründung für den ungeübten Leser unklar und verschwommen.

Hier die wesentlichen Grundlagen der kritischen Methode: Grenzbegriffe, die vor der Erkenntnis stehen, sind die Kategorien (Elementarbegriffe wie Kausalität, Quantität, Qualität, Modalität), und die „reinen Anschauungen“ Raum und Zeit. Darüber hinaus gibt es Ideen (spekulative Begriffe, die über der Erkenntnis stehen). Kant unterscheidet psychologische, kosmologische und theologische Ideen, die „lauter reine Vernunftbegriffe sind, die in keiner Erfahrung gegeben werden können“, die aber dazu geeignet sind, unseren Verstandesgebrauch zu einer synthetischen Einheit zu bringen. (P § 56) Bewusstsein und Selbstbewusstsein, sind psychologische Ideen, Unendlichkeit und Universum sind kosmologische Ideen, Gott und Schöpfung sind theologische Ideen. Ideen, reine Vernunftbegriffe und spekulative Begriffe sind bei Kant weitgehend synonym. Spekulation ist demnach nicht grundsätzlich abwertend gemeint, wird aber scharf kritisiert, wenn sie sich als Wissenschaft ausgibt.

Kant hat bewiesen, dass spekulative Aussagen (Behauptungen, Urteile) nicht bewiesen werden können. So bringt er in der vierten „Antinomie der reinen Vernunft“ den Nachweis, dass sowohl die Aussage, dass die Welt einen Schöpfer habe, als auch die Aussage, es gebe kein „schlechthin notwendiges Wesen in und außer der Welt“ wahr sein können. Mit den gleichen Begründungen (Untersuchung ihrer Gründe) ist aber auch nachweisbar, dass beide Behauptungen falsch sind.

Vereinfacht gesagt: spekulative Begriffe (Gott, Unendlichkeit, Bewusstsien uvm) übersteigen die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit. Erkenntnis ist nur möglich, wenn die Aussagen empirisch verifizierbar sind. (Randbemerkung: die Frage nach dem Anfang unserer Welt ist eine Frage der Metaphysik, auch wenn die Physik heute sehr viel GELD ausgibt, um diese Frage zu ergründen.) Da die „letzte Wahrheit“ mit den Mitteln der Vernunft nicht erreichbar, nicht verifizierbar ist, grenzte Karl Popper die Position Kants ein. Demnach sind wissenschaftlich nur jene Aussagen (Behauptungen, Urteile), die falsifizierbar sind.

Der Begriff „Finanzwissenschaft“ suggeriert Wissenschaftlichkeit. Dies ist aber bei kritischer Betrachtung nicht mehr, aber auch nicht weniger als Suggestion. Die Finanzwissenschaft ist in dem (und nur in dem Sinne) Wissenschaft, wie die Theologie eine Wissenschaft ist. Es wäre falsch zu behaupten, die Währungshüter von heute sind vergleichbar mit Hohepriestern früherer Zeiten. Richtig ist vielmehr: Die obersten Währungshüter in den Zentralbanken haben die Rolle der Oberpiester und Päpste übernommen, sie haben die Hohepriester ersetzt. Sie sind die Alchemisten unserer Zeit!

Im Unterschied zur Einschätzung von Irwin sind die Zentralbanken nicht die „Retter“ (religiös: Erlöser) der Menschheit, im Kampf gegen die privaten (bösen) Spekulanten, sondern Teil eines geschlossenen Systems. Derzeit steht am Anfang der Geldschöpfung immer ein Kredit. Deshalb nennt man das Geld auch Schuldgeld. Da die Banken schon lange nicht mehr Spareinlagen in Kredite umwandeln, sondern lediglich eine Buchung in ihre Computer eintragen, nennt man das Geld Fiatgeld. Jede Privatbank nimmt so an der Geldschöpfung teil, die Zentralbanken halten aber den Mythos aufrecht, sie seien Kreditgeber der letzten Instanz.


Die Finanzindustrie

Die Zentralbanken arbeiten de jure im Auftrag ihrer Regierungen, aber de facto im Interesse der Finanzindustrie. Die US-Zentralbank FED steht sogar im Eigentum von Privatbanken. Auch die „Rettungsmaßnahmen“ der EZB sind nachweislich direkt auf die Privatbanken ausgerichtet; der indirekte Nutzen, die Gesamtwirtschaft anzukurbeln, war lediglich Inhalt von Sonntagspredigten. Kreditbestimmungen wurden infolge der Krise nach 2007 nämlich so eng gefasst, dass die meisten EPU (Ein-Personen-Unternehmen) ihre Kreditwürdigkeit völlig verloren haben und die meisten KMU (Klein- und Mittelbetriebe) nur noch schwer an Kredite kamen (Kreditklemme). Nur die Großkonzerne und ihre Aktionäre konnten an der Akkumulation des Kapitals durch Kapital partizipieren.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das sagt der Artikel 1 der UNO-Menschenrechtskonvention. Heute, im 21. Jahrhundert, ist die Würde des Menschen erstmals messbar. Die Würde des Menschen ist exakt bestimmbar durch seine Kreditwürdigkeit. Und wer nicht mehr kreditwürdig ist, der hat – in der Logik dieses bestehenden Systems – seine Würde komplett verloren.

Mit sogenannten technischen Begriffen täuscht die „Hochfinanz“ Wissenschaftlichkeit vor, und meist auch Sicherheit, wie die Bezeichnungen Hedgefonds, Zertifikat, Security nahelegen. In Wahrheit sind das Produkte, die meist von privaten, völlig unkontrollierten Gesellschaften geschnürt und am Finanzmarkt angeboten werden. Die meisten davon sind hoch riskant. Es ist kein Zufall, dass das Synonym für riskant im Finanzsektor spekulativ lautet. Sicher sind die Finanzprodukte nur für jene, die sie geschaffen haben, die wissen, was sich in der Büchse der Pandora befindet.

Finanzprodukte unterscheiden sich von Finanzdienstleistungen so wie Manufaktur von der Industrie. Das Wesen der industriellen Revolution hat Karl Marx im Wechsel von der Handarbeit (=Manufaktur) zur Serienproduktion (=Industrie) gesehen. So wie im 19. Jahrhundert die industrielle Revolution unbemerkt von der damaligen Gesellschaft stattgefunden hat, so hat in den vergangenen 30 Jahren eine finanzindustrielle Revolution stattgefunden. Die Dienstleistung (Spargeld einsammeln, Kredite ausgeben) wurde abgelöst von der industriellen Herstellung von Finanzprodukten. Karl Marx hat sich damit als Prophet erwiesen, seine Endzeitvision des Kapitalismus hat sich bewahrheitet: die Akkumulation des Kapitals benötigt den Umweg über die Realwirtschaft nicht mehr, sondern reproduziert sich selbst durch finanzindustrielle Produkte.

Das Wesen der finanzindustriellen Produkte ist: Spekulation. Angeblich geht es der Finanzindustrie darum, der Realwirtschaft alternative Finanzierungen (anstelle von Bankkrediten) zu bieten. Das ist der Mythos, der zum Narrativ gehört an das die meisten Menschen glauben, sogar die wichtigsten Player der Finanzindustrie. Wahr ist jedoch, dass abgesehen von einem Börsengang oder einer Kapitalerhöhung (über Anleihe oder „frische“ Aktien) aus dem Kapitalmarkt kein Geld in die Realwirtschaft fließt. Das Gros aller Transaktionen bleibt im geschlossenen Kreislauf des Finanzmarktes. Der Finanzmarkt ist zwar weitgehend unreguliert, aber nicht frei (im Sinne von offen), sondern ein geschlossener Kreislauf.

In diesem Kreislauf werden täglich Billionenbeträge verschoben. Bei jeder Transaktion fallen Gewinne (auf einer Seite) und Verluste (auf einer anderen Seite) an. Die Fonds haben sich ihre Welt so eingerichtet, dass sie an jeder Transaktion durch eine Management-Fee verdienen, egal ob ihre Anleger durch die jeweilige Transaktion Gewinne oder Verluste hinnehmen müssen. Eine mögliche Beteiligung für die breite Masse an dieser „Wertschöpfung“ wäre eine Transaktionssteuer. Doch die internationale Staatengemeinschaft ist nicht fähig (oder nicht mächtig genug?), diese Steuer durchzusetzen. Diese Finanztransaktionen haben nur einen Zweck: Spekulation. Die Menschen, die von den Dienstleistungen und Produkten der Wirtschaft leben, haben davon absolut nichts. Die Spekulation ist zum absoluten Selbstzweck geworden.

Spekulationen sind absolut, das heißt losgelöst. Die Spekulationen der Metaphysik waren losgelöst von den Bedürfnissen der damaligen Menschheit. Die Spekulationen des Finanzsektors sind losgelöst von der Realwirtschaft. So wurde der Finanzsektor zur Irrealwirtschaft. Die Spekulation mit Geld ist dann, und nur dann sinnvoll, wenn man die Spekulation, ob Gott die Welt erschaffen hat oder nicht, für sinnvoll erachtet.

„Man kann in der Metaphysik auf mancherlei Weise herumpfuschen“, schreibt Immanuel Kant. Mit ironischen Zwischentönen setz er fort: die Metaphysiker brauchen keine Angst zu haben, dass ihre Spekulationen als Unwahrheiten entlarvt werden. Denn, solange sie sich nicht selbst widersprechen, und das sei bei „gänzlich erdichteten Sätzen“ wohl nicht möglich, solange können sie „niemals durch Erfahrung widerlegt werden.“ (P § 52b)

Wie Irwin ausführlich darstellt, verwenden die Zentralbanken sehr viel Energie, Zeit und Geld, um das bestehende System am Laufen zu halten. Mit QE (Quantitative Easying, die quantitative Lockerung, d.h. de facto Aufhebung der Geldmengenbeschränkung) haben die Zentralbank nach der Lehman-Pleite ein neues Instrument geschaffen. Sie haben mit gigantischen Geldbeträgen – mit Fiatgeld - nach 2007 einen Staudamm errichtet, um das Finanzsystem vor der Flut zu schützen. Dieser Damm dient zur Beruhigung der Finanzmärkte und der Rettung des Finanzsystems. Wie Irwin richtig schreibt, haben die Zentralbanken diesen Staudamm auch gleich selbst geflutet, und zwar mit Geld aus dem Nichts.

Nicht weniger mysteriös sind die Mittel der Geldvermehrung, die Privatbanken und Fonds anwenden. „Wie durch Zauberei verwandelte die Finanzindustrie all diese riskanten Darlehen [Anm: Hypothekenkredite, die zur Subprime-Krise geführt haben] an einzelne Kreditnehmer in jene Art von Kapitalanlagen, die bei den Investoren in aller Welt besonders begehrt sind – in absolut sichere Investments, die von den Rating-Agentur die Bonitätseinstufung ‚AAA‘ erhalten. [….] Und dieser Zaubertrick funktionierte nicht nur mit Hypotheken: Die großen Finanzfirmen machten dasselbe mit allen erdenklichen Arten von Krediten.“ (Irwin, 148f)

So wird der Staudamm immer mehr gefüllt und die Staumauern werden wie durch ein Wunder immer höher und dicker. Die geringen Volumina, die abfließen, füllen die Töpfe der Großkonzerne. Das erklärt, warum die Flutung der Märkte nicht schon längst zur Inflation oder gar Hyperinflation geführt hat. Es wird damit nur der Staudamm der Irrealwirtschaft gefüllt, während in die Realwirtschaft nur geringe Anteile davon ankommen.

Diese Erklärung ist selbstverständlich spekulativ – ebenso spekulativ, wie die Behauptung der Zentralbanken, dass ihre Maßnahmen zum Wohle der Menschheit seien. Und ebenso spekulativ wie die Annahme, die Maßnahmen der Zentralbanken würden der Bekämpfung der Inflation dienen. Wenn es wirklich darum ginge, so müsste man umgehend das System des Sowjetkommunismus implementieren, denn in der Sowjetunion gab es 70 Jahre lang keine Inflation – mit deutlich weniger Aufwand!

Wenn man Bankfachleuten die Frage stellt, was Geld eigentlich sei, dann erhält man die Antwort: (1) Tausch- und Zahlungsmittel (Mittel, die ständig in Umlauf sind), (2) Maßstab für ökonomische Bewertungen (Messeinheit der Wertschöpfung) und (3) Mittel zur Aufbewahrung von Werten (Mittel, die wie ein Schatz in Tresoren eingelagert werden). Diese Antwort reduziert Geld auf seine Funktionen, die keine Aussage über das Wesen des Geldes enthält. Dem Wesen des Geldes kommt der Autor, der „Alchemisten“ mit einer saloppen Formulierung viel näher: „Das Geld ist lediglich eine Idee, ein Konzept, ja man könnte sogar sagen, ein riesiger Schwindel.“ (Irwin, 214)

Ob Schwindel oder alternativlose Wahrheit – diese Formulierung gibt Anlass für endlose scholastische Streitereien, die uns hier nicht weiter helfen. Die Aussage, Geld sei eine Idee, können wir dagegen nachvollziehen, und zwar mit den metaphysischen Grundbegriffen, die wir von Kant kennen. Gott ist eine Idee ebenso ist Geld eine Idee. Aussagen und Systeme, die auf Ideen aufbauen, sind spekulativ. Das Geldsystem ist spekulativ. Anstelle von Irwins Begriff „Konzept“ würde ich den Begriff „Konstrukt“ wählen. Das Geldsystem ist, so wie das Systeme jeder Religion, ein Konstrukt, das einen Glauben voraussetzt. Der Glaube an Gott war absolut, der Glaube an das Geld ist absolut!


An Geld muss man glauben

Der Glaube an die Stabilität des Geldes wurde Jahrhunderte lang über seine Deckung durch Goldreserven aufrecht erhalten. Seit dem Ende des sogenannten Goldstandards (Bretton Woods 1944) sind die Staaten die letzten Instanzen zur Deckung bzw Sicherung des Geldes. Staatsschulden gelten daher bei den Banken und Fonds als höchste Sicherheit. Die Zentralbanken investieren sehr viel Geld und Energie, um den Glauben an dieses System aufrecht zu erhalten. Doch die Wahrheit ist: es gibt keine Sicherheit, wenn das Vertrauen verloren geht, wie spätestens die Bankenkrise 2008 bewiesen hat.

Die Antwort auf die philosophische Frage Was ist Geld?, bzw Was ist Geld seinem Wesen nach?, lautet daher: Vertrauen. Vertrauen ist der Grundbegriff jeder künftigen Geldwirtschaft, die als Wissenschaft wird auftreten können. Vertrauen ist der Inbegriff und Elementarbegriff eines von Schuld befreiten Geldsystems. Und das ist möglich, so wie ein Gott der Liebe möglich ist.

Am Rande möchte ich in dieser Osterbotschaft darauf hinweisen, dass Gott der Liebe eine Folge der Aufklärung war. In den heiligen Schriften von Judentum, Christentum und Islam begegnet uns Gott (Allah) als allmächtig, barmherzig, gerecht, aber auch als zornig, vernichtend und willkürlich. Die mysteriöse Dreieinigkeit (Gott als Schöpfer, Gottes Sohn als Vermittler und Heiliger Geist als Bewahrer) hat das Geld (Wertschöpfung, Wertvermittlung, Wertaufbewahrung) übernommen. Die mysteriöse Gottesvorstellung als Trinität hat die Aufklärung mit der Einführung der Toleranz in die Politik, mit der Trennung von Staat und Kirche und nicht zuletzt mit einfachen Formel Gott = Liebe, überwunden.

Die mysteriöse Vorstellung vom Geld können wir durch die einfache, jedem verständliche Formel Geld = Vertrauen überwinden. Daraus muss folgen, dass Geld nicht länger als „mysteriöses Wesen“ unser Leben bestimmen darf, sondern dass die Menschen wieder die Herrschaft über das Geld erringen müssen. Die Alternativlosigkeit des bestehenden Geldsystems verweist nicht nur auf die beschränkte Vorstellungskraft unserer Politiker. Sie ist mehr: eine Lüge, eine Lebenslüge, an die wir uns seit Jahrhunderten gewöhnt haben.

Die Formel Geld = Vertrauen baut auf die Erkenntnis auf, dass Geld nur solange "funktioniert", wie die Menschen daran glauben. Glaube und Vertrauen sind in diesem Zusammenhang Synonyme, die Sätze "ich glaube an das Geldsystem" und "ich vertraue dem Geldsystem" sind gleichbedeutend. Vernunftbasiertes Vertrauen kann einerseits den quasireligiösen und weitgehend ominösen Aspekt des Glaubens an das Geld ablösen. Vertrauen als Grundlage des Geldes kann aber auch die Negativspirale des Schuldgeldes überwinden.

Die Aufgabe des Staates kann es nicht sein, die spekulative Trinität des Geldes zu predigen, sondern die Grundlagen für gegenseitiges Vertrauen herzustellen. Dies erfordert einen Paradigmenwechsel. Es kann nicht länger akzeptiert werden, dass Staaten das Privileg der Geldschöpfung an Privatbanken, und das Privileg der Geldvermehrung an private Fonds delegieren, und diese Unternehmen, ausgestattet mit der Macht dieser Privilegien, den Staaten danach ihre Spielregeln aufzwingen. Dass die Staaten „Abwehrkämpfe“ gegen dieses System führen müssen, dass sie dieses System bei Bedarf wieder retten müssen, dass sie ihre Abhängigkeit von diesem System mit jeder Krise noch mehr erhöhen – das alles ist aus philosophischer Sicht ganz einfach dumm. Aus politischer Sicht ist das antidemokratisch!

Geld = Vertrauen bedeutet, dass Geld nicht selbst zum Inhalt der Wirtschaft werden kann, dass Geld nicht Produkt zur Vermehrung von Geld werden darf, sondern lediglich Mittel zum Zweck sein kann. Der Zweck des Geldes besteht lediglich darin, den Menschen und Unternehmen einen Vertrauensvorschuss zu geben. So muss das Vertrauensgeld das Schuldgeld ablösen. Die Verwaltung des Geldes ist Staatsaufgabe. Dank der technischen Möglichkeiten unserer Zeit reicht es vollkommen aus, dass eine Zentralbank pro Land die Geldschöpfung und die Kontrolle des Geldkreislaufes übernimmt. Die Privatbanken haben damit ihren Sinn verloren und werden aufgelöst oder lösen sich selbst auf.

Anmerkung: Diese Ostebotschaft 2022 ist eine leicht gekürzte und adaptierte Fassung der Osterbotschaft 2020, die der Autor auf seiner Seite thurnhofer.cc publiziert hat.

Siehe auch: GELD REGIERT DIE WELT

Jede Weisheit, einmal zum Gemeinplatz verkommen, wird zur Banalität. Die Sammlung von Ereignissen aus der Geschichte Österreichs ist ein Versuch, das Zitat „Geld regiert die Welt“ von seiner Banalität zu befreien. Die subjektive Auswahl stützt sich auf die Geschichte Österreichs von Stephan Vajda: „Felix Austria". Das Buch ist 1980 bei Ueberreuter erschienen. Zitate auf thurnhofer.cc

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