Die Finanzindustrie
Die Zentralbanken arbeiten de jure im Auftrag ihrer Regierungen, aber de facto im Interesse der Finanzindustrie. Die US-Zentralbank FED steht sogar im Eigentum von Privatbanken. Auch die „Rettungsmaßnahmen“ der EZB sind nachweislich direkt auf die Privatbanken ausgerichtet; der indirekte Nutzen, die Gesamtwirtschaft anzukurbeln, war lediglich Inhalt von Sonntagspredigten. Kreditbestimmungen wurden infolge der Krise nach 2007 nämlich so eng gefasst, dass die meisten EPU (Ein-Personen-Unternehmen) ihre Kreditwürdigkeit völlig verloren haben und die meisten KMU (Klein- und Mittelbetriebe) nur noch schwer an Kredite kamen (Kreditklemme). Nur die Großkonzerne und ihre Aktionäre konnten an der Akkumulation des Kapitals durch Kapital partizipieren.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das sagt der Artikel 1 der UNO-Menschenrechtskonvention. Heute, im 21. Jahrhundert, ist die Würde des Menschen erstmals messbar. Die Würde des Menschen ist exakt bestimmbar durch seine Kreditwürdigkeit. Und wer nicht mehr kreditwürdig ist, der hat – in der Logik dieses bestehenden Systems – seine Würde komplett verloren.
Mit sogenannten technischen Begriffen täuscht die „Hochfinanz“ Wissenschaftlichkeit vor, und meist auch Sicherheit, wie die Bezeichnungen Hedgefonds, Zertifikat, Security nahelegen. In Wahrheit sind das Produkte, die meist von privaten, völlig unkontrollierten Gesellschaften geschnürt und am Finanzmarkt angeboten werden. Die meisten davon sind hoch riskant. Es ist kein Zufall, dass das Synonym für riskant im Finanzsektor spekulativ lautet. Sicher sind die Finanzprodukte nur für jene, die sie geschaffen haben, die wissen, was sich in der Büchse der Pandora befindet.
Finanzprodukte unterscheiden sich von Finanzdienstleistungen so wie Manufaktur von der Industrie. Das Wesen der industriellen Revolution hat Karl Marx im Wechsel von der Handarbeit (=Manufaktur) zur Serienproduktion (=Industrie) gesehen. So wie im 19. Jahrhundert die industrielle Revolution unbemerkt von der damaligen Gesellschaft stattgefunden hat, so hat in den vergangenen 30 Jahren eine finanzindustrielle Revolution stattgefunden. Die Dienstleistung (Spargeld einsammeln, Kredite ausgeben) wurde abgelöst von der industriellen Herstellung von Finanzprodukten. Karl Marx hat sich damit als Prophet erwiesen, seine Endzeitvision des Kapitalismus hat sich bewahrheitet: die Akkumulation des Kapitals benötigt den Umweg über die Realwirtschaft nicht mehr, sondern reproduziert sich selbst durch finanzindustrielle Produkte.
Das Wesen der finanzindustriellen Produkte ist: Spekulation. Angeblich geht es der Finanzindustrie darum, der Realwirtschaft alternative Finanzierungen (anstelle von Bankkrediten) zu bieten. Das ist der Mythos, der zum Narrativ gehört an das die meisten Menschen glauben, sogar die wichtigsten Player der Finanzindustrie. Wahr ist jedoch, dass abgesehen von einem Börsengang oder einer Kapitalerhöhung (über Anleihe oder „frische“ Aktien) aus dem Kapitalmarkt kein Geld in die Realwirtschaft fließt. Das Gros aller Transaktionen bleibt im geschlossenen Kreislauf des Finanzmarktes. Der Finanzmarkt ist zwar weitgehend unreguliert, aber nicht frei (im Sinne von offen), sondern ein geschlossener Kreislauf.
In diesem Kreislauf werden täglich Billionenbeträge verschoben. Bei jeder Transaktion fallen Gewinne (auf einer Seite) und Verluste (auf einer anderen Seite) an. Die Fonds haben sich ihre Welt so eingerichtet, dass sie an jeder Transaktion durch eine Management-Fee verdienen, egal ob ihre Anleger durch die jeweilige Transaktion Gewinne oder Verluste hinnehmen müssen. Eine mögliche Beteiligung für die breite Masse an dieser „Wertschöpfung“ wäre eine Transaktionssteuer. Doch die internationale Staatengemeinschaft ist nicht fähig (oder nicht mächtig genug?), diese Steuer durchzusetzen. Diese Finanztransaktionen haben nur einen Zweck: Spekulation. Die Menschen, die von den Dienstleistungen und Produkten der Wirtschaft leben, haben davon absolut nichts. Die Spekulation ist zum absoluten Selbstzweck geworden.
Spekulationen sind absolut, das heißt losgelöst. Die Spekulationen der Metaphysik waren losgelöst von den Bedürfnissen der damaligen Menschheit. Die Spekulationen des Finanzsektors sind losgelöst von der Realwirtschaft. So wurde der Finanzsektor zur Irrealwirtschaft. Die Spekulation mit Geld ist dann, und nur dann sinnvoll, wenn man die Spekulation, ob Gott die Welt erschaffen hat oder nicht, für sinnvoll erachtet.
„Man kann in der Metaphysik auf mancherlei Weise herumpfuschen“, schreibt Immanuel Kant. Mit ironischen Zwischentönen setz er fort: die Metaphysiker brauchen keine Angst zu haben, dass ihre Spekulationen als Unwahrheiten entlarvt werden. Denn, solange sie sich nicht selbst widersprechen, und das sei bei „gänzlich erdichteten Sätzen“ wohl nicht möglich, solange können sie „niemals durch Erfahrung widerlegt werden.“ (P § 52b)
Wie Irwin ausführlich darstellt, verwenden die Zentralbanken sehr viel Energie, Zeit und Geld, um das bestehende System am Laufen zu halten. Mit QE (Quantitative Easying, die quantitative Lockerung, d.h. de facto Aufhebung der Geldmengenbeschränkung) haben die Zentralbank nach der Lehman-Pleite ein neues Instrument geschaffen. Sie haben mit gigantischen Geldbeträgen – mit Fiatgeld - nach 2007 einen Staudamm errichtet, um das Finanzsystem vor der Flut zu schützen. Dieser Damm dient zur Beruhigung der Finanzmärkte und der Rettung des Finanzsystems. Wie Irwin richtig schreibt, haben die Zentralbanken diesen Staudamm auch gleich selbst geflutet, und zwar mit Geld aus dem Nichts.
Nicht weniger mysteriös sind die Mittel der Geldvermehrung, die Privatbanken und Fonds anwenden. „Wie durch Zauberei verwandelte die Finanzindustrie all diese riskanten Darlehen [Anm: Hypothekenkredite, die zur Subprime-Krise geführt haben] an einzelne Kreditnehmer in jene Art von Kapitalanlagen, die bei den Investoren in aller Welt besonders begehrt sind – in absolut sichere Investments, die von den Rating-Agentur die Bonitätseinstufung ‚AAA‘ erhalten. [….] Und dieser Zaubertrick funktionierte nicht nur mit Hypotheken: Die großen Finanzfirmen machten dasselbe mit allen erdenklichen Arten von Krediten.“ (Irwin, 148f)
So wird der Staudamm immer mehr gefüllt und die Staumauern werden wie durch ein Wunder immer höher und dicker. Die geringen Volumina, die abfließen, füllen die Töpfe der Großkonzerne. Das erklärt, warum die Flutung der Märkte nicht schon längst zur Inflation oder gar Hyperinflation geführt hat. Es wird damit nur der Staudamm der Irrealwirtschaft gefüllt, während in die Realwirtschaft nur geringe Anteile davon ankommen.
Diese Erklärung ist selbstverständlich spekulativ – ebenso spekulativ, wie die Behauptung der Zentralbanken, dass ihre Maßnahmen zum Wohle der Menschheit seien. Und ebenso spekulativ wie die Annahme, die Maßnahmen der Zentralbanken würden der Bekämpfung der Inflation dienen. Wenn es wirklich darum ginge, so müsste man umgehend das System des Sowjetkommunismus implementieren, denn in der Sowjetunion gab es 70 Jahre lang keine Inflation – mit deutlich weniger Aufwand!
Wenn man Bankfachleuten die Frage stellt, was Geld eigentlich sei, dann erhält man die Antwort: (1) Tausch- und Zahlungsmittel (Mittel, die ständig in Umlauf sind), (2) Maßstab für ökonomische Bewertungen (Messeinheit der Wertschöpfung) und (3) Mittel zur Aufbewahrung von Werten (Mittel, die wie ein Schatz in Tresoren eingelagert werden). Diese Antwort reduziert Geld auf seine Funktionen, die keine Aussage über das Wesen des Geldes enthält. Dem Wesen des Geldes kommt der Autor, der „Alchemisten“ mit einer saloppen Formulierung viel näher: „Das Geld ist lediglich eine Idee, ein Konzept, ja man könnte sogar sagen, ein riesiger Schwindel.“ (Irwin, 214)
Ob Schwindel oder alternativlose Wahrheit – diese Formulierung gibt Anlass für endlose scholastische Streitereien, die uns hier nicht weiter helfen. Die Aussage, Geld sei eine Idee, können wir dagegen nachvollziehen, und zwar mit den metaphysischen Grundbegriffen, die wir von Kant kennen. Gott ist eine Idee ebenso ist Geld eine Idee. Aussagen und Systeme, die auf Ideen aufbauen, sind spekulativ. Das Geldsystem ist spekulativ. Anstelle von Irwins Begriff „Konzept“ würde ich den Begriff „Konstrukt“ wählen. Das Geldsystem ist, so wie das Systeme jeder Religion, ein Konstrukt, das einen Glauben voraussetzt. Der Glaube an Gott war absolut, der Glaube an das Geld ist absolut!