12. Oktober 2023 - Heute vor genau 50 Jahren wurde bekanntgegeben, dass Konrad Lorenz mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurde. Im Februar des Jahres 1973 erschien seine Denkschrift "Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit", eine Mischung Aus Predigt, Ethik und Wissenschaftskritik, sowie eine Art Prolegomena zum erkenntnistheoretischen Buch "Die Rückseite des Spiegels".
Lorenz selbst bezeichnet "Die acht Todsünden"einleitend als "Jeremiade, eine an die ganze Menschheit gerichtete Aufforderung zu Reue und Umkehr, von der man meinen könnte, daß sie einem Bußprediger, wie dem berühmten Wiener Augustiner Abraham a Santa Clara, besser anstünde als einem Naturforscher. Wir leben aber in einer Zeit, in der es der Naturforscher ist, der gewisse Gefahren besonders klar zu sehen vermag. So wird ihm das Predigen zur Pflicht."
Dieser Intention folgend hier vorab der Predigt-Teil:
"Die epidemischen Geisteskrankheiten der Gegenwart pflegen, aus Amerika kommend, in Europa mit einiger Verspätung aufzutreten.
Eine zur allumfassenden Religion gewordene Doktrin gewährt ihren Anhängern die subjektive Befriedigung einer endgültigen Erkenntnis von Offenbarungscharakter. Alle Tatsachen, die ihr widersprechen, werden geleugnet, ignoriert oder aber, was am häufigsten vorkommt, im Sinne Sigmund Freuds verdrängt, d.h. unter die Schwelle des Bewußtseins verbannt. Der Verdrängende setzt jedem Versuch, das Verdrängte wieder bewußt zu machen, einen erbitterten, aufs äußerste affektbesetzten Widerstand entgegen, der um so größer ist, je größer die Änderung wäre, die dies in seinen Anschauungen erheischen würde, vor allem in jenen, die er über sich selbst gebildet hat.
Die Frage, ob Haß, Liebe, Treue, Mißtrauen usw. »gut« oder »schlecht« seien, ist ohne jedes Verständnis für die Systemfunktion dieses Ganzen gestellt und genauso dumm, als früge einer, ob die Schilddrüse nun gut oder schlecht sei. Die landläufige Vorstellung, daß man derartige Leistungen in gute und schlechte einteilen könne, daß Liebe, Treue und Vertrauen an sich gut, Haß, Untreue und Mißtrauen an sich böse seien, stammt nur daher, daß in unserer Gesellschaft im allgemeinen an den ersten Mangel, an den zweiten Überschuß herrscht.
Sicherlich trägt das Zusammengepferchtsein von Menschenmassen in den modernen Großstädten einen großen Teil der Schuld daran, wenn wir in der Phantasmagorie der ewig wechselnden, einander überlagernden und verwischenden Menschenbilder das Antlitz des Nächsten nicht mehr zu erblicken vermögen. Unsere Nächstenliebe wird durch die Massen der Nächsten, der Allzunahen, so verdünnt, daß sie schließlich nicht einmal mehr in Spuren nachweisbar ist.
Mittelbar trägt die Übervölkerung zu sämtlichen Übelständen und Verfallserscheinungen bei, die in den folgenden sieben Kapiteln besprochen werden sollen. Den Glauben, daß man durch entsprechende »Konditionierung« eine neue Sorte von Menschen erzeugen könne, die gegen die üblen Folgen engster Zusammenpferchung gefeit sind, halte ich für einen gefährlichen Wahn.
Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, daß »die Natur« unerschöpflich sei. Jede Tier-, Pflanzen- oder Pilzart – denn alle drei Sorten von Lebewesen gehören zum großen Räderwerk – ist an ihre Umgebung angepaßt, und zu dieser Umgebung gehören selbstverständlich nicht nur die anorganischen Bestandteile einer bestimmten Örtlichkeit, sondern ganz ebenso alle ihre anderen lebenden Bewohner
Die Ökologie des Menschen verändert sich um ein Vielfaches schneller als die aller anderen Lebewesen. Das Tempo wird ihr vom Fortschritt seiner Technologie vorgeschrieben, der sich ständig und in geometrischer Proportion verschnellert. Daher kann der Mensch nicht umhin, tiefgreifende Veränderungen und allzuoft den totalen Zusammenbruch der Biozönosen zu verursachen, in und von denen er lebt.
Die Psychologie des »Sofort-haben-Müssens« ... macht manche Sparten der chemischen Industrie geradezu verbrecherisch leichtsinnig, was den Vertrieb von Mitteln anlangt, deren Wirkung auf längere Sicht überhaupt nicht absehbar ist. Was die ökologische Zukunft des Ackerbaus betrifft, aber auch in Hinsicht auf medizinische Belange, herrscht eine schier unglaubliche Bedenkenlosigkeit.
Die allgemeine und rasch um sich greifende Entfremdung von der lebenden Natur trägt einen großen Teil der Schuld an der ästhetischen und ethischen Verrohung der Zivilisationsmenschen.
INHALT
Die Überschriften der folgenden Kapitel bringen die "acht Todsünden" auf den Punkt:
II. Übervölkerung
III. Verwüstung des Lebensraums
IV. Der Wettlauf mit sich selbst --> Vgl Nial Ferguson
V. Wärmetod des Gefühls --> Vgl Jeremy Rifkin
VI. Genetischer Verfall
VII. Abreißen der Tradition
VIII. Indoktrinierbarkeit -> Vgl Paul Feyerabend
IX. Die Kernwaffen --> Vgl Günther Anders
Selbsterklärend sind die "Übervölkerung" (nicht nur im Sinne des heute üblichen Begriffs "Über-be-völkerung", der sich auf die Zunahme der Weltbevölkerung bezieht, sondern mit Bezug auf die Entfremdung der Bewohner von dicht besiedelten Städten) und die Bedrohung durch die Kernwaffen. Weiterführende Erklärungen gibt der Verhaltensforscher in der
ZUSAMMENFASSUNG
"Es wurden acht von einander unterscheidbare, wenn auch in engem ursächlichem Zusammenhang miteinander stehende Vorgänge besprochen, die nicht nur unsere heutige Kultur, sondern die Menschheit als Spezies mit dem Untergang bedrohen. Diese Vorgänge sind:
(1) Die Übervölkerung der Erde, die jeden von uns durch das Überangebot an sozialen Kontakten dazu zwingt, sich dagegen in einer grundsätzlich »un-menschlichen« Weise abzuschirmen,
und die außerdem durch die Zusammenpferchung vieler Individuen auf engem Raum unmittelbar aggressionsauslösend wirkt.
(2) Die Verwüstung des natürlichen Lebensraumes, die nicht nur die äußere Umwelt zerstört, in der wir leben, sondern auch im Menschen selbst alle Ehrfurcht vor der Schönheit und Größe einer über ihm stehenden Schöpfung.
(3) Der Wettlauf der Menschheit mit sich selbst, der die Entwicklung der Technologie zu unserem Verderben immer rascher vorantreibt, die Menschen blind für alle wahren Werte macht und ihnen die Zeit nimmt, der wahrhaft menschlichen Tätigkeit der Reflexion zu obliegen.
(4) Der Schwund (Wärmetod) aller starken Gefühle und Affekte durch Verweichlichung. Fortschreiten von Technologie und Pharmakologie fördern eine zunehmende Intoleranz gegen alles im geringsten Unlust Erregende. Damit schwindet die Fähigkeit der Menschen, jene Freude zu erleben, die nur durch herbe Anstrengung beim Überwinden von Hindernissen gewonnen werden kann. Der naturgewollte Wogengang der Kontraste von Leid und Freude verebbt in unmerklichen Oszillationen namenloser Langeweile.
(5) Der genetische Verfall. Innerhalb der modernen Zivilisation gibt es – außer den »natürlichen Rechtsgefühlen« und manchen überlieferten Rechtstraditionen – keine Faktoren, die einen Selektionsdruck auf die Entwicklung und Aufrechterhaltung sozialer Verhaltensnormen ausüben, wiewohl diese mit dem Anwachsen der Sozietät immer nötiger werden. Es ist nicht auszuschließen, daß viele Infantilismen, die große Anteile der heutigen »rebellierenden« Jugend zu sozialen Parasiten machen, möglicherweise genetisch bedingt sind.
(6) Das Abreißen der Tradition. Es wird dadurch bewirkt, daß ein kritischer Punkt erreicht ist, an dem es der jüngeren Generation nicht mehr gelingt, sich mit der älteren kulturell zu verständigen, geschweige denn zu identifizieren. Sie behandelt diese daher wie eine fremde ethnische Gruppe und begegnet ihr mit nationalem Haß. Die Gründe für diese Identifikations-Störung liegen vor allem in mangelndem Kontakt zwischen Eltern und Kindern, was schon im Säuglingsalter pathologische Folgen zeitigt.
(7) Die Zunahme der Indoktrinierbarkeit der Menschheit. Die Vermehrung der Zahl der in einer einzigen Kulturgruppe vereinigten Menschen führt im Verein mit der Vervollkommnung technischer Mittel zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu einer Uniformierung der Anschauungen, wie sie zu keinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte bestanden hat. Dazu kommt, daß die suggestive Wirkung einer fest geglaubten Doktrin mit der Zahl ihrer Anhänger wächst, vielleicht sogar in geometrischer Proportion. Schon heute wird mancherorts ein Individuum, das sich der Wirkung der Massenmedien, z. B. des Fernsehens, bewußt entzieht, als pathologisch betrachtet. Die ent-individualisierenden Effekte sind allen jenen willkommen, die große Menschenmassen manipulieren wollen. Meinungsforschung, Werbetechnik und geschickt gesteuerte Mode helfen den Großproduzenten diesseits und den Funktionären jenseits des Eisernen Vorhanges zu gleichartiger Macht über die Massen.
( 8 ) Die Aufrüstung der Menschheit mit Kernwaffen beschwört Gefahren für die Menschheit herauf, die leichter zu vermeiden sind als jene, die den vorher besprochenen sieben Vorgängen entspringen.
Den im ersten bis siebenten Abschnitt besprochenen Vorgängen der Dehumanisierung leistet die pseudodemokratische Doktrin Vorschub, welche besagt, daß das soziale und moralische
Verhalten des Menschen überhaupt nicht durch die stammesgeschichtlich evolvierte Organisation seines Nervensystems und seiner Sinnesorgane bestimmt, sondern ausschließlich durch die »Konditionierung« beeinflußt wird, der er im Laufe seiner Ontogenese durch seine jeweilige kulturelle Umwelt unterliegt."