Sloterdijk Peter: Der Kontinent ohne Eigenschaften

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Lesezeichen im Buch Europa, Suhrkamp 2024

Der Suhrkamp-Verlag schreibt über das jüngste Buch des Philosophen: „Über Europa sind viele Bonmots und Untergangsdiagnosen im Umlauf. Man wisse nicht, unter welcher Nummer man Europa erreichen könne, seine Bewohner seien dekadent, der Halbkontinent, der einst den »Rest der Welt« kolonisierte, sei nun seinerseits in den Rest geraten etc.

Sloterdijk Kontinent Cover

Doch wie im Fall Mark Twains erweisen sich Nachrichten vom Ableben der »Alten Welt« regelmäßig als stark übertrieben. Gleichwohl sind sich die Europäer ihrer Eigenschaften nicht mehr sicher: »Sie wissen nicht, woher sie kommen, erst recht nicht, wohin die Reise geht.« Um Orientierung zu stiften, blättert Peter Sloterdijk im Buch Europa einige Lesezeichen auf, etwa das des Kulturphilosophen Eugen Rosenstock-Huessy, der die »Autobiografie des westlichen Menschen« als Sequenz politischer Revolutionen erzählte. Sloterdijk öffnet auch das »Buch der Geständnisse«, aus dem sich ein bezeichnender Geist der Selbstkritik erklärt. Und er zitiert aus dem »Buch der Ausdehnungen«, das Europas Missionen im Zeitalter der nautischen Globalisierung illustriert.

Was ist Europa also? Jedes Gemeinwesen, das sich in der Tradition Roms sieht? Ein sich selbst verstärkender Lernzusammenhang? Das wahre Europa, so Sloterdijk, findet sich überall dort, wo die schöpferischen Leidenschaften denen des Ressentiments den Rang abgelaufen haben.“


Sloterdijks Dramaturgie: Re-Inszenierung

In seiner Tours d’Horizon durch Europa der Neuzeit führt Sloterdijk die Leser (die man heute gendern oder politisch korrekt „die Lesenden“ zu nennen hat) zu bekannten, aber auch zu entlegenen Quellen, von denen er insgesamt 295 zitiert. Bei einem dutzend „Büchern“ (als Gleichnis für Betrachtungsweisen und Interpretationen historischer Phänomene und Entwicklungen) verweilt er länger und hinterlegt dort ein Lesezeichen. So kann man ihm nicht vorhalten, er habe das eine oder andere Thema nur oberflächlich gestreift, denn jedes Lesezeichen bleibt als Mahnung an den aufgeklärten Leser, sich seines eigenen Verstandes zur weiteren Vertiefung des Themas zu bedienen. Kants „sapere aude“ liegt nahe, im „Kant-Jahr 2024“ zu nahe, als dass Sloterdijk sich bemüßigt fühlte, es zu zitieren.

Die rhetorische Frage von Jacques Derrida (1930-2004), ob es Europa jemals gegeben habe, beantwortet Sloterdijk mit einer programmatischen Erklärung: „es wird darum gehen, Begriffe für ein politisches und kulturelles Novum zu bilden, dessen Existenz unter großteils noch unbekannten Vorzeichen steht: Begriffe für einen Kontinent ohne Eigenschaften.“ Der „Kontinent ohne Eigenschaften“ ist ein Gleichnis für „Europa“, das sich seit der Kolonialisierung des „Rests der Welt“ als „Zentrum der Welt“, als „Westen“ (Okzident im Gegensatz zum Orient) konstituiert hat. Seine Wurzeln hat dieses Europa (er, sie oder es? - eine Frage, für die es heute Gender-Studies gibt) im imperium romanum. „Europa verstehen bedeutet daher zunächst: die Metamorphosen eines Gebildes verstehen, in dessen Zentrum die imperative Funktion Roms am Werk blieb.“ (37) Im Gegensatz zu seinem "kulturellen Novum" betrachtet Sloterdijk die "Meditationen" von Derrida als "Meisterwerk der Undeutlichkeit - es bildete den Versuch, hypothetische Imperative und preziöse Konjunktive als formale Garanten der historisch gebotenen Umsicht und Vorsicht zu präsentieren." (26)

Sloterdijk lehnt die klassische philosophische Betrachtungsweise ab, die Wesen, Essenz oder das Substanzielle eines Sachverhalts oder Phänomens zu ergründen sucht: „wir bekennen uns zu der Notwendigkeit, dass, wenn man von Europa reden will, ein Übergang von essentialistischen oder substantialistischen zum dramaturgischen oder szenographischen Denken zu vollziehen ist.“ (32) Deshalb statuiert er „ohne weitere Herleitung [...]: Aus dramaturgischer Sicht ist Europa das Wirkungsgebiet von Re-Inszenierungen römischer Befehlssysteme. Aus diesen sind – mit einer Verspätung von eintausend Jahren und mehr – die neuzeitlichen europäischen ‚Staaten‘ hervorgegangen.“ (37)

Jede Inszenierung braucht einen Regisseur, was heute weit verbreiteten Verschwörungstheorien Vorschub leisten könnte, wonach Fädenzieher im „tiefen Staat“ die Politiker in der Öffentlichkeit zu ihren „Hampelmännern“ degradieren. Solche Betrachtungsweisen lehnt Sloterdijk ab; die einzigen Regisseure, die er anerkennt, sind Autoren, die ihre „Regieanleitungen“ in umfangreichen Büchern vor uns ausbreiten. Zwar streift Sloterdijk an das Bonmot „die ganze Welt ist Bühne“ (67) aus dem Shakespeare-Drama „Wie es euch gefällt“, doch für ihn ist das Drama selbst nicht von Bedeutung (Krieg oder Frieden, Überfluss oder Hungersnot, Liebe oder Intrige, Fortschritt oder Rückschritt), sondern nur die Dramaturgie, die Lehre von der Inszenierung des Dramas. Bedeutend ist nicht was, sondern wie wir erzählen (sollen).

Aus dieser Sicht widmet sich Sloterdijk ausführlich den Hauptwerken von Oswald Spengler (1880-1936), „Der Untergang des Abendlandes“, das ebenso gut auch den Titel „Die Vollendung des Abendlandes“ tragen hätte können, sowie Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973), „Out of Revolution“ mit dem Untertitel „Autobiography of Western Man.“

Das titelgebende Werk „Der Mann ohne Eigenschaften“ (MoE) von Robert Musil (1880-1942) zitiert Sloterdijk nur beiläufig aphoristisch. In der Arbeit „Robert Musil als Philosoph“ wurde die philosophische Essenz des MoE untersucht und die Methode Musils als „Essayismus“ bezeichnet. So wie Musil die K.u.K.-Monarchie als Rahmen für seine Betrachtungen verwendet, so Sloterdijk Europa für seine. Dabei gibt es naturgemäß Überschneidungen zu Miusils Themen, aber auch zu seiner Methode; Sloterdijks Vorlesungen, die im vorliegenden Band versammelt sind, könnte man als „Essays“ bezeichnen. Besser jedoch trifft der Begriff „Extempore“ Sloterdijks schriftstellerische Methode: das freie Improvisieren über ein Thema ist wichtiger als das jeweilige Thema selbst. Der Essay dagegen untersucht sein Thema so breit und tief wie möglich, auch wenn er es nicht systematisch er- oder begründet.

„Musil als Philosoph“ verweist darauf, dass der Autor des MoE Philosophie in Dichtung verpackt. „Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen“, heißt es im MoE. Sloterdijk extemporiert: „Der Fin-de-siècle-Akkord aus schleichendem Lebensüberdruß [sic! Sloterdijk verweigert die „neue Rechtschreibung“] und technischer Bravour verschaffte sich allenthalben Gehör; […] Über der erstaunten Hauptstadt der Franzosen ragte der Eiffelturm empor, pünktlich zur Jahrhundertfeier der Französischen Revolution in Auftrag gegeben, als solle er das letzte Wort Europas sprechen, was sein konstruktives Wollen und Können betraf. […] Man leistete sich Kolonien und Migränen, indes man ahnte, beides würde früher oder später ausmünden in das, was man nicht anders als unhaltbare Zustände nennen konnte.“ (17)

Abgesehen von seinem Tagebuch und hunderten Briefen (teilweise literarisch verdichtete Bettelbriefe des Autors, der ständig unter finanziellen Nöten litt) hat Robert Musil die zweite Hälfte seines Lebens nur an seinem epochalen Roman MoE geschrieben, der letztlich unvollendet geblieben ist. „Die Unvollendete“ als Gegenentwurf zur „Vollendung des Abendlandes“ und zur Re-Inszenierung der „Revolution“ als conditio humana des westlichen Menschen wäre interessant gewesen. Aus Sicht eines Autors wie Sloterdijk, der dem Suhrkamp-Verlag seit den 1980ern jedes Jahr ein neues Druckwerk abliefert, geradezu undenkbar. Die jährliche Vollendung seines Bestsellers ist so alternativlos wie die pünktliche Wiederkehr der Frankfurter Buchmesse jeden Herbst. Das Phänomen dahinter hat Sloterdijk im vorliegenden Werk aufgedeckt: es ist das Reputationskapital.


Sloterdijks Erfolgsgeheimnis: Reputationskapital

„Die wirkliche Neuzeit begann, wie [Jakob] Burckhardt zeigte [in: Die Kultur der Renaissance in Italien, 1860], mit der Modernisierung der Zelebrität. Man kann sie als Ingangsetzung eines Wachstumszyklus begreifen, in dem ein erstes, wie auch immer gewonnenes Reputationskapital weitere Reputationsgewinne generiert. Die neuen Stars der Gelehrsamkeit der Dichtung, der Rhetorik, der bildenden Künste und der Musik stiften den Anfangsimpuls eines Zusammenhangs, den man noch nach siebenhundert Jahren als ein komplexes Kontinuum europäischer Individualitätskultur identifiziert.“ (68)

„Die frohe Botschaft der Neuzeit heißt: Du mußt nicht adelig geboren sein, um Ruhm zu gewinnen!“ (60) Hier ist ist es nicht weit zum Evangelium des Matthäus, insbesondere zum Gleichnis von den Talenten, wo es für traditionelle Christen unverständlich heißt: „Alles soll dem gegeben werden, der hat, und er wird Fülle haben; und dem, der nicht hat, dem soll genommen werden, was er hat.“ (70) Ein Verweis auf Robert K. Merton, der über den „Matthäus-Effekt“ gesprochen hat, darf nicht fehlen, denn dies sei „für den religiös unbefangenen Leser eine stimulierende Lektion“.

Es sei dahin gestellt, ob Sloterdijk bewusst oder unbewusst mit diesen Ausführungen sein Selbstbildnis gezeichnet hat. Dass ihn die Massenmedien reflexartig als „Starphilosophen“ titulieren, wann immer sie ihn unterwürfig um seine Wortspenden bitten, bestätigt jedenfalls, wie zutreffend die Ausführungen über das „Reputationskapital“ sind.

Die „europäische Individualitätskultur“, die Befreiung des „Reputationskapitals“ vom Adel, verleitet Sloterdijk zur einer Eloge auf Europa: „Europas wichtigste psychokulturelle Erfindung ist demnach nicht der Lehrer, […] sondern der Student, bei dem es gelingt, Demut und Ambition gleichzeitig zu aktivieren. Während Demut ohne Ambition Subalerternität ergibt, führt Ambition ohne Demut in den Kulturbetrieblichen Narzißmus,“ […] Wo Ambition, Demut und Talent zusammenfanden, traten die von Nietzsche beschworenen ‚guten Europäer‘ in Erscheinung – eine minoritäre Gruppe seit jeher. […] Gute Europäer waren es, die zeigten, wie zu verfahren sei, damit es bei der Gestaltung des Rechtswesens vorangeht, um die für die sensible Intelligenz von alters her peinliche Lücke zwischen der faktischen Rechtsgewalt und den Idealen der Gerechtigkeit zu verkleinern. (73)

Wo Sloterdijk in Europa der Neuzeit bzw. in der EU der Gegenwart diese „guten Europäer“ und insbesondere, wo und wann er Manifestationen von deren segensreichen Wirken gefunden hat, diese Frage bleibt unbeantwortet. In nicht dialektischer, aber typisch assoziativer Manier schwenkt er statt dessen um: „Die guten Schüler Europas machten es sich zur Gewohnheit, das Gewohnte zu rezipieren, um darüber hinauszugehen. Dennoch ist zuzugeben, dass in dem dunklen 14. Jahrhundert und in der Epoche der Eroberungen vom 16. Jahrhundert an schreckliche Abkömmlinge der entstehenden Nationen in Erscheinung traten; sie bewirkten Effekte, die an Grausamkeit den asiatischen Despotien nicht nachstanden“.

Er sieht auch „die in Europa einheimische Europhobie“. (16) Wie aus der Feder von Robert Musil formuliert Sloterdijk: „Quasi definitorisch darf man sagen, dass das Europa, das wir auf Anhieb erkennen, sobald von ihm die Rede ist, in dem Moment entstand, in dem es begann, sich zu mißfallen.“ (19) Daraus resultiert: „Der durchschnittlich Europäer von heute, der mit seinem nicht immer unberechtigten Groll gegen die oft undurchsichtigen, nahezu extraterrestrischen Vorgänge in Brüssel und Straßburg vor sich hin lebt, ohne die Prämissen seines Daseins zu bedenken, ist die Inkarnation der Undankbarkeit.“ (29)

Der überdurchschnittliche, von Universitäten und Institutionen viel gefragte und gerühmte Musterschüler Europas hält dagegen in Dankbarkeit: „Wir wollen im folgenden den Versuch machen, dem Geist der Undankbarkeit ein wenig das Wasser abzugraben. Dabei gehen wir von der Annahme aus, Undankbarkeit sei nur ein Synonym für Unbelesenheit und ein heilbares Symptom derselben. Wir definieren Europa hier als ein Buch, das von denen, die es angeht, zu wenig gelesen wird, und in dem seine Hasser nur blättern, um ihre Anklagen zu dokumentieren“ (29)


Sloterdijks Ressentiment: Russland

„Die guten Schüler Europas machten es sich zur Gewohnheit, das Gewohnte zu rezipieren, um darüber hinauszugehen. Dennoch ist zuzugeben, dass in dem dunklen 14. Jahrhundert und in der Epoche der Eroberungen vom 16. Jahrhundert an schreckliche Abkömmlinge der entstehenden Nationen in Erscheinung traten; sie bewirkten Effekte, die an Grausamkeit den asiatischen Despotien nicht nachstanden“.

Nation Building war ein Phänomen des 19. Jahrhunderts, trotzdem schafft es Sloterdijk, „schreckliche Abkömmlinge [Anm: nicht etwa Vorfahren!] der entstehenden Nationen“ im 14. und 16. Jahrhundert ausfindig zu machen, die nicht weiter definierte „Effekte bewirken“, von denen nur soviel klar ist, dass sie „an Grausamkeit den asiatischen Despotien nicht nachstanden“. Von den asiatischen Despotien ist der Weg nicht weit nach Moskau. Aus der Einstellung Sloterdijks folgt: Alle Wege (des Bösen) führen ins dritte Rom.

Über die Bildung der Nationen im 19. Jahrhundert schrieb Egon Friedell (1878-1938) ausführlich in der „Kulturgeschichte der Neuzeit“ (die Sloterdijk nicht erwähnenswert findet). Goethe/Schiller/Lessing, die späteren „Nationaldichter“, waren Kritiker der Ideen einer „deutschen Nation“ und einer einheitlichen, deutschen National-Sprache. Ludwig Wittgenstein (1889-1951) schrieb im berühmten Tractatus (den Sloterdijk nicht erwähnenswert findet): „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.

Russisch zählt nicht zu den Sprachen, die Sloterdijk spricht; damit steht er nicht alleine da. Schlimm ist lediglich, dass er sich nicht im geringsten bemüht, Russisch und Russland zu verstehen, denn schon vorab steht fest, wo Russland zu verorten ist: im Reich der „asiatischen Despotien“. Auch wenn Sloterdijk die Schwächen Europas erwähnt, so bleiben diese in seinem Buch nur Randbemerkungen. Im Mittelpunkt steht die Hymne auf Europa, das umso heller leuchtet, je dunkler der russische Hintergrund ist, von dem es sich abgrenzt und abhebt.

Der Weg von der Europhobie zum EU-Hass führt über das Ressentiment. Niemand Geringerer als der russische Dichter Fjodor Dostojewskij (1821-1881) habe „das Ressentiment auf die Bühne der Weltliteratur katapultiert“ (28), ist Sloterdijk überzeugt. Das Ressentiment gegen Russland hat zwar nicht Sloterdijk auf die Weltbühne katapultiert, aber er hat alles getan, um es zu befeuern, in einer Sprache voller Abneigung und Hass, im Fahrwasser der gängigen Kriegspropaganda der EU-Politiker und europäischen Massenmedien.

„Die schiefe Front zwischen dem Fake-Imperium Rußland und dem noch unverstandenen nach-imperialen politischen Großgebilde im Westen namens Europäische Union wartet auf eine adäquate Analyse.“ (60) Eine ausgewogene, adäquate Analyse darf man vom Meisterdenker des Westens nicht erwarten, dafür jedoch jede Menge Urteile und Vorurteile über Russland, beginnend damit, dass es sich bei allem Russischen nur um „Fake“ handle, während alles Europäische auf „Fakten“ basiert.

Ohne Bezug auf ein Urteil anderer Geistesgrößen doziert Sloterdijk als letzte, höchste Instanz: „Seine [Russlands] wirkliche Lage ist sehr viel schlimmer, als das präpotente Agieren seiner Regierung vermuten ließe. Infolge seines Rückfalls in seine inhaltlose Imperialität manövrierte es sich in eine Lage, durch die es sich zum Paria unter den Nationen stempelt. Die versuchte retranslatio imperii ins postsowjetische Moskau verschafft ihren Dramaturgen keinen Glanz – es bringt sie in die Position eines Vasallen Chinas.“ (60) Also sprach Sloterdijk als intellektueller Leuchtturm der EU, die sich schon längst in die Position eines USA-Vasallen gebracht hat. Für jene unbelesenen Europäer, die schöngeistige Literatur nicht verstehen, bringt Sloterdijk diesen Gedanken in die Sprache der Propagandisten: Es solle uns nicht beirren, „dass der Halbkadaver des imperialen Rußlands von den Konvulsionen des Wiedererwachens durchzittert werden könnte, nachdem er sich 69 Jahre lang unter sowjetischer Hüllte totgestellt hatte“ (25).

Mit dem Begriff der „Zivilisation“, der gleichzeitig mit dem Begriff der „Nation“ erwachte, beschäftigte sich auch Nikolaj Danilewski (1822-1885) in seinem Buch „Russland und Europa“, das 1871 erschienen ist. Der Mentor der Slawophilen verortet die Zivilisation „als ein Produkt der europäischen Sphäre“, doch, welch Schande: „Nichtsdestoweniger weigerte er sich zuzugeben, dass die romanisch-germanischen Definitionen von ‚Zivilisation‘ den möglichen Sinnumfang des Ausdrucks vollständig erfaßten“, (265) entrüstet sich Sloterdijk. Den Alleinvertretungsanspruch auf Zivilisation haben demnach die Sieger der beiden Weltkriege, denn nur sie seien imstande die Welt zu zivilisieren. Im Duktus des Verharmlosers: „sie [die Sieger der Weltkriege] sollten imstande sein zu zeigen, dass sie es in zivilisatorischer Perspektive verdienten, die Erfolgreicheren zu sein. Sie zeigen es, indem sie ihren modus vivendi zur freiwilligen Nachahmung vorschlagen.“ (264)

Was den „Siegern“ zusteht, ihr Verständnis von „Zivilisation“ auf den Bühnen dieser Welt zu inszenieren, kann man weder russischen Autoren, noch russischen Politikern zugestehen. Quod licet Jovi, non licet bovi – so die Re-Inszenierung dessen, was man heute als „Doppelmoral“ bezeichnet, oder vielmehr nicht bezeichnet, da diese Doppelmoral als allgemein gültige Haltung der Politik, und in ihrem Gefolge der Massenmedien zur europäischen conditio humana geworden ist.

Als Zeugen des russischen Europa-Hasses (was gleichbedeutend mit Zivilisations-Hass ist) dient eine Figur aus dem Roman „Der Ausgelöschte“ des britischen Autors Rudyard Kipling (1865-1936). Einen russischen Offizier dieses Romans identifiziert Sloterdijk als „verirrten Danilewskianer“, der „den Briten und ihresgleichen den Tod“ wünschte. Mehr noch: „In ein betrunkenes Orakel verwandelt, legte der entfesselte Russe den antiwestlichen Zivilisatioinshaß der slawistischen Bewegung offen“ (271).

Nachschlag: „Auf sinnverwandte Weise verlieh zur selben Zeit auch Fjodor Dostojewskij seinem erbitterten Haß gegen alles Westliche literarischen Ausdruck.“ (267)

Ein abschließender Kreis von Russland-Ressentiments führt vom Bonmot des Mönchs Filofei aus dem 16. Jahrhundert, der Moskau als „drittes Rom“ bezeichnete, bis zu zeitgenössischen Abwegen franco-russischer Freundschaften. Über das „Dritte Rom“ fällt Sloterdijk ein gnadenloses Urteil: „Wenn es zu Beginn noch mit religiösen Akzenten hervortrat, wurde es bald danach nur noch vom zwanghaften Elan einer so maßlosen wie grobschlächtigen Großreichsbildung getrieben.“ (14) Mit seinem abschließenden Urteil über Russland will er wohl seine intellektuelle Unabhängigkeit demonstrieren, und zwar mit einem Seitenhieb auf das Gastland, in dem Sloterdijk die vorliegenden Lektionen zum Besten geben durfte: „Die herkömmliche Pflege der franco-russischen Freundschaft, ohne welche die französische Linke sich vormals kaum denken ließ, ist – seit Putins Willen zur Zerstörung der Ukraine sich offen gezeigt hat – zu einer Peinlichkeit geworden, für die sich nur noch wenige Aktuere hergeben.“ (135)

Eine Peinlichkeit, für die sich viele Wissenschafter hergegeben haben und immer noch hergeben, ist die hasserfüllte Antirusslandpropaganda auf den Tribünen der europäischen Universitäten, gebündelt im „Schwarzbuch Russland“, herausgegeben von den Franzosen Stéphane Courtois und Galia Ackerman.


Resümee

Die ganze Welt ist Bühne, aber nicht jedes Drama kann zur Aufführung gelangen - zumindest nicht an den Nationaltheatern Europas. So bleiben in Sloterdijks deutsch-französischer Re-Inszenierung Europas österreichische Dichter-Philosophen wie Robert Musil, Ludwig Wittgenstein und Egon Friedell einfach ausgeklammert, worüber sich letzterer in seiner Satire „Die österreichische Seele“ schon zu Lebzeiten amüsiert hat. Das ist verzeihlich.

Unverzeihlich sind Sloterdijks Anbiederung an die EU und seine rational unkontrollierten Hass-Attacken gegen Russland. Der Meister des Essays, der bereits 1993 den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik und 1999 den Friedrich-Märker-Preis für Essayistik erhielt, der einzigartig als Meister des Extempore brilliert, verkommt – allein schon beim Gedanken an Russland, dessen Sprache er nicht spricht, umso mehr wenn er sich dem Land schriftstellerisch nähert – zum Schwadroneur.

Robert Musil wollte mit dem „Mann ohne Eigenschaften“ einen "Beitrag zur Bewältigung der Welt" leisten. Welchen Beitrag leistet Peter Sloterdijk mit dem „Kontinent ohne Eigenschaften“? Sapere aude!

Mina LaVerde Moral

© Bild: Mina La Verde, „Die Moral von der Geschicht“, frei nach Brecht weiter gedacht: ohne Wissen geht es nicht, oder in der Politik gibt es sie nicht!