Sloterdijks Dramaturgie: Re-Inszenierung
In seiner Tours d’Horizon durch Europa der Neuzeit führt Sloterdijk die Leser (die man heute gendern oder politisch korrekt „die Lesenden“ zu nennen hat) zu bekannten, aber auch zu entlegenen Quellen, von denen er insgesamt 295 zitiert. Bei einem dutzend „Büchern“ (als Gleichnis für Betrachtungsweisen und Interpretationen historischer Phänomene und Entwicklungen) verweilt er länger und hinterlegt dort ein Lesezeichen. So kann man ihm nicht vorhalten, er habe das eine oder andere Thema nur oberflächlich gestreift, denn jedes Lesezeichen bleibt als Mahnung an den aufgeklärten Leser, sich seines eigenen Verstandes zur weiteren Vertiefung des Themas zu bedienen. Kants „sapere aude“ liegt nahe, im „Kant-Jahr 2024“ zu nahe, als dass Sloterdijk sich bemüßigt fühlte, es zu zitieren.
Die rhetorische Frage von Jacques Derrida (1930-2004), ob es Europa jemals gegeben habe, beantwortet Sloterdijk mit einer programmatischen Erklärung: „es wird darum gehen, Begriffe für ein politisches und kulturelles Novum zu bilden, dessen Existenz unter großteils noch unbekannten Vorzeichen steht: Begriffe für einen Kontinent ohne Eigenschaften.“ Der „Kontinent ohne Eigenschaften“ ist ein Gleichnis für „Europa“, das sich seit der Kolonialisierung des „Rests der Welt“ als „Zentrum der Welt“, als „Westen“ (Okzident im Gegensatz zum Orient) konstituiert hat. Seine Wurzeln hat dieses Europa (er, sie oder es? - eine Frage, für die es heute Gender-Studies gibt) im imperium romanum. „Europa verstehen bedeutet daher zunächst: die Metamorphosen eines Gebildes verstehen, in dessen Zentrum die imperative Funktion Roms am Werk blieb.“ (37) Im Gegensatz zu seinem "kulturellen Novum" betrachtet Sloterdijk die "Meditationen" von Derrida als "Meisterwerk der Undeutlichkeit - es bildete den Versuch, hypothetische Imperative und preziöse Konjunktive als formale Garanten der historisch gebotenen Umsicht und Vorsicht zu präsentieren." (26)
Sloterdijk lehnt die klassische philosophische Betrachtungsweise ab, die Wesen, Essenz oder das Substanzielle eines Sachverhalts oder Phänomens zu ergründen sucht: „wir bekennen uns zu der Notwendigkeit, dass, wenn man von Europa reden will, ein Übergang von essentialistischen oder substantialistischen zum dramaturgischen oder szenographischen Denken zu vollziehen ist.“ (32) Deshalb statuiert er „ohne weitere Herleitung [...]: Aus dramaturgischer Sicht ist Europa das Wirkungsgebiet von Re-Inszenierungen römischer Befehlssysteme. Aus diesen sind – mit einer Verspätung von eintausend Jahren und mehr – die neuzeitlichen europäischen ‚Staaten‘ hervorgegangen.“ (37)
Jede Inszenierung braucht einen Regisseur, was heute weit verbreiteten Verschwörungstheorien Vorschub leisten könnte, wonach Fädenzieher im „tiefen Staat“ die Politiker in der Öffentlichkeit zu ihren „Hampelmännern“ degradieren. Solche Betrachtungsweisen lehnt Sloterdijk ab; die einzigen Regisseure, die er anerkennt, sind Autoren, die ihre „Regieanleitungen“ in umfangreichen Büchern vor uns ausbreiten. Zwar streift Sloterdijk an das Bonmot „die ganze Welt ist Bühne“ (67) aus dem Shakespeare-Drama „Wie es euch gefällt“, doch für ihn ist das Drama selbst nicht von Bedeutung (Krieg oder Frieden, Überfluss oder Hungersnot, Liebe oder Intrige, Fortschritt oder Rückschritt), sondern nur die Dramaturgie, die Lehre von der Inszenierung des Dramas. Bedeutend ist nicht was, sondern wie wir erzählen (sollen).
Aus dieser Sicht widmet sich Sloterdijk ausführlich den Hauptwerken von Oswald Spengler (1880-1936), „Der Untergang des Abendlandes“, das ebenso gut auch den Titel „Die Vollendung des Abendlandes“ tragen hätte können, sowie Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973), „Out of Revolution“ mit dem Untertitel „Autobiography of Western Man.“
Das titelgebende Werk „Der Mann ohne Eigenschaften“ (MoE) von Robert Musil (1880-1942) zitiert Sloterdijk nur beiläufig aphoristisch. In der Arbeit „Robert Musil als Philosoph“ wurde die philosophische Essenz des MoE untersucht und die Methode Musils als „Essayismus“ bezeichnet. So wie Musil die K.u.K.-Monarchie als Rahmen für seine Betrachtungen verwendet, so Sloterdijk Europa für seine. Dabei gibt es naturgemäß Überschneidungen zu Miusils Themen, aber auch zu seiner Methode; Sloterdijks Vorlesungen, die im vorliegenden Band versammelt sind, könnte man als „Essays“ bezeichnen. Besser jedoch trifft der Begriff „Extempore“ Sloterdijks schriftstellerische Methode: das freie Improvisieren über ein Thema ist wichtiger als das jeweilige Thema selbst. Der Essay dagegen untersucht sein Thema so breit und tief wie möglich, auch wenn er es nicht systematisch er- oder begründet.
„Musil als Philosoph“ verweist darauf, dass der Autor des MoE Philosophie in Dichtung verpackt. „Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen“, heißt es im MoE. Sloterdijk extemporiert: „Der Fin-de-siècle-Akkord aus schleichendem Lebensüberdruß [sic! Sloterdijk verweigert die „neue Rechtschreibung“] und technischer Bravour verschaffte sich allenthalben Gehör; […] Über der erstaunten Hauptstadt der Franzosen ragte der Eiffelturm empor, pünktlich zur Jahrhundertfeier der Französischen Revolution in Auftrag gegeben, als solle er das letzte Wort Europas sprechen, was sein konstruktives Wollen und Können betraf. […] Man leistete sich Kolonien und Migränen, indes man ahnte, beides würde früher oder später ausmünden in das, was man nicht anders als unhaltbare Zustände nennen konnte.“ (17)
Abgesehen von seinem Tagebuch und hunderten Briefen (teilweise literarisch verdichtete Bettelbriefe des Autors, der ständig unter finanziellen Nöten litt) hat Robert Musil die zweite Hälfte seines Lebens nur an seinem epochalen Roman MoE geschrieben, der letztlich unvollendet geblieben ist. „Die Unvollendete“ als Gegenentwurf zur „Vollendung des Abendlandes“ und zur Re-Inszenierung der „Revolution“ als conditio humana des westlichen Menschen wäre interessant gewesen. Aus Sicht eines Autors wie Sloterdijk, der dem Suhrkamp-Verlag seit den 1980ern jedes Jahr ein neues Druckwerk abliefert, geradezu undenkbar. Die jährliche Vollendung seines Bestsellers ist so alternativlos wie die pünktliche Wiederkehr der Frankfurter Buchmesse jeden Herbst. Das Phänomen dahinter hat Sloterdijk im vorliegenden Werk aufgedeckt: es ist das Reputationskapital.