Sloterdijk Peter: Der Kontinent ohne Eigenschaften - Ressentiment

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Sloterdijks Ressentiment: Russland

„Die guten Schüler Europas machten es sich zur Gewohnheit, das Gewohnte zu rezipieren, um darüber hinauszugehen. Dennoch ist zuzugeben, dass in dem dunklen 14. Jahrhundert und in der Epoche der Eroberungen vom 16. Jahrhundert an schreckliche Abkömmlinge der entstehenden Nationen in Erscheinung traten; sie bewirkten Effekte, die an Grausamkeit den asiatischen Despotien nicht nachstanden“.

Nation Building war ein Phänomen des 19. Jahrhunderts, trotzdem schafft es Sloterdijk, „schreckliche Abkömmlinge [Anm: nicht etwa Vorfahren!] der entstehenden Nationen“ im 14. und 16. Jahrhundert ausfindig zu machen, die nicht weiter definierte „Effekte bewirken“, von denen nur soviel klar ist, dass sie „an Grausamkeit den asiatischen Despotien nicht nachstanden“. Von den asiatischen Despotien ist der Weg nicht weit nach Moskau. Aus der Einstellung Sloterdijks folgt: Alle Wege (des Bösen) führen ins dritte Rom.

Über die Bildung der Nationen im 19. Jahrhundert schrieb Egon Friedell (1878-1938) ausführlich in der „Kulturgeschichte der Neuzeit“ (die Sloterdijk nicht erwähnenswert findet). Goethe/Schiller/Lessing, die späteren „Nationaldichter“, waren Kritiker der Ideen einer „deutschen Nation“ und einer einheitlichen, deutschen National-Sprache. Ludwig Wittgenstein (1889-1951) schrieb im berühmten Tractatus (den Sloterdijk nicht erwähnenswert findet): „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.

Russisch zählt nicht zu den Sprachen, die Sloterdijk spricht; damit steht er nicht alleine da. Schlimm ist lediglich, dass er sich nicht im geringsten bemüht, Russisch und Russland zu verstehen, denn schon vorab steht fest, wo Russland zu verorten ist: im Reich der „asiatischen Despotien“. Auch wenn Sloterdijk die Schwächen Europas erwähnt, so bleiben diese in seinem Buch nur Randbemerkungen. Im Mittelpunkt steht die Hymne auf Europa, das umso heller leuchtet, je dunkler der russische Hintergrund ist, von dem es sich abgrenzt und abhebt.

Der Weg von der Europhobie zum EU-Hass führt über das Ressentiment. Niemand Geringerer als der russische Dichter Fjodor Dostojewskij (1821-1881) habe „das Ressentiment auf die Bühne der Weltliteratur katapultiert“ (28), ist Sloterdijk überzeugt. Das Ressentiment gegen Russland hat zwar nicht Sloterdijk auf die Weltbühne katapultiert, aber er hat alles getan, um es zu befeuern, in einer Sprache voller Abneigung und Hass, im Fahrwasser der gängigen Kriegspropaganda der EU-Politiker und europäischen Massenmedien.

„Die schiefe Front zwischen dem Fake-Imperium Rußland und dem noch unverstandenen nach-imperialen politischen Großgebilde im Westen namens Europäische Union wartet auf eine adäquate Analyse.“ (60) Eine ausgewogene, adäquate Analyse darf man vom Meisterdenker des Westens nicht erwarten, dafür jedoch jede Menge Urteile und Vorurteile über Russland, beginnend damit, dass es sich bei allem Russischen nur um „Fake“ handle, während alles Europäische auf „Fakten“ basiert.

Ohne Bezug auf ein Urteil anderer Geistesgrößen doziert Sloterdijk als letzte, höchste Instanz: „Seine [Russlands] wirkliche Lage ist sehr viel schlimmer, als das präpotente Agieren seiner Regierung vermuten ließe. Infolge seines Rückfalls in seine inhaltlose Imperialität manövrierte es sich in eine Lage, durch die es sich zum Paria unter den Nationen stempelt. Die versuchte retranslatio imperii ins postsowjetische Moskau verschafft ihren Dramaturgen keinen Glanz – es bringt sie in die Position eines Vasallen Chinas.“ (60) Also sprach Sloterdijk als intellektueller Leuchtturm der EU, die sich schon längst in die Position eines USA-Vasallen gebracht hat. Für jene unbelesenen Europäer, die schöngeistige Literatur nicht verstehen, bringt Sloterdijk diesen Gedanken in die Sprache der Propagandisten: Es solle uns nicht beirren, „dass der Halbkadaver des imperialen Rußlands von den Konvulsionen des Wiedererwachens durchzittert werden könnte, nachdem er sich 69 Jahre lang unter sowjetischer Hüllte totgestellt hatte“ (25).

Mit dem Begriff der „Zivilisation“, der gleichzeitig mit dem Begriff der „Nation“ erwachte, beschäftigte sich auch Nikolaj Danilewski (1822-1885) in seinem Buch „Russland und Europa“, das 1871 erschienen ist. Der Mentor der Slawophilen verortet die Zivilisation „als ein Produkt der europäischen Sphäre“, doch, welch Schande: „Nichtsdestoweniger weigerte er sich zuzugeben, dass die romanisch-germanischen Definitionen von ‚Zivilisation‘ den möglichen Sinnumfang des Ausdrucks vollständig erfaßten“, (265) entrüstet sich Sloterdijk. Den Alleinvertretungsanspruch auf Zivilisation haben demnach die Sieger der beiden Weltkriege, denn nur sie seien imstande die Welt zu zivilisieren. Im Duktus des Verharmlosers: „sie [die Sieger der Weltkriege] sollten imstande sein zu zeigen, dass sie es in zivilisatorischer Perspektive verdienten, die Erfolgreicheren zu sein. Sie zeigen es, indem sie ihren modus vivendi zur freiwilligen Nachahmung vorschlagen.“ (264)

Was den „Siegern“ zusteht, ihr Verständnis von „Zivilisation“ auf den Bühnen dieser Welt zu inszenieren, kann man weder russischen Autoren, noch russischen Politikern zugestehen. Quod licet Jovi, non licet bovi – so die Re-Inszenierung dessen, was man heute als „Doppelmoral“ bezeichnet, oder vielmehr nicht bezeichnet, da diese Doppelmoral als allgemein gültige Haltung der Politik, und in ihrem Gefolge der Massenmedien zur europäischen conditio humana geworden ist.

Als Zeugen des russischen Europa-Hasses (was gleichbedeutend mit Zivilisations-Hass ist) dient eine Figur aus dem Roman „Der Ausgelöschte“ des britischen Autors Rudyard Kipling (1865-1936). Einen russischen Offizier dieses Romans identifiziert Sloterdijk als „verirrten Danilewskianer“, der „den Briten und ihresgleichen den Tod“ wünschte. Mehr noch: „In ein betrunkenes Orakel verwandelt, legte der entfesselte Russe den antiwestlichen Zivilisatioinshaß der slawistischen Bewegung offen“ (271).

Nachschlag: „Auf sinnverwandte Weise verlieh zur selben Zeit auch Fjodor Dostojewskij seinem erbitterten Haß gegen alles Westliche literarischen Ausdruck.“ (267)

Ein abschließender Kreis von Russland-Ressentiments führt vom Bonmot des Mönchs Filofei aus dem 16. Jahrhundert, der Moskau als „drittes Rom“ bezeichnete, bis zu zeitgenössischen Abwegen franco-russischer Freundschaften. Über das „Dritte Rom“ fällt Sloterdijk ein gnadenloses Urteil: „Wenn es zu Beginn noch mit religiösen Akzenten hervortrat, wurde es bald danach nur noch vom zwanghaften Elan einer so maßlosen wie grobschlächtigen Großreichsbildung getrieben.“ (14) Mit seinem abschließenden Urteil über Russland will er wohl seine intellektuelle Unabhängigkeit demonstrieren, und zwar mit einem Seitenhieb auf das Gastland, in dem Sloterdijk die vorliegenden Lektionen zum Besten geben durfte: „Die herkömmliche Pflege der franco-russischen Freundschaft, ohne welche die französische Linke sich vormals kaum denken ließ, ist – seit Putins Willen zur Zerstörung der Ukraine sich offen gezeigt hat – zu einer Peinlichkeit geworden, für die sich nur noch wenige Aktuere hergeben.“ (135)

Eine Peinlichkeit, für die sich viele Wissenschafter hergegeben haben und immer noch hergeben, ist die hasserfüllte Antirusslandpropaganda auf den Tribünen der europäischen Universitäten, gebündelt im „Schwarzbuch Russland“, herausgegeben von den Franzosen Stéphane Courtois und Galia Ackerman.