Sloterdijk Peter: Der Kontinent ohne Eigenschaften - Reputationskapital

Beitragsseiten

Sloterdijks Erfolgsgeheimnis: Reputationskapital

„Die wirkliche Neuzeit begann, wie [Jakob] Burckhardt zeigte [in: Die Kultur der Renaissance in Italien, 1860], mit der Modernisierung der Zelebrität. Man kann sie als Ingangsetzung eines Wachstumszyklus begreifen, in dem ein erstes, wie auch immer gewonnenes Reputationskapital weitere Reputationsgewinne generiert. Die neuen Stars der Gelehrsamkeit der Dichtung, der Rhetorik, der bildenden Künste und der Musik stiften den Anfangsimpuls eines Zusammenhangs, den man noch nach siebenhundert Jahren als ein komplexes Kontinuum europäischer Individualitätskultur identifiziert.“ (68)

„Die frohe Botschaft der Neuzeit heißt: Du mußt nicht adelig geboren sein, um Ruhm zu gewinnen!“ (60) Hier ist ist es nicht weit zum Evangelium des Matthäus, insbesondere zum Gleichnis von den Talenten, wo es für traditionelle Christen unverständlich heißt: „Alles soll dem gegeben werden, der hat, und er wird Fülle haben; und dem, der nicht hat, dem soll genommen werden, was er hat.“ (70) Ein Verweis auf Robert K. Merton, der über den „Matthäus-Effekt“ gesprochen hat, darf nicht fehlen, denn dies sei „für den religiös unbefangenen Leser eine stimulierende Lektion“.

Es sei dahin gestellt, ob Sloterdijk bewusst oder unbewusst mit diesen Ausführungen sein Selbstbildnis gezeichnet hat. Dass ihn die Massenmedien reflexartig als „Starphilosophen“ titulieren, wann immer sie ihn unterwürfig um seine Wortspenden bitten, bestätigt jedenfalls, wie zutreffend die Ausführungen über das „Reputationskapital“ sind.

Die „europäische Individualitätskultur“, die Befreiung des „Reputationskapitals“ vom Adel, verleitet Sloterdijk zur einer Eloge auf Europa: „Europas wichtigste psychokulturelle Erfindung ist demnach nicht der Lehrer, […] sondern der Student, bei dem es gelingt, Demut und Ambition gleichzeitig zu aktivieren. Während Demut ohne Ambition Subalerternität ergibt, führt Ambition ohne Demut in den Kulturbetrieblichen Narzißmus,“ […] Wo Ambition, Demut und Talent zusammenfanden, traten die von Nietzsche beschworenen ‚guten Europäer‘ in Erscheinung – eine minoritäre Gruppe seit jeher. […] Gute Europäer waren es, die zeigten, wie zu verfahren sei, damit es bei der Gestaltung des Rechtswesens vorangeht, um die für die sensible Intelligenz von alters her peinliche Lücke zwischen der faktischen Rechtsgewalt und den Idealen der Gerechtigkeit zu verkleinern. (73)

Wo Sloterdijk in Europa der Neuzeit bzw. in der EU der Gegenwart diese „guten Europäer“ und insbesondere, wo und wann er Manifestationen von deren segensreichen Wirken gefunden hat, diese Frage bleibt unbeantwortet. In nicht dialektischer, aber typisch assoziativer Manier schwenkt er statt dessen um: „Die guten Schüler Europas machten es sich zur Gewohnheit, das Gewohnte zu rezipieren, um darüber hinauszugehen. Dennoch ist zuzugeben, dass in dem dunklen 14. Jahrhundert und in der Epoche der Eroberungen vom 16. Jahrhundert an schreckliche Abkömmlinge der entstehenden Nationen in Erscheinung traten; sie bewirkten Effekte, die an Grausamkeit den asiatischen Despotien nicht nachstanden“.

Er sieht auch „die in Europa einheimische Europhobie“. (16) Wie aus der Feder von Robert Musil formuliert Sloterdijk: „Quasi definitorisch darf man sagen, dass das Europa, das wir auf Anhieb erkennen, sobald von ihm die Rede ist, in dem Moment entstand, in dem es begann, sich zu mißfallen.“ (19) Daraus resultiert: „Der durchschnittlich Europäer von heute, der mit seinem nicht immer unberechtigten Groll gegen die oft undurchsichtigen, nahezu extraterrestrischen Vorgänge in Brüssel und Straßburg vor sich hin lebt, ohne die Prämissen seines Daseins zu bedenken, ist die Inkarnation der Undankbarkeit.“ (29)

Der überdurchschnittliche, von Universitäten und Institutionen viel gefragte und gerühmte Musterschüler Europas hält dagegen in Dankbarkeit: „Wir wollen im folgenden den Versuch machen, dem Geist der Undankbarkeit ein wenig das Wasser abzugraben. Dabei gehen wir von der Annahme aus, Undankbarkeit sei nur ein Synonym für Unbelesenheit und ein heilbares Symptom derselben. Wir definieren Europa hier als ein Buch, das von denen, die es angeht, zu wenig gelesen wird, und in dem seine Hasser nur blättern, um ihre Anklagen zu dokumentieren“ (29)