Politische Ästhetik in der Praxis
ARABMED Kongress am 15. Oktober 2022
Vortrag von Hubert Thurnhofer
Was hat ein Vortrag über Politik und politische Ästhetik auf einem Medizin-Kontress verloren? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich nur auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes "Polis" verweisen, nämlich "Gemeinschaft", "Gesellschaft". So gesehen sind wir alle Polis, Politik findet überall statt, wo Menschen sich zusammenfinden und gemeinsam etwas tun oder gestalten.
Um zum Thema zu kommen, möchte ich auf das Ideal der deutschen Klassiker Goethe, Schiller, Lessing verweisen, die der Überzeugung waren, dass das Wahre, Gute und Schöne eine Einheit bilden. Damit sprechen wir gleichzeitig die drei Abteilungen der Systemphilosophie an: Epistemologie (Frage nach dem Wahren), Ethik (Frage nach dem Guten) und Ästhetik (Frage nach dem Schönen). Nadim Sradj stellt die Ästhethik an die Spitze dieses Systems, ich spreche lieber von einem Netzwerk, in dem sich die einzelnen Disziplinen ergänzen. Es ist nicht unbedeutend, ob ein System als Pyramide oder als Netz betrachtet wird.
Wer nach dem Wahren, Guten und Schönen in der Politik sucht, kann lange suchen und wird nichts finden. Das klingt wie das resignierte Resümee eines gescheiterten Politikers. Aber es steckt mehr dahinter: es geht um Anästhetik und Antiästhetik, die sich in der politischen Praxis von Österreich immer öfter zeigen. Prämisse dieser Betrachtungen ist die Grundlegung, dass die Demokratie wahr, gut und schön ist. In diesem Sinne ist undemokratisch gleichbedeutend mit anästhetisch und antidemokratisch synonym mit antiästhetisch. Dazu drei Beispiele.
1. Die österreichische Verfassung hat einen Umfang von 600 Seiten mit hunderten Zusätzen seit dem Ende des zweiten Weltkrieges. Im Vergleich dazu: die Verfassung Amerikas kommt mit 30 Seiten und rund 20 Verfassungszusätzen aus. Kein Bürger unseres Landes kennt unsere Verfassung; das ist undemokratisch. Die Experten sind der Überzeugung, die "normalen Menschen" können diese Verfassung gar nicht richtig verstehen und interpretieren; das ist antidemokratisch. So haben wir eine Verfassung die nicht als Grundlage unserer Demokratie dienen kann, sondern nur als Grundlage einer Expertokratie. Volkstümlich formuliert: das ist gar nicht schön! Aus ästhetischer Sicht ist klar: nur eine schlanke Verfassung, mit der sich alle Menschen des Landes identifizieren, in der sie verbindliche Grundwerte, Grundrechte und Grundpflichten finden, kann Grundlage einer Demokratie sein.
2. Unser Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat anlässlich einer Regierungsumbildung von der "Schönheit und Eleganz" unserer Verfassung geredet. Das Österreichische Bundesverfassungsgesetz mit Nebenverfassungsrecht (BVG) ist in Wahrheit eine wuchernde Paragrafenkrake. Nur wer sie nicht gelesen hat, kann behaupten, dass sie schön und elegant ist. Van der Bellen hat sie nachweislich nicht gelesen. Natürlich hat er seine Verfassungsexperten in der Präsidentschaftskanzlei. Aber ein Präsident, der die Grundlagen unseres Landes falsch darstellt, sagt - diplomatisch formuliert - nicht die ganze Wahrheit. Dass er sogar bereit ist, zu lügen, um sein Amt zu erhalten, ist weiteres Beispiel für antidemokratische = antiästhetische Politik. So bezeichnet er sich als "unabhängiger " Präsident, obwohl er in zwei Präsidenten-Wahlkämpfen rund sechs Millionen Euro von der Partei der Grünen bekommen hat und bei der diesjährigen Wahl von vier Parteien massiv unterstützt wurde. Die Mehrheit der Österreicher glaubt ihm nicht, mehr aber die Mehrheit der gültigen Stimmen hat ihn wiederum ins Amt gebracht. Die Diskrepanz zwischen Mehrheitsmeinung und Mehrheitsergebnis bei einer Wahl ist undemokratisch = anästhetisch.
3. Der ORF - offiziell: Österreichischer Rundfunk, de facto: Österreichischer Regierungsfunk - ist laut Verfassung zu Objektivität und Ausgewogenheit verpflichtet. Dafür wird der ORF staatlich finanziert und die Mitarbeiter werden fürstlich entlohnt. Und so wird das Gesetz umgesetzt: über die Ankündigung von Van der Bellen, im Oktober 2022 wieder zu kandidieren, hat der ORF stundenlang berichtet, über die Ankündigung meiner Kandidatur hat der ORF keine einzige Sekunde berichtet. Es bestehe "nicht die geringste Veranlassung über die Absicht einer unbekannten Person auch nur ansatzweise zu berichten", so die offizielle Stellungnahme des ORF. Dies ist offensichtlich antidemokratisch und antiästhetisch. Mit der Berichterstattung über Kandidaten aus dem Regierungsumfeld und der Unterdrückung von Informationen über unabhängig Kandidaten hat der ORF auch ein Exempel statuiert. Ein Exempel, das undemokratische = anästhetische Berichterstattung der Anästhesie (dem Einschläfern der ORF-Seher, also der Mehrheit der Österreicher) dient. Aufgrund der immer noch dominanten Reichweite des ORF existiert für viele Bürger nur das, worüber im ORF berichtet wird. Die "schweigende Mehrheit" wird durch die undemokratische Berichterstattung des ORF zur schlafenden, genauer gesagt zur "eingeschläferten" Mehrheit.
Es ist leicht, die Zerstörung von Kulturdenkmälern durch Terroristen oder Terrorregime als antiästhetisch zu erkennen und zu kritisieren. Dagegen sind anästhetische und antiästhetische Praktiken in demokratischen Ländern, die nicht unmittelbar sichtbar und somit nicht offensichtlich sind, nicht so leicht zu erkennen. Umso wichtiger ist es, alle politischen Aktivitäten aus ästhetischer Sicht zu betrachten.